Der „Jünger“
Wir haben erst vor kurzem in unserem Segment „Was wurde denn aus …?“, über Helmut Pilhar berichtet. Die spannende und dramatische Geschichte darüber, wie der heute 55-jährige Ingenieur aufgrund der Krebserkrankung seiner Tochter Olivia, die von den Eltern durch eine Flucht quer durch Europa einer schulmedizinischen Behandlung entzogen werden sollte und zum treuesten Jünger des Erfinders der sogenannten „Germanischen Neuen Medizin“ (GNM) wurde, ersparen wir uns daher an dieser Stelle. Pilhar tut sich jedenfalls seit Jahren als ideologischer Nachlassverwalter der „Lehre“ des 2017 verstorbenen Hamer hervor. Der hatte ihn immerhin zum „Dozenten für Germanische Heilkunde – Theorie“ ernannt. Dabei handelt es sich freilich um einen erfundenen Titel.
Die „Lehre“
Die GNM ist eine pseudomedizinische Lehre, die von Hamer ab 1981 entwickelt wurde und im Wesentlichen davon ausgeht, dass alle Erkrankungen auf „Konflikte“ bzw. „Konfliktschockerlebnisse“ rückzuführen seien, die mit Hamers Verfahren, einem Mix aus psychotherapeutischen Anleihen und einem esoterischen Positiv-Denken-Ansatz, aufgelöst werden können. Hamer hatte seine Approbation bereits 1986 verloren, danach trotzdem weiter praktiziert und deshalb mehrere Haftstrafen abgesessen. Die Medizinjournalistin Krista Federspiel geht davon aus, dass seit 1983 etwa 500 Personen aufgrund der Befolgung von Hamers „Medizin“ gestorben sind.
Zudem waren Hamers Thesen stets eingebettet in eine rassistische und antisemitische Ideologie. Zu seinen Unterstützern und Verbreitern der „Lehre“ zählen folgerichtig Neonazis (etwa der „Corona-Rebell“ und Ex-NPD-Mann Martin Gabling) und Holocaustleugner (etwa der „Reichsbürger“ Iwan Wanja Götz). Hamers Konzept erfreut sich auch weiterhin großer Beliebtheit im heterogenen Esoterik-Milieu, wo die Grenzen zu rechten bis rechtsextremen Ideologemen oftmals fließend sind.
Auf YouTube gegen die „Erkenntnisunterdrückung“
Helmut Pilhar erfüllt seine Aufgabe als „Dozent für Germanische Heilkunde“ einerseits über seine wirre Website, andererseits auf seinem YouTube-Kanal, der über rund 10.000 Abonent*innen verfügt. Dort erschienen erst vor kurzem einige Clips, in welchen der Mentor Hamer selbst zu Wort kommt. Und die haben es in sich. Das ist überraschend, weil Pilhar einem gut recherchierten Eintrag auf dem kritischen Wiki-Portal „Psiram“ zufolge die offensichtlichsten Belege für Hamers Antisemitismus eigentlich zu löschen versucht hat. Dabei handelt es sich insbesondere um offene Briefe, die großteils bei Pilhar sein dürften.
In einem Video mit dem Titel „Erkenntnisunterdrueckung“ (1), das Pilhar erst im Februar dieses Jahres veröffentlicht hat, buchstabiert Hamer seinen antisemitischen Wahn am deutlichsten aus. Der Clip dauert beinahe eine Stunde und ist eine Montage aus einem Interview mit Hamer und etlichen Auszügen aus den erwähnten offenen Briefen und anderen Textstellen. Hamer setzt darin auseinander, dass er Opfer einer jüdischen Verschwörung sei:
Die Presse gehört einer gewissen Religionsgemeinschaft, alles gehört dieser Religionsgemeinschaft: Die Universitäten, die Banken … einfach alles. Und diese größte Entdeckung der Menschheitsgeschichte [womit er seine eigene Erfindung meint, Amk. SdR], ja das ist doch unmöglich, dass das denen nicht gehört, das können die gar nicht ertragen.
Laut Hamer habe das Judentum seine große Entdeckung gestohlen und nütze diese nun nur für sich, während die Weitergabe der Wunderheilung an alle Nicht-Juden verboten sei. Mehr noch: Alle anderen würden durch Morphium und Chemotherapie ermordet; das sei der „teuflische Plan“, der der Weisung des „Weltoberrabbiners“ entstamme. Dieser, gleichzeitig „spirituelles Oberhaupt aller Freimaurerlogen“, sei der „Messias der Juden und größter Massenmörder aller Zeiten“, unter dessen Ägide bereits drei Milliarden Menschen „geschächtet worden“ seien.
Dieser antisemitische Wahn ist gespickt mit zahlreichen Details, etwa: Alle Onkolog*innen seien Juden und Jüdinnen. Auffällig ist, dass Hamer ständig ein Vokabular bedient, das im Diskurs über NS-Verbrechen geläufig ist. Er wendet es stattdessen gegen Juden und Jüdinnen. So spricht er etwa vom „größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte“, von der „Kollektivschuld“ der Rabbiner und davon, dass sich die Menschen von jüdischen Ärzt*innen „wie Schafe zur Schlachtbank“ führen ließen, denn sie würden durch die schulmedizinischen Maßnahmen systematisch ermordet.
Hamers bizarre Mischung aus Selbstüberhöhung (er habe die „größte Entdeckung der Menschheitsgeschichte“ gemacht) einerseits und der Behauptung totaler Kontrolle durch eine jüdische Weltverschwörung andererseits entspricht präzise jener „ohnmächtigen Allmachtsphantasie“, die der Politikwissenschaftler Samuel Salzborn im Antisemitismus ausmacht. Antisemitismus entlastet – kognitiv und emotional – durch einen „weltanschaulichen Allerklärungsanspruch: Er bietet als Weltbild ein allumfassendes System von Ressentiments und (Verschwörungs-)Mythen, die in ihrer konkreten Ausformulierung wandelbar waren und sind“ (bpb.de). Pilhars antisemitisches Hetz-Video ist dafür aufgrund seiner Explizitheit und Länge ein herausragendes – und nur schwer erträgliches – Beispiel.
„Mein Studentenmädchen“
Was laut Hamer übrigens auch von der jüdischen Konspiration zurückgehalten wird, sei die heilende Wirkung des von ihm komponierten Lieds „Mein Studentenmädchen“. Das 1976 für seine an Krebs verstorbene Frau verfasste Stück soll aufgrund seiner „Schwingungen“ eine heilende Zauberwirkung haben. Hamer empfahl das Hören in Dauerschleife als Therapie gegen Krebs. Auch dem oben zitierten Video wird das Lied immer wieder als eine weit herausragende Entdeckung von Hamer erwähnt.
Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, dass Hamers Wahnideen oftmals in Zusammenhang mit einer psychischen Erkrankung gesehen wurden. Diese Vermutung war bereits bei dem Gerichtsurteil von 1986 relevant. Seine Anhänger*innen schreckt das freilich nicht ab. Pilhar bewirbt vielmehr auch diesen tragischen Unsinn auf seiner Website.
Fußnoten:
1 „20130903 Dr. Hamer – Erkenntnisunterdrueckung“, 14.02.2021, eingesehen via Youtube-Kanal „Helmut Pilhar“: 01.10.2021