Hall (Tirol): SS-Mann begutachtete SA-Mann

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Die Ent­de­ckung von 220 Grä­bern auf dem Gelän­de des Kran­ken­hau­ses Hall/Tirol Anfang Jän­ner die­ses Jah­res wird hof­fent­lich nicht nur die His­to­ri­ker wei­ter beschäf­ti­gen. Zu klä­ren sind nicht nur die Namen der Toten und die Grün­de für ihren Tod, son­dern etwa auch die Fra­ge, was die Tiro­ler Lan­des­re­gie­rung im Jahr 1963 dazu ver­an­lasst hat, einen Akt über die Ver­le­gung von „Euthanasie”-Opfern aus dem Lan­des­ar­chiv aus­zu­he­ben und zu vernichten.

Der­zeit wird ver­mu­tet, dass die meis­ten der 220 Toten in dem jetzt ent­deck­ten Grä­ber­feld von Hall nicht im Rah­men der offi­zi­el­len NS-„Euthanasie“-Programme ermor­det wur­den, son­dern nach deren Ein­stel­lung im Jahr 1941. Wäh­rend die Opfer der offi­zi­el­len NS-„Euthanasie“, vor­wie­gend geis­tig und kör­per­lich behin­der­te Men­schen, in Tirol und Vor­arl­berg über die dama­li­ge Heil-und Pfle­ge­an­stalt Valduna (Rank­weil) und Hall nach Schloß Hart­heim (OÖ) ver­lie­fert und dort über Gift­gas oder Gift­sprit­ze ermor­det wur­den, ist über die Opfer der „wil­den Eutha­na­sie“, die danach in ein­zel­nen Heil-und Pfle­ge­an­stal­ten statt­ge­fun­den hat, noch wenig bekannt. Die Ermor­dung behin­der­ter Kin­der, unter ande­ren an der Kin­der­fach­ab­tei­lung „Spie­gel­grund“ in Wien, betrieb das NS-Regime übri­gens bis zu sei­nem Untergang.

Der Tiro­ler Lan­des­haupt­mann Gün­ther Plat­ter kün­dig­te nach den Grä­ber­fun­den die Ein­set­zung einer Exper­ten­kom­mis­si­on mit dem Ver­spre­chen an: „Hier darf nichts ver­tuscht werden.”


Die Hal­ler Psy­cha­trie — Bild­quel­le: derstandard.at — Grä­ber­feld von NS-Opfern entdeckt

Zeit wär’s! Denn nicht nur die (spä­te) Ent­de­ckung der Grä­ber und die Akten­ver­nich­tung durch die Lan­des­re­gie­rung, son­dern auch die bis­he­ri­ge Beur­tei­lung der Ver­ant­wor­tung für die Betei­li­gung an den „Euthanasie“-Morden könn­te durch die ange­kün­dig­te For­schung ins Wan­ken gera­ten. Der Lei­ter der Heil-und Pfle­ge­an­stalt Hall wäh­rend des NS-Regimes, Ernst Kle­bels­berg, galt näm­lich bis­her als stil­ler Geg­ner des offi­zi­el­len NS-„Euthanasie“-Programms und hat im Pro­zess gegen den NS-Arzt und Lei­ter der Abtei­lung „Volks­pfle­ge“, Hans Czer­mak, im Jahr 1949 auch ent­spre­chend aus­ge­sagt. Schwer vor­stell­bar, dass der Lei­ter der Anstalt die „wil­de Eutha­na­sie“ nicht bemerkt, gebil­ligt bzw. zu ver­ant­wor­ten hatte.

Hans Czer­mak, der im Gau Tirol und Vor­arl­berg ver­ant­wort­li­che Betrei­ber der NS„Euthanasie“-Morde, ist eine nähe­re Betrach­tung wert. Der His­to­ri­ker Horst Schrei­ber hat über ihn gearbeitet:

SS-Harrer über SA-Czermak: „Hirnleistungsschwäche“

Czer­mak, ein ille­ga­ler Nazi und SA-Mann, wird im Per­so­nal­bo­gen der NSDAP mit dem beson­de­ren Kenn­zei­chen „Säbel­nar­ben“ beschrie­ben. Das Mit­glied des schla­gen­den Corps Athe­sia Inns­bruck wur­de 1949 wegen Hoch­ver­rats (sei­ne Tätig­keit in der ille­ga­len NSDAP) und wegen „ent­fern­te­rer“ Betei­li­gung an Meu­chel­mor­den vor das Volks­ge­richt gestellt. In dem Pro­zess tra­ten zwei Gut­ach­ter auf, von denen zumin­dest einer eben­falls eine ein­schlä­gi­ge Kar­rie­re hin­ter sich gebracht hat: Ger­hart Har­rer, damals Fach­arzt für Neu­ro­lo­gie und Psych­ia­trie an der Uni­ver­si­täts­kli­nik Inns­bruck und noch weni­ge Jah­re zuvor stram­mer (ille­ga­ler) SS-Mann. Ein ille­ga­ler SS-Mann begut­ach­tet einen ille­ga­len SA-Mann und stellt prompt „im gewis­sen Sinn“ Idea­lis­mus bei Czer­mak fest, dem das Schick­sal eines jeden Schwer­kran­ken nahe­ge­gan­gen sei ! Aus­schlag­ge­bend sei für ihn gewesen:

