„Schockiert, wie tief Qualität gesunken ist“, wird die unkommentierte Leserzuschrift übertitelt. Ob der Titel nun von „heute“ oder von Glattauer stammt, ist egal; er bedient zunächst einmal ein reaktionäres Vorurteil. Aber vielleicht täusche ich mich auch – worum geht’s? Um einen möglichst unvoreingenommenen Blick auf den Inhalt des Leserbriefs zu ermöglichen, hier der komplette Text (heute.at, 18.10.21) :
„Schockiert, wie tief Qualität gesunken ist”
Im Religionsunterricht mussten wir ein jüdisches Gedicht aus der Nachkriegszeit interpretieren, statt dass man uns die Umsetzung religiöser Feste nähergebracht hätte. In ‚Textiles Gestalten’ ließ man uns einen Zeitungsartikel über die wirtschaftliche Situation von chinesischen Seidenraupenbauern exzerpieren. Wenn das gut auf den späteren Beruf vorbereiten soll, dann verstehe ich die Welt nicht mehr. (…)
Seit zwei Wochen absolviere ich ein Praktikum in einem Kindergarten. Ich musste lange suchen, bis ich ein Kind fand, mit dem ich mich in deutscher Sprache verständigen konnte. Die Pädagogin der Gruppe hat ihre Ausbildung im Ausland absolviert und interagiert mit den Kindern in mangelhaftem Deutsch und mit gravierenden Grammatikdefiziten. Ich bin schockiert, wie tief die Qualität in unseren Bildungseinrichtungen gesunken ist. Die Politik tut alles dafür, die letzten motivierten Elementarpädagogen wieder von ihrem Weg abzubringen. (Andreas St., 20 J.)
Im zweiten Absatz beschreibt Andreas St. Zustände, die wohl so ähnlich auf den einen oder anderen Kindergarten zutreffen, aber auch ein Vorurteil bedienen können. Sicher gibt es Kindergärten, in denen die Kinder oder auch Betreuer*innen nur mangelhafte Deutschkenntnisse aufweisen. Es gibt aber auch fremdsprachige oder bilinguale Kindergärten von hervorragender Qualität, auf die die ersten Sätze zutreffen würden. Dem Text von Andreas St. ist kein Hinweis darauf zu entnehmen, dass er sich kleinere Gruppen und mehr BetreuerInnen wünscht, denn für ihn ist „das Ausland“ die Quelle allen Übels: die Ausbildung der Pädagogin im Ausland, die Kinder, die kein Deutsch sprechen.
Wünscht sich Andreas St. wenigstens eine bessere Ausbildung für ElementarpädagogInnen? Erkennbar ist nur, dass er sich eine stramm rechte und handwerklich orientierte Ausbildung wünscht, ohne jedes Verständnis für die Herkunft von Stoffen und die Bedingungen, unter denen sie produziert werden müssen.
Der eigentliche Hammer ist für mich aber der erste Satz mit dem „jüdischen Gedicht aus der Nachkriegszeit“, das angeblich die Bearbeitung der Umsetzung religiöser Feste verhindert hat. Welche religiösen Feste eigentlich? Meint er die der wichtigsten Weltreligionen oder doch nur den Nikolo-Besuch im Kindergarten oder die (areligiöse) Figur des Christkinds, die ja angeblich auch durch sinistre Kräfte (die „Umvolker“????) verhindert werden. Stattdessen wird Andreas St. ein „jüdisches Gedicht“ vorgelegt, zum Interpretieren. „Ein jüdisches Gedicht aus der Nachkriegszeit“ noch dazu! Ich kenne keine katholischen, islamischen oder auch jüdischen Gedichte, sondern nur Gedichte. Die Formulierung „Ein jüdisches Gedicht aus der Nachkriegszeit“ hat für mich eine starke antisemitische Schlagseite. Sie beinhaltet, ohne es anzusprechen, dass da der Holocaust abgehandelt wurde. Von einer jüdischen Person! Der gar nicht stille Vorwurf des Andreas St., mit so etwas belästigt zu werden, steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der nicht stattgefundenen Behandlung der Umsetzung religiöser Feste, die er sich stattdessen gewünscht hätte.
Meine Zusammenfassung: Der Text von Andreas St. strotzt nur so von reaktionären Vorurteilen, antisemitischen Anspielungen und Unterstellungen. Er hätte so nicht erscheinen dürfen und die Notengebung von Niki Glattauer („Befriedigend? Nein!“) ist völlig daneben.
Gut, verfehlte Notengebung gibt‘s leider öfter, aber diesen reaktionären Text unkommentiert wiederzugeben, sollte eigentlich nicht passieren. Ich habe deshalb Niki Glattauer geschrieben, und der hat auch prompt geantwortet:
danke für die Mühe mir zu schreiben — auch wenn ich Sie diesmal eher verärgert haben dürfte. Was mir leid tut.
