Für Österreich sind das heute schlechte Nachrichten (ARD-Tagesthemen, 6.1.25)
Es ist soweit.
Österreich könnte einen Rechtsaußenkanzler bekommen, einen, der die rechtsextremen Identitären als NGO von rechts bezeichnet, der Massenabschiebungen von Menschen mit Migrationshintergrund gut findet und regelmäßig ein NS-Rhetorik benutzt, zum Beispiel „Volkskanzler.“
Das allein schon kann man erschreckend finden und sich Sorgen um die Demokratie in Österreich machen.
Extremrechte Parteien gibt es inzwischen in ganz Europa, man muss mit ihnen aber keine Regierung bilden. Die ÖVP, die konservative Volkspartei, hat jetzt genau das vor. Sie wirft alles über Bord, was sie vor der Wahl noch groß verkündet hat, zum Beispiel nicht mit einem Mann zu koalieren, der einen Sicherheitsrisiko für Österreich darstelle. Die FPÖ sei radikal und ihre Nähe zu Russland sogar eine Gefahr für unsere Demokratie. Das sagte übrigens der neue ÖVP-Vorsitzende Christian Stocker. Direkt am Waldtag versprach er, eine Koalition mit FPÖ-Chef Herbert Kickl wird die ÖVP nicht eingehen.
Doch wo sind diese Versprechen nun hin? Staunend konnten wir alle zuschauen, wie die ÖVP gestern eine beeindruckende 180 Grad-Wende hingelegt hat und nun offenbar ihr wahres Gesicht zeigt. Es gibt für sie keine Brandmauer nach rechts, auch nicht in den rechtsextremen Bereich zu Partei-Chef Kickl, dem sie jetzt wohl ins Kanzleramt verhelfen wird – eine Premiere in Österreich.
Rückblickend denke ich, die Versicherung der ÖVP, eine bürgerliche Koalition auf die Beine stellen zu wollen, war scheinheilig. Sie hat ihre Wählerinnen und Wähler getäuscht und Österreich nun leichtfertig in die Hände eines politischen Hardliners getrieben. Jetzt braucht sich wirklich niemand mehr zu wundern, wenn die Menschen das Vertrauen in die Politik verlieren.
Für Österreich sind das heute schlechte Nachrichten.
Anna Tillack, ARD-Korrespondentin Wien
„How Austria Could Get Its First Far-Right Chancellor Since World War II” – Die „New York Times” charakterisiert die FPÖ (6.1.25; Paywall)
Was ist die Freiheitliche Partei?
Die Partei wurde kurz nach dem Zweiten Weltkrieg von ehemaligen Mitgliedern der SS, der paramilitärischen Polizei der Nazis, gegründet. Die Partei stellt Herrn Kickl vor seinen Wahlkampfreden mit dem Wort „Volkskanzler“ vor, was an den Aufstieg des deutschen Faschismus und Adolf Hitler erinnert.
Die Partei hat in der Vergangenheit Migranten in Österreich als Kriminelle und Sozialhilfeempfänger verunglimpft. Unter dem Motto „Festung Österreich“ hat Kickl einen vorübergehenden Aufnahmestopp für neue Asylbewerber und ein Gesetz gefordert, das ihnen die österreichische Staatsbürgerschaft verbietet.
Die Partei steht Moskau ebenfalls nahe — sie unterzeichnete 2016 einen Kooperationsvertrag mit der Partei „Einiges Russland“ von Präsident Wladimir W. Putin — und ist gegen Hilfen für die Ukraine zur Unterstützung ihrer Verteidigung gegen die russische Invasion. Außerdem hat sie sich gegen Sanktionen gegen Russland ausgesprochen. Unter Berufung auf die verfassungsmäßige Neutralität des Landes ist die Partei auch gegen einen NATO-Beitritt Österreichs. (Auszug; Übersetzung Deepl)
Austrian barbarians at Europe’s gate (Euractiv, 6.1.25)
In jüngerer Zeit diente die Freiheitliche Partei, die in den 1950er Jahren von einer Gruppe politisch heimatloser SS-Veteranen und Nazis gegründet wurde, als Vorlage für die rechtsextreme Variante der Alternative für Deutschland (AfD/ESN) in Deutschland.
Deshalb sollte der Rest Europas sehr genau darauf achten, was gerade in Österreich passiert ist: Der entscheidende Kurswechsel hatte nichts mit der FPÖ selbst zu tun, sondern mit dem Mitte-rechts-Urgestein des Establishments, der Österreichischen Volkspartei (ÖVP/EVP).
Jahrelang schworen die ÖVP-Führer hoch und heilig, dass sie niemals eine Koalition unter der Kontrolle von Herbert Kickl, dem extremistischen Frontmann der Freiheitlichen, akzeptieren würden – bis Sonntag.
Der Quisling der ÖVP ist der langjährige Parteiapparatschik Christian Stocker. Allein im vergangenen Jahr hatte Stocker Kickl als „Gefahr für unsere Demokratie“ und „Sicherheitsrisiko“ gebrandmarkt, der „für Chaos steht“.
