Zunächst einmal zum Kern des Urteils. Die Einzelrichterin vom Bezirksgericht Wien Innere Stadt stellt in dem mittlerweile rechtskräftigen Urteil fest, dass
- der Beschluss auf Ausschluss des Alten Herren „Fidel“ aus dem Verein WATV und dem Verband Alter Herren (VAH) der Wiener Akademischen Turnvereine rechtsunwirksam ist und „Fidel“ somit alle Rechte eines Vereinsmitglieds wieder zustehen
- der Beschluss des VAH in der Sitzung vom 24.11.21, dem „Fidel“ eine Rüge wegen seines privaten Kontakts zu H.P. zu erteilen, nichtig ist.
- der Beschluss des Ehrengerichts am 25.1.21, das Ausscheiden des Alten Herrn „Ninjo“ mit „cum infamia“ zu bewerten, nichtig ist.
Damit hat das Gericht dem Kläger „Fidel“ in allen Punkten Recht gegeben. Ohne hier noch einmal die ganze Vorgeschichte und die Hintergründe dieses massiven Streits innerhalb des WATV zu wiederholen, kurz die wichtigsten Stationen.
Austritt oder unehrenhafter Ausschluss nach 70 Jahren
Der Alte Herr „Ninjo“ hat nach rund sieben Jahrzehnten Mitgliedschaft reinen Tisch gemacht und am 28.5.20 seinen Abschied aus dem WATV in einem langen Schreiben mit schweren Vorwürfen gegen einen anderen Alten Herren, der „Stachanow“ genannt wird, begründet.
Gleich zwei Ehrengerichte des WATV, die von dem Angegriffenen und seinem Sohn bemüht wurden, beschäftigten sich nach dem Austritt mit der Frage, ob der „Ninjo“ durch seine Anschuldigungen die Ehre der beiden verletzt habe und deshalb vom WATV zu bestrafen sei. Das erste Ehrengericht erklärte sich für unzuständig, weil „Ninjo“ kein Vereinsmitglied mehr sei. Das zweite Ehrengericht dagegen simulierte Zuständigkeit, befand den „Ninjo“ der schweren Ehrverletzung für schuldig und „bestrafte“ ihn, indem dem bereits Ausgetretenen ein Ausschluss „cum infamia“ nachgebastelt wurde.
Dieses zweite Ehrengericht, das ohne den „Angeklagten“ stattfand, handelte eine Frage (Ehrenbeleidigung, Rufschädigung) ab, die in unserem Rechtssystem eigentlich ordentlichen Gerichten vorbehalten sein sollte. Weil „Ninjo“, der schon seinen Austritt vollzogen hatte, an diesem Verfahren nicht teilnahm, bestimmte der WATV für ihn einen „Verteidiger“. Rechtsweg bzw. Rechtsmittel für den so nachträglich angeklagten Ausgetretenen? Fehlanzeige!
„Krimineller“ und „Fremdkörper“
Auch vor dem ordentlichen Bezirksgericht nannte „Gicht“, Vorsitzender dieses zweiten Ehrengerichts, den fast 90-jährigen „Ninjo“ einen „Kriminellen“, der aber auch eines der verdientesten Mitglieder des WATV gewesen sei. „Gicht“ ist – das sei an dieser Stelle hervorgehoben –Jurist.
Die Vorgangsweise der Vereinsoberen gegenüber „Ninjo“ brachte einen anderen Alten Herren, „Fidel“, auf die Palme. Mit rund 60 Jahren Mitgliedschaft gehört er ebenso zu den verdientesten Mitgliedern. „Fidel“ zog alle Register und bemühte erfolglos etliche Schiedsgerichte. Die Vereinsoberen bezeichnen ihn als „Fremdkörper im Bund“, der „laufend Unruhe in die beiden Vereine gebracht“ habe. Was macht man mit „Fremdkörpern“? Weg damit.
„Fidel“ wurde also zunächst „gerügt“, dann ausgeschlossen, obwohl er mit seiner Kritik an der Vorgangsweise der Vereinsoberen nicht allein war. Die Sichtweisen sind unterschiedlich, aber es dürften so zwischen 20 und 30 Mitglieder gewesen sein, die dem WATV im Zug des Konflikts ihre Treue aufkündigten.
„Fidel“ rief also ein ordentliches Gericht an, klagte auf Nichtigkeit der Vereinsbeschlüsse, die seine Rüge und seinen Ausschluss betrafen und auf Nichtigkeit des nachträglichen „cum infamia“-Ausschlusses von „Ninjo“.
In zwei Terminen wurde eine erkleckliche Anzahl an Zeugen angehört, bevor das eindeutige und ausführlich begründete Urteil gesprochen wurde. Den WATV hat der erbittert geführte Streit nicht nur viel Zeit, sondern auch viel Geld gekostet: Die Prozesskosten für die Anwältin der Gegenseite wurden vom Gericht mit rund 8.500 Euro festgelegt. Für Gutachten hat der Verein 17.700 Euro ausgelegt, dazu kommen noch die eigenen Anwaltskosten und die Gerichtskosten.
Irreguläre, sittenwidrige und menschenrechtswidrige Beschlüsse
Der WATV ist um einige wichtige Erkenntnisse reicher. So nebenbei hat das Gericht Widersprüche zwischen Hausordnung und Statuten angesprochen, was mehr als peinlich für eine Verbindung ist, die zu einem Gutteil aus Juristen besteht.
Der eigentliche Hammer aber war die Bewertung des „cum infamia“-Ausschlusses. Schon in der Verhandlung wurde ausgiebig erörtert, was ein Ausschluss „mit Schimpf und Schande“ eigentlich bedeutet: bloß ein formales Kontaktverbot zwischen Mitgliedern, wie die Vereinsoberen argumentierten oder doch ein sehr umfassendes, bei dem man sich sogar überlegen muss, ob man den „Infamen“, wenn man ihm zufällig auf der Straße begegnet, noch grüßen darf oder besser auf die andere Straßenseite ausweicht? Solche Fragen wurden ernsthaft erörtert in einem Verein, dessen Mitglieder „untereinander aufrichtige Freundschaft zu wahren“ haben. „Fidel“ hat seine Rüge jedenfalls erhalten, weil er nach dessen Austritt und dem nachgeworfenen Ausschluss „cum infamia“ mit „Ninjo“ Kontakt hatte.
Da urteilt das Gericht sehr klar und eindeutig, dass die Bestimmung der Hausordnung (Punkt 72) , wonach ein weiterer Kontakt mit einem c.i.-Ausgeschlossenen unstatthaft sei und eine Rüge nach sich ziehe, „massiv in das Privatleben“ des Klägers eingreift und einen Verstoß gegen Artikel 8 der EMRK darstellt.
Zum nachträglichen Ausschluss des bereits ausgetretenen „Ninjo“ stellt das Gericht fest, dass „die Unterwerfung eines Nichtmitglieds unter die Vereinsgerichtsbarkeit“ einen Verstoß gegen das Recht, Nichtmitglied bei einem Verein zu sein bzw. aus einem solchen austreten zu können, darstellt, gegen Artikel 11 der EMRK verstößt und der Beschluss des Ehrengerichts „sittenwidrig“ ist. Bumm!
Das Bezirksgericht Wien Innere Stadt belehrt den WATV und dessen Vereinsobere mit diesem Urteil, wie daneben sie sind. Der WATV hat gegen dieses Urteil keinen Einspruch eingelegt.