Vielleicht haben Sie ja Recht — ich kann in meine Leserinnen ja leider nicht hineinschauen (oder gottseidank 😉).
Die von mir veröffentlichten Zeilen sind ja nur ein Bruchteil aus dem gesamten Text, ich hatte jedenfalls nicht den Eindruck, es mit jemandem zu tun zu haben, der ausländerfeindlich oder gar antisemitisch denkt. Der Großteil der Beschwerde des jungen Mannes galt dem Umstand, dass er für eine einigermaßen zumutbare Ausbildung zum Hort-Pädagogen keine Möglichkeiten findet und darüber hinaus permanent abgeschasselt wird. Dass ich die betreffenden Passagen herausgenommen habe, liegt vor allem daran, dass sie Haupttenor in zig anderen Lesermails von angehenden oder bereits aktiven Elementarpädagoginnen sowie Eltern von Kindergartenkindern sind:
- zu viele Kinder in einer Gruppe
- alleinige Verantwortung auf Grund von Personalmangel
- teils schlecht deutschsprechendes und teils unzureichend ausgebildetes pädagogisches Personal
- ein eklatanter Überhang von Kindern, die und deren Eltern kein oder kaum Deutsch sprechen
Ich denke, man ist noch kein Antisemit oder Ausländerfeind, wenn man die beiden letzten Punkte kritisch an- und deutlich ausspricht. Ich bin jedenfalls beides nicht und schließe mich der Kritik durchaus an. Auch als praktizierender Vater zweier Kinder, deren Kindergartenzeit in ganz normalen städtischen Wiener Kindergärten genau davon geprägt war.
In seiner Antwort fügt Glattauer im Fettgedruckten Elemente hinzu, die Andreas St. gar nicht angesprochen hat. Zum Vorwurf des Antisemitismus und der Fremdenfeindlichkeit nimmt er leider nur ausweichend Stellung. Das ist schade. Nein, eigentlich ist die Antwort in Notenform Ungenügend!
Weil meine Sicht der Dinge aber möglicherweise auch vorurteilsbelastet ist, habe ich Doron Rabinovici, Mitglied unseres Beirats, um eine kurze Stellungnahme gebeten und eine ausführliche erhalten (danke!):
Wer weiß schon, was den Schreiber jener Leserzuschrift umtreibt. Ich kann über seine Motive nur mutmaßen. Aber falls er wirklich alleinig auf die schweren Bedingungen für Pädagogen und Pädagoginnen in den Kindergärten hinweisen wollte, ging das schief. Seine Beschwerde klingt, als meine er, da seien zu viele migrantische Kinder. Sollen diese Kinder nicht in österreichische Kindergärten aufgenommen werden? Geht es ihm darum, zu sagen, zu viele dieser Kinder seien im Land? Sollen sie etwa fortgeschafft werden? Wer sich darüber beklagt, in einer Religionsstunde ein jüdisches Gedicht aus der Nachkriegszeit interpretieren zu müssen, statt zu lernen, wie die konfessionellen Feste begangen werden, muss kein Antisemit sein, aber ganz ist nicht zu verstehen, was daran so schlimm sein soll. Für die Sinnfrage, der sich Gläubige stellen, ist wohl relevant, welcher Hass im Namen der christlichen Religion jahrhundertelang geschürt wurde und was das heute für das Praktizieren der Feiern und Riten zu bedeuten hat. Sich dagegen zu wenden und zudem nichts von den Arbeitsbedingungen chinesischer Seidenraupenbauern hören zu wollen, wenn es darum geht, woher die Stoffe fürs „Textile Gestalten“ stammen, rundet das Bild ab. Hier beschwert sich eine Person über zu viel Fremdes.
Aber ausgerechnet diese Passagen des Leserbriefes abzudrucken und nicht klar zu machen, was daran die Ressentiments verstärken könnte, wundert mich. Ist nicht klar, wie diese einzelnen Punkte im gesamten Zusammenhang wirken? Und hätte nicht gleich der erste Absatz über das jüdische Gedicht aufhorchen lassen müssen? Gerade von Nikki Glattauer würde ich mir das eigentlich erwarten. Wenn es darum ginge, mehr und besseres pädagogisches Personal auszubilden und einzustellen, ist das verständlich, doch was hat das mit dem jüdischen Gedicht zu tun? Kleinere Kindergruppen wären unbedingt wichtig, doch das ist im Leserbrief nicht angesprochen. Was bleibt, ist ein Schreiben, das nur als Stimmungsmache verstanden werden kann. Es ist gar nicht notwendig, zu wissen, wie die meisten diesen Brief lesen werden. Er ist mehr als missverständlich. Er entspricht genau jenen Vorurteilen, die zu verstärken, ein Spiel mit dem Feuer ist. (Doron Rabinovici)