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Das jüdische Gedicht, die Seidenraupenbauern, die deutsche Sprache und ein Kommentar von Doron Rabinovici

Niki Glatt­au­er ist Päd­ago­ge und Buch­au­tor, der seit Jah­ren auch als Kolum­nist tätig ist. Frü­her für den „Kurier“, seit 2019 für die Gra­tis­zei­tung „heu­te“, wo er die Rubrik „Glatt­au­er gibt Noten“ betreut. Sei­ne Kri­tik an Miss­stän­den im Bil­dungs­we­sen trifft oft den wun­den Punkt, bei der Zuschrift des Lesers Andre­as St. (20) in „heu­te“ vom 18.10.21 […]

22. Okt 2021

„Scho­ckiert, wie tief Qua­li­tät gesun­ken ist“, wird die unkom­men­tier­te Leser­zu­schrift über­ti­telt. Ob der Titel nun von „heu­te“ oder von Glatt­au­er stammt, ist egal; er bedient zunächst ein­mal ein reak­tio­nä­res Vor­ur­teil. Aber viel­leicht täu­sche ich mich auch – wor­um geht’s? Um einen mög­lichst unvor­ein­ge­nom­me­nen Blick auf den Inhalt des Leser­briefs zu ermög­li­chen, hier der kom­plet­te Text (heute.at, 18.10.21) :

„Scho­ckiert, wie tief Qua­li­tät gesun­ken ist”

Im Reli­gi­ons­un­ter­richt muss­ten wir ein jüdi­sches Gedicht aus der Nach­kriegs­zeit inter­pre­tie­ren, statt dass man uns die Umset­zung reli­giö­ser Fes­te näher­ge­bracht hät­te. In ‚Tex­ti­les Gestal­ten’ ließ man uns einen Zei­tungs­ar­ti­kel über die wirt­schaft­li­che Situa­ti­on von chi­ne­si­schen Sei­den­rau­pen­bau­ern exzer­pie­ren. Wenn das gut auf den spä­te­ren Beruf vor­be­rei­ten soll, dann ver­ste­he ich die Welt nicht mehr. (…)

Seit zwei Wochen absol­vie­re ich ein Prak­ti­kum in einem Kin­der­gar­ten. Ich muss­te lan­ge suchen, bis ich ein Kind fand, mit dem ich mich in deut­scher Spra­che ver­stän­di­gen konn­te. Die Päd­ago­gin der Grup­pe hat ihre Aus­bil­dung im Aus­land absol­viert und inter­agiert mit den Kin­dern in man­gel­haf­tem Deutsch und mit gra­vie­ren­den Gram­ma­tik­de­fi­zi­ten. Ich bin scho­ckiert, wie tief die Qua­li­tät in unse­ren Bil­dungs­ein­rich­tun­gen gesun­ken ist. Die Poli­tik tut alles dafür, die letz­ten moti­vier­ten Ele­men­tar­päd­ago­gen wie­der von ihrem Weg abzu­brin­gen. (Andre­as St., 20 J.)

Im zwei­ten Absatz beschreibt Andre­as St. Zustän­de, die wohl so ähn­lich auf den einen oder ande­ren Kin­der­gar­ten zutref­fen, aber auch ein Vor­ur­teil bedie­nen kön­nen. Sicher gibt es Kin­der­gär­ten, in denen die Kin­der oder auch Betreuer*innen nur man­gel­haf­te Deutsch­kennt­nis­se auf­wei­sen. Es gibt aber auch fremd­spra­chi­ge oder bilin­gua­le Kin­der­gär­ten von her­vor­ra­gen­der Qua­li­tät, auf die die ers­ten Sät­ze zutref­fen wür­den. Dem Text von Andre­as St. ist kein Hin­weis dar­auf zu ent­neh­men, dass er sich klei­ne­re Grup­pen und mehr Betreue­rIn­nen wünscht, denn für ihn ist „das Aus­land“ die Quel­le allen Übels: die Aus­bil­dung der Päd­ago­gin im Aus­land, die Kin­der, die kein Deutsch sprechen.

Wünscht sich Andre­as St. wenigs­tens eine bes­se­re Aus­bil­dung für Ele­men­tar­päd­ago­gIn­nen? Erkenn­bar ist nur, dass er sich eine stramm rech­te und hand­werk­lich ori­en­tier­te Aus­bil­dung wünscht, ohne jedes Ver­ständ­nis für die Her­kunft von Stof­fen und die Bedin­gun­gen, unter denen sie pro­du­ziert wer­den müssen.

