Begonnen hat für mich die Vorstellung schon auf dem Weg zum Bezirksgericht. Ich steige aus der U 3 bei der Station Landstraße. Vor mir ein Herr, der etwas älter ist als ich, mit Aktenkoffer. Ich bin mir fast sicher: Den werde ich bei der Verhandlung wieder treffen. So war es auch. „Fidel“, das ist sein Verbindungsname, ist der Kläger, der den WATV auf Anfechtung und Nichtigkeit von Vereinsbeschlüssen klagt. Es geht um Beschlüsse zum Ausschluss von zwei Mitgliedern, einer davon ist „Fidel“ selbst.
Wiener Akademischer Turnverein (WATV)
Der WATV ist ein Mitgliedsbund des nichtfarbentragenden (deutschen) Dachverbands Akademischer Turnbund (ATB). Mit mehr als 100 Mitgliedern ist der WATV, der auch Mitglied des stark deutschnational geprägten Wiener Korporationsringes (WKR) ist, eine der größeren Korporationen in Österreich. Im deutschnationalen Spektrum der österreichischen Korporationen stellt der WATV als nichtschlagende Verbindung eine Ausnahme dar. Als Turnorganisation ist der WATV im ebenfalls deutschnationalen Österreichischen Turnerbund (ÖTB)organisiert.
Da gleich eine wichtige Erläuterung: Ich werde keine Klarnamen nennen, höchstens die Verbindungsnamen. Es gehört zum elitären Selbstverständnis von Korporationen, sich vom Alltäglichen dadurch abzuheben, indem sie ihren Mitgliedern Couleurnamen geben. Beim WATV sind das Namen wie Filius, Hark, Prall, Eggi, Blasi, Lumpi, Brunfti, Scheitel, Schütt oder Gicht. Das Elitäre setzt sich dann fort bis hin zu dem aufgeblasenen Ehrbegriff und den Ehrengerichten. Hinter der aufgeblasenen Ehre und deren angeblicher Verletzung stehen schwerwiegende Vorwürfe, die wir aktuell in ihrer Dimension nicht einschätzen können.
Der Auslöser
Das Austrittsschreiben von Ninjo vom 28.5.20 liegt uns vor. In ihm wird detailliert geschildert, wie ein anderer Alter Herr (Stachanow) die Mehrheitsanteile von Ninjos Unternehmen übernimmt und in der Folge den Minderheitsgesellschafter, Frau und Tochter von Ninjo, ziemlich unelegant aus dem Unternehmer hinausdrängt. Auch weitere sehr heftige Verfehlungen von Stachanow und gerichtliche Entscheidungen dazu werden angeführt. Ein expliziter Verdacht oder Vorwurf einer strafrechtlichen Verfehlung wird nicht formuliert. Einmal heißt es: „Diese Vorgangsweise des (…) kann man strafrechtlich eindeutig zuordnen.“ Ist das schon eine Verleumdung, wie das Vorstand und Ehrengericht behaupten? Ninjo wird auch vorgeworfen, seine – anscheinend erfolglose – strafrechtliche Anzeige gegen Stachanow verschwiegen zu haben.
In den rund fünf Stunden Verhandlung, die ich beobachten durfte, ging es um nichts anderes als die Frage, ob ein Mitglied des WATV die Ehre eines anderen Mitglieds beschädigt habe und deshalb zu Recht oder zu Unrecht „cum infamia“ („c.i.“) also mit Schimpf und Schande, ausgeschlossen worden sei. Weil „Fidel“ die Vorgangsweise bei diesem Ausschluss für nicht rechtskonform hielt, bemühte er zunächst die verbandsinternen Instanzen und wurde schließlich selber ausgeschlossen – ohne den Zusatz „cum infamia“.
Bei den beiden Ausgeschlossenen handelte es sich um „Alte Herren“, die bis zu den Vorfällen, die zu ihrem Ausschluss führten, als „angesehenste Mitglieder“ des WATV geführt wurden, Nicht zuletzt, weil beide über viele Jahrzehnte Mitgliedschaft am Buckel hatten.
Was also war geschehen? Der mittlerweile 89-jährige Alte Herr Ninjo, der nach 70 Jahren Mitgliedschaft aus dem Verein „cum infamia“ verjagt wurde, hatte im Jahr 2020 die Mitglieder auf postalischem Weg mit Schilderungen über sehr heftige Machenschaften eines anderen Alten Herren des WATV versorgt (siehe „Der Auslöser“) und in seinem Schreiben, das er ausdrücklich als Austrittsschreiben titulierte, auch begründet, warum er seit acht Jahren jeden Kontakt mit diesem „Bundesbruder“, Couleurname Stachanow (und dessen Vater, der auch Bundesbruder ist), vermeide.