„dass die Erlö­sung voll­kom­men unheil­ba­rer, schwerst Geis­tes­kran­ker die Mög­lich­keit bie­ten wür­de, hoch­an­ste­ckungs­ge­fähr­li­che Tuber­ku­lo­se­kran­ke anstalts­mäs­sig unter­zu­brin­gen. In einer Zeit, in wel­cher beden­ken­los 100.000 dahin­ge­op­fert wur­den — der U. [Unter­such­te] war stets in sei­nem Her­zen ein Pazi­fist — schien ihm der Gedan­ke, das Dahin­ve­ge­tie­ren schwerst Geis­tes­kran­ker zu been­den, um dadurch nicht nur hei­lungs­fä­hi­gen TBC-Kran­ken die Mög­lich­keit einer Gesun­dung zu bie­ten, son­dern vor allem Tau­sen­de Gesun­de vor Anste­ckung und damit vor Siech­tum und Tod zu bewah­ren, als ver­nünf­tig und bil­li­gens­wert. Für den U. war die Eutha­na­sie kei­ne poli­ti­sche Fra­ge, son­dern eines der erns­tes­ten sit­ten­ge­setz­li­chen Pro­ble­me. Er hielt sie im Krieg für einen zweck­mäs­si­gen und berech­tig­ten Ein­griff des Staa­tes, von dem er sicher nicht ver­mu­te­te, dass er spä­ter durch eine ande­re Auf­fas­sung wider­ru­fen wer­den könn­te. (Quel­le: http://www.horstschreiber.at)

Eine Recht­fer­ti­gung der „Euthanasie“-Morde im Jahr 1949 – ganz in der Dik­ti­on der Nazis!

Damit ein Fehl­ur­teil völ­lig aus­ge­schlos­sen blieb, attes­tier­te der SS-Mann Har­rer dem SA-Mann Czer­mak eine „all­ge­mei­ne Hirn­leis­tungs­schwä­che“, bei dem“ unter beson­de­rer Zwangs­wir­kung schwe­rer äus­se­rer Ver­hält­nis­se“ Blut­druck­erhö­hung und Hals­mark­erschüt­te­run­gen eine Cha­rak­ter­ver­än­de­rung her­bei­füh­ren können.

Czer­mak wur­de am 1. Dezem­ber 1949 zu acht Jah­ren schwe­ren Ker­ker ver­ur­teilt, von denen er nicht ein­mal ein knap­pes Jahr absit­zen muss­te. Im Jahr 1975 starb Czer­mak „nach einem arbeits­rei­chen, pflicht­erfüll­ten Leben“ (Todes­an­zei­ge). Sein SS- Gut­ach­ter Ger­hart Har­rer avan­cier­te zum Lei­ter der Lan­des­ner­ven­kli­nik Salz­burg und Uni­ver­si­täts­pro­fes­sor, dem 2007 neben einer Eiche eine Gedenk­ta­fel auf­ge­stellt wur­de. (derstandard.at, 26.8.07)

Har­rer war übri­gens 1977 gemein­sam mit Hein­rich Gross, dem ille­ga­len SA-Mann und NS- Kin­der­arzt vom Spie­gel­grund zur „Begut­ach­tung“ psych­ia­tri­scher Kli­ni­ken, in denen Dis­si­den­ten fest­ge­hal­ten wur­den, in der dama­li­gen Sowjet­uni­on: Das Ergeb­nis war eine Weiß­wa­schung der sowje­ti­schen Psyi­ch­ia­trie (books.goole.at) .

Wir hof­fen sehr, dass das nicht ein­tritt, was schon im Pro­zess gegen Hans Czer­mak (spä­ter: Hein­rich Gross) ein Pro­blem dar­stell­te: „Ich lei­de sehr an Gedächt­nis­schwä­che und kann mich der­zeit nicht mehr an alles erinnern.“

Sie­he auch: derstandard.at — Grä­ber­feld von NS-Opfern entdeckt