Nachdem Stocker am Sonntag nach dem Rücktritt von Bundeskanzler Karl Nehammer den Vorsitz der ÖVP übernommen hatte, schlug er einen anderen Ton an: „Jetzt haben wir eine völlig neue Situation. (Auszug; Übersetzung Deepl)
Ein extrem rechter Kanzler? Das Beispiel Österreich muss auch Deutschland alarmieren (Süddeutsche Zeitung, 6.1.25; Paywall)
Klar ist schon jetzt, dass in Österreich wahrscheinlich ein Mann Regierungschef wird, der gerne „Volkskanzler“ wäre. Einer der das Volk vor den „Eliten“ beschützen will, der Begriff war schon von den Nationalsozialisten verwendet worden. Kickl hat die ohnehin schon rechtspopulistische FPÖ noch weiter nach rechts geschoben. Indem er die Nähe von Teilen seiner Partei zu Identitären, Neonazis und Verschwörungsideologen zuließ und nichts dagegen hat, dass Leute wie Udo Landbauer ein hohes politisches Amt bekleiden. Landbauer war Mitglied einer Burschenschaft, in deren Liederbüchern die Shoah verharmlost und verspottet wurde. Heute ist er stellvertretender Landeshauptmann von Niederösterreich, des größten österreichischen Bundeslandes.
Die Geschichte hat oft gezeigt, dass politische Entwicklungen kein Wetterphänomen sind, das man einfach hinnehmen muss. Es ist daher auch kein Naturgesetz, dass sich die ÖVP nun doch bereit erklärt hat, mit jener FPÖ Koalitionsgespräche zu führen, die man bis vor Kurzem noch als Gefahr für die Demokratie bezeichnet hat. Es hätte Möglichkeiten zu politischen Kompromissen gegeben, die Option, mit der SPÖ eine hauchdünne Mehrheit zu bilden und sich anlassbezogene Mehrheiten im Parlament zu organisieren. (Auszug)
Austria’s far-right new government: history doesn’t repeat itself — but it rhymes (euobserver, 7.1.25)
25 Jahre nach dem Zustandekommen der ersten ÖVP-FPÖ-Koalition und etwas mehr als fünf Jahre nach dem Scheitern der letzten ÖVP-FPÖ-Regierung wiederholt sich die Geschichte zwar nicht ganz, aber sie reimt sich: Der Hauptunterschied besteht heute darin, dass die Rechtsextremen, nachdem sie jahrzehntelang normalisiert und zum Mainstream geworden waren, zum ersten Mal die Führung in einer Koalitionsregierung übernehmen würden.
Das legitimiert sie nicht nur noch mehr, sondern gibt ihnen auch die Möglichkeit, eine Politik umzusetzen, die weitgehend von Ungarns Viktor Orbán inspiriert ist.
Die etablierten Parteien hatten nicht nur die einmalige Gelegenheit, sondern auch eine grundlegende Verantwortung, zu zeigen, dass sie in der Lage sind, zusammenzuarbeiten, glaubwürdige Lösungen für die alltäglichen Sorgen der Menschen anzubieten und dass es für das Wohlergehen des Landes ein gangbarer und vernünftiger Weg ist, die Rechtsextremen von der Macht fernzuhalten.
Für die Beobachter bleibt jedoch festzuhalten, dass monatelang Gespräche geführt wurden, die darin gipfelten, dass es den drei Verhandlungsparteien nicht gelang, eine rechtsextreme Regierung zu verhindern, was einen fruchtbaren Boden für ein verstärktes Gefühl des berechtigten Misstrauens in die Kompetenzen des politischen Establishments bietet.
Darüber hinaus hat sie die Rechtsextremen weiter gestärkt, ihrem Anführer Herbert Kickl sogar Recht gegeben — der auf die Nachricht mit der Aussage reagierte, dass die „Kickl-Präventionsstrategie“ gescheitert sei — und damit den Rechtsextremen letztlich ein Druckmittel und Glaubwürdigkeit verschafft, indem sie sich als einzige stabile politische Kraft im Land präsentieren können.
Letztlich haben die etablierten Parteien den Rechtsextremen einmal mehr den Weg an die Macht geebnet. (Auszug; Übersetzung Deepl)
‚Turning Point’: First Far-right Chancellor in Austria Since World War II Could Be Its Worst Nightmare (Haaretz, 7.1.25; Paywall)
Dass Wirtschafts- und Industrieinteressen in einem deutschsprachigen Land letztlich einen rechtsextremen Kanzler ermöglichen, weil er für die Wirtschaft von Vorteil sein könnte, hat beunruhigende historische Parallelen. Diese Interessen könnten schon bald ihren Wunsch bekommen, der zum Albtraum Österreichs werden könnte. (…)
Die Volkspartei hat sich lange Zeit als staatstragende Partei verstanden — als traditionelle Partei des Staates und der Regierung. Mit ihrer Entscheidung, Kickl möglicherweise zum Bundeskanzler zu machen, hat sich die Partei anscheinend dazu entschlossen, diese historische Rolle in der österreichischen Politik zu beenden und ihre Verantwortung für die Verfassung, die liberale demokratische Ordnung Österreichs und den Platz des Landes in europäischen und globalen Angelegenheiten aufzugeben. Gedemütigt und ohne jedes Druckmittel hat Österreichs Mitte-Rechts-Partei nicht nur den roten Teppich für einen rechtsextremen Kanzler ausgerollt, sondern ihm auch noch Macht verliehen. (Auszug, Übersetzung SdR)
➡️ derstandard.at (7.1.25): „Putinisierung Mitteleuropas”: Wie „The Economist” über „Mr. Kickl” berichtet