Der eigent­li­che Ham­mer ist für mich aber der ers­te Satz mit dem „jüdi­schen Gedicht aus der Nach­kriegs­zeit“, das angeb­lich die Bear­bei­tung der Umset­zung reli­giö­ser Fes­te ver­hin­dert hat. Wel­che reli­giö­sen Fes­te eigent­lich? Meint er die der wich­tigs­ten Welt­re­li­gio­nen oder doch nur den Niko­lo-Besuch im Kin­der­gar­ten oder die (are­li­giö­se) Figur des Christ­kinds, die ja angeb­lich auch durch sinist­re Kräf­te (die „Umvol­ker“????) ver­hin­dert wer­den. Statt­des­sen wird Andre­as St. ein „jüdi­sches Gedicht“ vor­ge­legt, zum Inter­pre­tie­ren. „Ein jüdi­sches Gedicht aus der Nach­kriegs­zeit“ noch dazu! Ich ken­ne kei­ne katho­li­schen, isla­mi­schen oder auch jüdi­schen Gedich­te, son­dern nur Gedich­te. Die For­mu­lie­rung „Ein jüdi­sches Gedicht aus der Nach­kriegs­zeit“ hat für mich eine star­ke anti­se­mi­ti­sche Schlag­sei­te. Sie beinhal­tet, ohne es anzu­spre­chen, dass da der Holo­caust abge­han­delt wur­de. Von einer jüdi­schen Per­son! Der gar nicht stil­le Vor­wurf des Andre­as St., mit so etwas beläs­tigt zu wer­den, steht in unmit­tel­ba­rem Zusam­men­hang mit der nicht statt­ge­fun­de­nen Behand­lung der Umset­zung reli­giö­ser Fes­te, die er sich statt­des­sen gewünscht hätte.

Mei­ne Zusam­men­fas­sung: Der Text von Andre­as St. strotzt nur so von reak­tio­nä­ren Vor­ur­tei­len, anti­se­mi­ti­schen Anspie­lun­gen und Unter­stel­lun­gen. Er hät­te so nicht erschei­nen dür­fen und die Noten­ge­bung von Niki Glatt­au­er („Befrie­di­gend? Nein!“) ist völ­lig daneben.

Gut, ver­fehl­te Noten­ge­bung gibt‘s lei­der öfter, aber die­sen reak­tio­nä­ren Text unkom­men­tiert wie­der­zu­ge­ben, soll­te eigent­lich nicht pas­sie­ren. Ich habe des­halb Niki Glatt­au­er geschrie­ben, und der hat auch prompt geantwortet:

dan­ke für die Mühe mir zu schrei­ben — auch wenn ich Sie dies­mal eher ver­är­gert haben dürf­te. Was mir leid tut.
Viel­leicht haben Sie ja Recht — ich kann in mei­ne Lese­rin­nen ja lei­der nicht hin­ein­schau­en (oder gott­sei­dank 😉).
Die von mir ver­öf­fent­lich­ten Zei­len sind ja nur ein Bruch­teil aus dem gesam­ten Text, ich hat­te jeden­falls nicht den Ein­druck, es mit jeman­dem zu tun zu haben, der aus­län­der­feind­lich oder gar anti­se­mi­tisch denkt. Der Groß­teil der Beschwer­de des jun­gen Man­nes galt dem Umstand, dass er für eine eini­ger­ma­ßen zumut­ba­re Aus­bil­dung zum Hort-Päd­ago­gen kei­ne Mög­lich­kei­ten fin­det und dar­über hin­aus per­ma­nent abge­schas­selt wird. Dass ich die betref­fen­den Pas­sa­gen her­aus­ge­nom­men habe, liegt vor allem dar­an, dass sie Haupt­te­nor in zig ande­ren Leser­mails von ange­hen­den oder bereits akti­ven Ele­men­tar­päd­ago­gin­nen sowie Eltern von Kin­der­gar­ten­kin­dern sind: 

  • zu vie­le Kin­der in einer Gruppe
  • allei­ni­ge Ver­ant­wor­tung auf Grund von Personalmangel
  • teils schlecht deutsch­spre­chen­des und teils unzu­rei­chend aus­ge­bil­de­tes päd­ago­gi­sches Personal
  • ein ekla­tan­ter Über­hang von Kin­dern, die und deren Eltern kein oder kaum Deutsch sprechen

Ich den­ke, man ist noch kein Anti­se­mit oder Aus­län­der­feind, wenn man die bei­den letz­ten Punk­te kri­tisch an- und deut­lich aus­spricht. Ich bin jeden­falls bei­des nicht und schlie­ße mich der Kri­tik durch­aus an. Auch als prak­ti­zie­ren­der Vater zwei­er Kin­der, deren Kin­der­gar­ten­zeit in ganz nor­ma­len städ­ti­schen Wie­ner Kin­der­gär­ten genau davon geprägt war.