Sein Austrittsschreiben vom 28. Mai 2020 endet damit, mit „Menschen solchen charakterlichen Zuschnitts“ (er meint Vater und Sohn) nicht mehr zusammentreffen zu wollen und deshalb diese „unumgängliche Entscheidung“ zum Austritt, die ihm sehr schwer gefallen sei, getroffen habe.
Ausgetreten ist Ninjo im Mai 2020, mit dem Zusatz „cum infamia“ ausgeschlossen wurde er erst im Jänner 2021 – nach sechs Sitzungen eines Ehrengerichts (eine Berufung gegen einen Spruch des Ehrengerichts ist übrigens nicht möglich). Wie geht das denn? Einer, der ausgetreten ist, wird ein gutes halbes Jahr später durch ein „Ehrengericht“ mit Schimpf und Schande ausgeschlossen?
Höchst angesehen, aber kriminell?
Das versuchte der Vorsitzende des Ehrengerichts, der Alte Herr mit dem Couleurnamen Gicht, dem Gericht zu erklären. Nach dem Austritt von Ninjo gab es noch so etwas wie Vergleichsgespräche. Die scheiterten aber, worauf der WATV ein Ehrengericht einrichtete, das Stachanow beantragt hat. Weil der Ausgetretene klarerweise die Mitwirkung verweigerte, wurde „für ihn“ ersatzweise ein Vertreter benannt, sprich: Das Ehrengericht setzte sich aus drei Personen zusammen, die allesamt dem Ausgetretenen nicht wirklich freundlich gesonnen waren.
Das wurde auch durch die Aussagen von Gicht bestätigt, der den 89-jährigen Ninjo konsequent und wiederholt einen Kriminellen nannte. Gicht selbst ist schon über 50 Jahre Mitglied bei dem Verein, war auch befreundet mit Ninjo, den er als „eines der angesehensten Mitglieder“ bezeichnete. Das Ehrengericht, dem er vorstand, prüfte – nach seinen Aussagen – übrigens nur, ob der angegriffene Stachanow und dessen Vater in ihrer Ehre verletzt worden seien.
Jetzt bin ich sicher eines nicht: ein Verteidiger irgendeines der Korporierten, die sich da gegenseitig die Ehre um ihre Ohren gehaut haben, aber: Wie krank ist das denn, wenn ein Verein einem seiner angeblich verdientesten Mitglieder nach 70 Jahren Mitgliedschaft den Stempel „mit Schimpf und Schande“ nachträglich aufs Haupt drückt? Nachdem der selbst die Konsequenz gezogen hat und ausgetreten ist?
Auftritt Fidel
Mit Ninjos Ausschluss c.i. begann aber die korporierte Tragödie erst so richtig. Der Bundesbruder Fidel hat mittlerweile auch schon 60 Jahre Mitgliedschaft beim WATV auf dem Buckel. Was ihn im Detail an der Vorgangsweise seines Vereins, dem er lebenslange Treue versprochen hat, so empört hat, weiß ich nicht: Es waren jedenfalls fünf Schiedsgerichte, die er nach dem Ausschluss Ninjos damit befasst hat. Mit seinem Unmut über die Vorgangsweise des Vereins und den Ausschluss war Fidel nicht allein. Wie aus den Aussagen anderer Zeugen hervorging, haben 25 bis 28 Mitglieder in der Folge den Verein verlassen, aber keiner war so stur oder konsequent wie Fidel.
Der WATV versuchte zwischenzeitlich mit einer Rüge, das unbequeme Mitglied ruhig zu stellen. Fidel hatte nämlich nach Ansicht des Vereins gegen § 72 der Hausordnung verstoßen, der festlegt, dass jeder weitere gesellschaftliche Verkehr der Vereinsmitglieder mit einem c.i. ‑Ausgeschlossenen nicht statthaft ist. Fidel hatte doch tatsächlich an einem Meeting von Ninjo mit Ausgetretenen teilgenommen, ja sich möglicherweise sogar selber eingeladen dazu. Skandal! Rüge!
