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Aktenzeichen XY: TV-Schulung in Konservatismus

In ihrem neu­en doku­men­ta­ri­schen Essay the­ma­ti­siert Regi­na Schil­ling das Fern­­seh-For­­mat „Akten­zei­chen XY unge­löst“ – Ein Film­tipp. Am 20. Okto­ber 1967 star­te­te mit „Akten­zei­chen XY unge­löst“ ein bahn­bre­chen­des TV-Spek­­ta­kel im noch jun­gen „Zwei­ten deut­schen Fern­se­hen“ (ZDF): das ers­te „True Crime Fern­seh­for­mat welt­weit“, wie Regi­na Schil­ling bereits zu Beginn ihres neu­en Lang­films wis­sen lässt. Edu­ard Zim­mer­mann hieß […]

26. Aug 2023
Eduard Zimmermann 1_Bild: ZDF

Am 20. Okto­ber 1967 star­te­te mit „Akten­zei­chen XY unge­löst“ ein bahn­bre­chen­des TV-Spek­ta­kel im noch jun­gen „Zwei­ten deut­schen Fern­se­hen“ (ZDF): das ers­te „True Crime Fern­seh­for­mat welt­weit“, wie Regi­na Schil­ling bereits zu Beginn ihres neu­en Lang­films wis­sen lässt. Edu­ard Zim­mer­mann hieß der Erfin­der und Pro­du­zent die­ser Erfolgs­se­rie, die er auch über drei Jahr­zehn­te mode­rie­ren soll­te. Das Kon­zept sah fol­gen­der­ma­ßen aus: Rea­le, unge­lös­te Ver­bre­chen wur­den von Schauspieler*innen nach­ge­stellt und Zim­mer­mann prä­sen­tier­te anschlie­ßend mög­li­che Anhalts­punk­te, die auf die Iden­ti­tät des Täters oder der Täte­rin schlie­ßen las­sen könn­ten. Anschlie­ßend konn­ten Zuseher*innen bei der Sen­dung anru­fen und Hin­wei­se ein­brin­gen. Ermit­teln­de Polizeibeamt*innen waren auch im Stu­dio anwe­send und bespra­chen die Fälle.

Schil­lings Film arbei­tet durch­wegs mit Archiv­ma­te­ri­al, meist Sze­nen aus „Akten­zei­chen XY unge­löst“ selbst, die oft­mals ver­frem­det daher­kom­men: etwa ver­lang­samt oder mit ver­än­der­ter Ton­spur. In einem Off-Kom­men­tar erzählt Schil­ling, wie sie mit dem Zimmermann‘schen Haupt­abend­pro­gramm das Fürch­ten lern­te: vor dem Nach­hau­se­weg, vor dem Wald. Über­all konn­ten Ver­bre­cher lau­ern. Die­se hat­ten oft kein Gesicht und meist kei­ne eige­ne Geschich­te. Regie führ­te Kurt Grimm, der sei­ne Vor­lie­be für den Film Noir ästhe­tisch ein­flie­ßen ließ – aber ohne des­sen mora­li­sche Ambi­va­len­zen. Viel­mehr herrsch­te Ein­deu­tig­keit: Das Böse brach in eine ordent­li­che, gute Gesell­schaft ein, die sich ihren beschei­de­nen Wohl­stand hart erar­bei­tet hat­te. Das Angst­bild einer zuneh­men­den Dege­ne­rie­rung der Gesell­schaft zog sich damals durch die Wirt­schafts­wun­der-BRD und das ZDF – von Kon­rad Ade­nau­er 1963 als kon­ser­va­ti­ves Kon­tra zur pro­gres­si­ven ARD initi­iert – konn­te die­se Stim­mung mit „Akten­zei­chen XY unge­löst“ in ein kul­tur­in­dus­tri­el­les Spek­ta­kel transformieren.

Wäh­rend die Kin­der sich ängs­tig­ten, aber auch fas­zi­niert waren, kam bei den Erwach­se­nen noch etwas hin­zu: Die schwei­gen­de Täter*innen-Gesellschaft der NS-Nach­fol­ge­staa­ten konn­te sich bei „Akten­zei­chen“ im lust­ängst­li­chen Ange­sicht des Abar­ti­gen als gut und nor­mal ima­gi­nie­ren. Und mehr noch: Auch das Denun­zie­ren fei­er­te unter die­sen neu­en Vor­zei­chen sein tele­ge­nes Come­back als Volks­sport. Zim­mer­mann ern­te­te dafür auch Kri­tik, etwa in einem ARD-Inter­view, wo es in der Anmo­de­ra­ti­on schon hieß, sei­ne Sen­dung wür­de „Jagd­fie­ber und aggres­si­ves Miss­trau­en“ schü­ren.