In sei­ner Ant­wort fügt Glatt­au­er im Fett­ge­druck­ten Ele­men­te hin­zu, die Andre­as St. gar nicht ange­spro­chen hat. Zum Vor­wurf des Anti­se­mi­tis­mus und der Frem­den­feind­lich­keit nimmt er lei­der nur aus­wei­chend Stel­lung. Das ist scha­de. Nein, eigent­lich ist die Ant­wort in Noten­form Ungenügend!

Weil mei­ne Sicht der Din­ge aber mög­li­cher­wei­se auch vor­ur­teils­be­las­tet ist, habe ich Doron Rabi­no­vici, Mit­glied unse­res Bei­rats, um eine kur­ze Stel­lung­nah­me gebe­ten und eine aus­führ­li­che erhal­ten (dan­ke!):

Wer weiß schon, was den Schrei­ber jener Leser­zu­schrift umtreibt. Ich kann über sei­ne Moti­ve nur mut­ma­ßen. Aber falls er wirk­lich allei­nig auf die schwe­ren Bedin­gun­gen für Päd­ago­gen und Päd­ago­gin­nen in den Kin­der­gär­ten hin­wei­sen woll­te, ging das schief. Sei­ne Beschwer­de klingt, als mei­ne er, da sei­en zu vie­le migran­ti­sche Kin­der. Sol­len die­se Kin­der nicht in öster­rei­chi­sche Kin­der­gär­ten auf­ge­nom­men wer­den? Geht es ihm dar­um, zu sagen, zu vie­le die­ser Kin­der sei­en im Land? Sol­len sie etwa fort­ge­schafft wer­den? Wer sich dar­über beklagt, in einer Reli­gi­ons­stun­de ein jüdi­sches Gedicht aus der Nach­kriegs­zeit inter­pre­tie­ren zu müs­sen, statt zu ler­nen, wie die kon­fes­sio­nel­len Fes­te began­gen wer­den, muss kein Anti­se­mit sein, aber ganz ist nicht zu ver­ste­hen, was dar­an so schlimm sein soll. Für die Sinn­fra­ge, der sich Gläu­bi­ge stel­len, ist wohl rele­vant, wel­cher Hass im Namen der christ­li­chen Reli­gi­on jahr­hun­der­te­lang geschürt wur­de und was das heu­te für das Prak­ti­zie­ren der Fei­ern und Riten zu bedeu­ten hat. Sich dage­gen zu wen­den und zudem nichts von den Arbeits­be­din­gun­gen chi­ne­si­scher Sei­den­rau­pen­bau­ern hören zu wol­len, wenn es dar­um geht, woher die Stof­fe fürs „Tex­ti­le Gestal­ten“ stam­men, run­det das Bild ab. Hier beschwert sich eine Per­son über zu viel Fremdes.

Aber aus­ge­rech­net die­se Pas­sa­gen des Leser­brie­fes abzu­dru­cken und nicht klar zu machen, was dar­an die Res­sen­ti­ments ver­stär­ken könn­te, wun­dert mich. Ist nicht klar, wie die­se ein­zel­nen Punk­te im gesam­ten Zusam­men­hang wir­ken? Und hät­te nicht gleich der ers­te Absatz über das jüdi­sche Gedicht auf­hor­chen las­sen müs­sen? Gera­de von Nik­ki Glatt­au­er wür­de ich mir das eigent­lich erwar­ten. Wenn es dar­um gin­ge, mehr und bes­se­res päd­ago­gi­sches Per­so­nal aus­zu­bil­den und ein­zu­stel­len, ist das ver­ständ­lich, doch was hat das mit dem jüdi­schen Gedicht zu tun? Klei­ne­re Kin­der­grup­pen wären unbe­dingt wich­tig, doch das ist im Leser­brief nicht ange­spro­chen. Was bleibt, ist ein Schrei­ben, das nur als Stim­mungs­ma­che ver­stan­den wer­den kann. Es ist gar nicht not­wen­dig, zu wis­sen, wie die meis­ten die­sen Brief lesen wer­den. Er ist mehr als miss­ver­ständ­lich. Er ent­spricht genau jenen Vor­ur­tei­len, die zu ver­stär­ken, ein Spiel mit dem Feu­er ist. (Doron Rabinovici)

 

War das das Gedicht, das Andreas St. interpretieren musste? (Todesfuge, Paul Celan)
War das das Gedicht, das Andre­as St. inter­pre­tie­ren muss­te? (Todes­fu­ge, Paul Celan)
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