Die Hierarchie der Strafen
Die Hausordnung des WATV legt auch das Instrumentarium von Strafen in hierarchischer Abfolge fest. Stufe 1: die Auferlegung zusätzlicher Pflichten
Stufe 2: die Rüge
Stufe 3: der Rüffel
Stufe 4: der Rüffel mit Androhung des Ausschlusses
Stufe 5: der Ausschluss
Stufe 6: der dauerhafte Ausschluss mit c.i. (cum infamia – „Mit Schimpf und Schande“)
Was bedeutet c.i.?
Was dieser § 72 im Detail bedeutet, versuchte die Richterin zu ergründen. Die Interpretationen der Zeugen erbrachten zwar skurrile Ergebnisse, aber keine Klarheit. So ist zwar noch „statthaft“, einen c.i.-Ausgeschlossenen, wenn man ihn denn zufällig auf der Straße treffen sollte, zu grüßen. Auch einige belanglose Worte zu wechseln, sollte nach Ansicht von Gicht noch möglich sein, aber wenn man den Verfemten etwa zu einem Geburtstagsfest einladen möchte, sollte man vorher aus dem Verein austreten. Stachanow wiederum führte aus – offensichtlich, um seine großzügige Einstellung hervorzukehren –, dass er mit Ninjo noch über einen anderen Verein verbunden sei, wo er selbst stellvertretender Obmann ist und der Ninjo als Altobmann noch Mitglied sei. Ob sie in diesem Verein einander grüßen oder nur stumm zunicken, ob bei einer Wortmeldung des einen der andere noch antworten darf, das blieb leider ungeklärt vor Gericht.
Manchmal mussten bei solchen Erläuterungen der Zeugen selbst die anderen Zuhörer (allesamt Korporierte des WATV) neben mir den Kopf schütteln oder leise aufstöhnen. Bei dieser Gelegenheit muss ich auch anmerken, dass der Verhandlungstag, an dem ich anwesend war, nicht der erste war. Vielleicht hat der vorangegangene mehr Klarheit gebracht – ich glaub’s allerdings nicht.
Fidel war jedenfalls mit der Behandlung seiner bei den Schiedsgerichten eingebrachten Beschwerden nicht einverstanden und verfasste im November 22 ein Schreiben an die Vereinsmitglieder „Jetzt rede ich Fraktur“, in dem er anscheinend eine Frist für die positive Erledigung seiner Anliegen setzte, andernfalls er ein Gericht bemühen würde. Einen Monat später, nach Ablauf der Frist, folgte dann Teil 2, in dem er noch einmal den Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention gegen den § 72 der Hausordnung in Stellung brachte.
„Fremdkörper“ Fidel wird entfernt
Das war’s dann auch für Fidel. Vorgeblich, weil er aus einem vertraulichen Schreiben des Vorstands an das Ehrengericht zitiert hatte, wurde Fidel, „ein Fremdkörper im Bund“ (Zeugenaussage des Obmanns der Alten Herren des WATV) nach 60 Jahren Mitgliedschaft 2023 ausgeschlossen – und damit war dann Ruhe in der Hütte.
Ein weiterer gewichtiger Zeuge aus dem Vorstand des WATV, der damalige Obmann (Senior) in den kritischen Jahren, listete dann auf, wie verheerend der Personal- und Ressourceneinsatz des WATV bei den beiden Ausschlüssen gewesen sei: 264 Personentage zu acht Stunden mussten von den Vereinsverantwortlichen aufgewendet werden, um die Ehre von Stachanow gegen den angeblich kriminellen 89-Jährigen Ninjo zu verteidigen. 2.300 Mails wurden in dieser Causa ausgetauscht, in der Causa Fidel waren es dann weitere 1.015 Mails und 152 Personentage. Nicht zu vergessen: 17.700 Euro bezahlte der Vorstand, um mit Gutachten sein Handeln zu rechtfertigen.
Fazit
Fast 30 Mitglieder verließen den Verein, dessen Obleute (Senioren) einen starken Verschleiß in den letzten Jahren aufwiesen. Zwei der ältesten Bundesbrüder wurden ausgeschlossen, einer davon mit dem Femespruch cum infamia. Eine angegriffene „Ehre“ wurde dadurch angeblich repariert
Es ist eine anachronistische Sondergerichtsbarkeit, die übrigens in Variationen auch für Burschenschaften und Corps gilt und starke Ähnlichkeiten mit der der Katholischen Kirche aufweist. Und die beschäftigte dann auch noch etliche Stunden ein Bezirksgericht mit der Frage, ob das alles rechtens ist.
Das Urteil ergeht schriftlich.
➡️ rechtsaußen.berlin (apabiz): Fragwürdiges Jahn-Gedenken mit deutschnationalem Einschlag