Zim­mer­mann erfand 1967 mit der Serie „Akten­zei­chen XY … unge­löst“ das welt­weit ers­te True-Crime For­mat (© ZDF)

Schil­ling beglei­tet die­ses Stück deut­sche Fern­seh­ge­schich­te durch eine sehr beweg­te Zeit: Von 1968, über den „Deut­schen Herbst“ und die Anti-Atom­kraft-Bewe­gung, hin zur TV-Hyper­kom­mer­zia­li­sie­rung, die mit dem Beginn des Kabel­fern­se­hens in den 1980ern einsetzte.

Der sug­ges­ti­ve Essay zieht die „Aktenzeichen“-Bildsprache in eine direk­te, aber stets fra­gen­de Refle­xi­on über deren ideo­lo­gi­sche Funk­ti­on. Ähn­li­ches gelang bereits in Schil­lings preis­ge­krön­tem Vor­gän­ger­film „Kulen­kampffs Schu­he“ (2018), wo es eben­falls um die Ver­schal­tung von Fern­seh- und Zeit­ge­schich­te ging, näm­lich um die Spie­le-Sen­dun­gen der Nach­kriegs­zeit und das Harm­lo­sig­keits­be­dürf­nis einer Gene­ra­ti­on, die ihrem (Täter*innen-)Trauma nicht ins Gesicht sehen wollte.

Dies­mal ver­dich­tet sich Schil­lings men­ta­li­täts­ge­schicht­li­che The­se in der Figur Zim­mer­mann, den sie als jahr­zehn­te­lan­gen Pop­kul­tur-Gewährs­mann des Kon­ser­va­tis­mus zeigt, der sich selbst aber stets unideo­lo­gisch gab. Noch zu sei­nem Abschied als Mode­ra­tor lob­te Zim­mer­mann bei einer Talk­show die „päd­ago­gi­sche Wir­kung“ von Angst und erklär­te: „Wir müs­sen mit der Rea­li­tät leben und dür­fen uns kei­ne Wunsch­bil­der machen, die irre­al sind.“ Schil­ling beleuch­tet luzi­de, wie Zim­mer­mann genau das gemacht hat: die Rea­li­tät in kon­ser­va­ti­ve Wunsch­bil­der umbie­gen. Eine Schlüs­sel­sze­ne der Doku zeigt, wie Zim­mer­mann zu die­sem Zweck mut­maß­lich sogar eine Sta­tis­tik erfand: Dem­nach wür­den die meis­ten Sexu­al­de­lik­te gegen Frau­en beim Tram­pen und am nächt­li­chen Heim­weg von Loka­len passieren.

Die­ser pop­kul­tu­rell ein­ge­üb­te Glau­be ist heu­te frei­lich wider­legt. Die meis­ten Über­grif­fe pas­sie­ren im nahen ver­wandt­schaft­li­chen oder freund­schaft­li­chen Umfeld, und die meis­ten ermor­de­ten Frau­en kann­ten den Täter. Das passt aber nicht recht zu einem Nar­ra­tiv, das für „Akten­zei­chen“ bis in die 1980er ganz zen­tral war und von Schil­ling etwa so zusam­men­ge­fasst wird: Eine jun­ge Frau ver­lässt das wohl­be­hü­te­te Heim, lässt sich von den Ver­lo­ckun­gen der Nacht ver­füh­ren, bezahlt dafür mit dem Leben. Der anti­fe­mi­nis­ti­sche Sub­text sol­cher Angst­ma­che lau­tet stets: Wäre sie doch zuhau­se geblie­ben! Die patri­ar­cha­le Prü­de­rie impli­ziert das kom­men­de Vic­tim-Bla­ming bereits. Tat­säch­lich hat sich sogar der ers­te Fall von „Akten­zei­chen“, der Fund einer jun­gen Toten, spä­ter als Femi­zid durch den Ver­lob­ten her­aus­ge­stellt – also steht bereits der ers­te sen­sa­ti­ons­lüs­ter­ne Auf­griff von Zim­mer­mann jener kon­ser­va­ti­ven Pro­pa­gan­da ent­ge­gen, die er für die dar­auf­fol­gen­den drei Jahr­zehn­te betrie­ben hatte.

Schil­lings Film mit dem lan­gen Titel „Die­se Sen­dung ist kein Spiel – Die unheim­li­che Welt des Edu­ard Zim­mer­mann“ kann noch bis 31. August in der ZDF‑Mediathek nach­ge­se­hen werden.

Text: Simon Stockinger