Am 20. Oktober 1967 startete mit „Aktenzeichen XY ungelöst“ ein bahnbrechendes TV-Spektakel im noch jungen „Zweiten deutschen Fernsehen“ (ZDF): das erste „True Crime Fernsehformat weltweit“, wie Regina Schilling bereits zu Beginn ihres neuen Langfilms wissen lässt. Eduard Zimmermann hieß der Erfinder und Produzent dieser Erfolgsserie, die er auch über drei Jahrzehnte moderieren sollte. Das Konzept sah folgendermaßen aus: Reale, ungelöste Verbrechen wurden von Schauspieler*innen nachgestellt und Zimmermann präsentierte anschließend mögliche Anhaltspunkte, die auf die Identität des Täters oder der Täterin schließen lassen könnten. Anschließend konnten Zuseher*innen bei der Sendung anrufen und Hinweise einbringen. Ermittelnde Polizeibeamt*innen waren auch im Studio anwesend und besprachen die Fälle.
Schillings Film arbeitet durchwegs mit Archivmaterial, meist Szenen aus „Aktenzeichen XY ungelöst“ selbst, die oftmals verfremdet daherkommen: etwa verlangsamt oder mit veränderter Tonspur. In einem Off-Kommentar erzählt Schilling, wie sie mit dem Zimmermann‘schen Hauptabendprogramm das Fürchten lernte: vor dem Nachhauseweg, vor dem Wald. Überall konnten Verbrecher lauern. Diese hatten oft kein Gesicht und meist keine eigene Geschichte.
Regie führte Kurt Grimm, der seine Vorliebe für den Film Noir ästhetisch einfließen ließ – aber ohne dessen moralische Ambivalenzen. Vielmehr herrschte Eindeutigkeit: Das Böse brach in eine ordentliche, gute Gesellschaft ein, die sich ihren bescheidenen Wohlstand hart erarbeitet hatte. Das Angstbild einer zunehmenden Degenerierung der Gesellschaft zog sich damals durch die Wirtschaftswunder-BRD und das ZDF – von Konrad Adenauer 1963 als konservatives Kontra zur progressiven ARD initiiert – konnte diese Stimmung mit „Aktenzeichen XY ungelöst“ in ein kulturindustrielles Spektakel transformieren.
Während die Kinder sich ängstigten, aber auch fasziniert waren, kam bei den Erwachsenen noch etwas hinzu: Die schweigende Täter*innen-Gesellschaft der NS-Nachfolgestaaten konnte sich bei „Aktenzeichen XY“ im lustängstlichen Angesicht des Abartigen als gut und normal imaginieren. Und mehr noch: Auch das Denunzieren feierte unter diesen neuen Vorzeichen sein telegenes Comeback als Volkssport. Zimmermann erntete dafür auch Kritik, etwa in einem ARD-Interview, wo es in der Anmoderation schon hieß, seine Sendung würde „Jagdfieber und aggressives Misstrauen“ schüren.
Schilling begleitet dieses Stück deutsche Fernsehgeschichte durch eine sehr bewegte Zeit: Von 1968, über den „Deutschen Herbst“ und die Anti-Atomkraft-Bewegung, hin zur TV-Hyperkommerzialisierung, die mit dem Beginn des Kabelfernsehens in den 1980ern einsetzte.
Der suggestive Essay zieht die „Aktenzeichen XY“-Bildsprache in eine direkte, aber stets fragende Reflexion über deren ideologische Funktion. Ähnliches gelang bereits in Schillings preisgekröntem Vorgängerfilm „Kulenkampffs Schuhe“ (2018), wo es ebenfalls um die Verschaltung von Fernseh- und Zeitgeschichte ging, nämlich um die Spiele-Sendungen der Nachkriegszeit und das Harmlosigkeitsbedürfnis einer Generation, die ihrem (Täter*innen-)Trauma nicht ins Gesicht sehen wollte.
Diesmal verdichtet sich Schillings mentalitätsgeschichtliche These in der Figur Zimmermann, den sie als jahrzehntelangen Popkultur-Gewährsmann des Konservatismus zeigt, der sich selbst aber stets unideologisch gab. Noch zu seinem Abschied als Moderator lobte Zimmermann bei einer Talkshow die „pädagogische Wirkung“ von Angst und erklärte: „Wir müssen mit der Realität leben und dürfen uns keine Wunschbilder machen, die irreal sind.“ Schilling beleuchtet luzide, wie Zimmermann genau das gemacht hat: die Realität in konservative Wunschbilder umbiegen. Eine Schlüsselszene der Doku zeigt, wie Zimmermann zu diesem Zweck mutmaßlich sogar eine Statistik erfand: Demnach würden die meisten Sexualdelikte gegen Frauen beim Trampen und am nächtlichen Heimweg von Lokalen passieren.
Dieser popkulturell eingeübte Glaube ist heute freilich widerlegt. Die meisten Übergriffe passieren im nahen verwandtschaftlichen oder freundschaftlichen Umfeld, und die meisten ermordeten Frauen kannten den Täter. Das passt aber nicht recht zu einem Narrativ, das für „Aktenzeichen“ bis in die 1980er ganz zentral war und von Schilling etwa so zusammengefasst wird: Eine junge Frau verlässt das wohlbehütete Heim, lässt sich von den Verlockungen der Nacht verführen, bezahlt dafür mit dem Leben. Der antifeministische Subtext solcher Angstmache lautet stets: Wäre sie doch zuhause geblieben! Die patriarchale Prüderie impliziert das kommende Victim-Blaming bereits. Tatsächlich hat sich sogar der erste Fall von „Aktenzeichen“, der Fund einer jungen Toten, später als Femizid durch den Verlobten herausgestellt – also steht bereits der erste sensationslüsterne Aufgriff von Zimmermann jener konservativen Propaganda entgegen, die er für die darauffolgenden drei Jahrzehnte betrieben hatte.
Schillings Film mit dem langen Titel „Diese Sendung ist kein Spiel – Die unheimliche Welt des Eduard Zimmermann“ kann hier nachgesehen werden.
Text: Simon Stockinger