30.4.2021: Die Verhandlung vor dem Bezirksgericht ist für zwei Stunden anberaumt. In der Sache XY gegen SdR geht es um Unterlassung: Der Verein Stoppt die Rechten soll durch das Gericht verpflichtet werden, ab sofort jede Erwähnung des Klägers in Schrift und Bild zu unterlassen. Im Provisorialverfahren wurde der Klage nicht stattgegeben, aber das muss für das Hauptverfahren nichts heißen.
Worum geht’s? Bis vor rund zehn Jahren war der Kläger eine durchaus zentrale Person in der österreichischen Neonazi-Szene, hat sich an Demos von und mit Neonazis beteiligt, hat an deren Versammlungen und Besäufnissen teilgenommen. Das ist ihm aber in der Verhandlung nur unter Mühen herauszulocken.
Eigentlich will sich der Kläger als eine Person präsentieren, die – jung und dumm – in die Szene hineingerutscht ist und dann, als sie mitbekommen hat, was da für eine Musik gespielt wird, die Notbremse gezogen und aus der Szene hinausoptiert hat. Mit den zentralen Aktivitäten der damaligen Neonazi-Szene, ihrer auch organisatorischen Formierung rund um Alpen-Donau.info, will der Kläger nichts zu tun gehabt haben. Er habe nur einige Veranstaltungen von Küssels „akademischer Ferialverbindung Reich“ besucht, auf das ziemlich einschlägige Veranstaltungsprogramm dort aber keinerlei Einfluss und von Küssels Parallelaktivitäten bei Alpen-Donau keinerlei Ahnung gehabt. Vor allem: Seither habe es keine rechtsextremen Aktivitäten des Klägers mehr gegeben. Nun, da können wir dem Gericht dann einiges vorlegen, was dieser Erzählung des Klägers doch ziemlich widerspricht.
Allerdings, so der Kläger weiter, klebe die damalige SdR-Berichterstattung, die über Suchmaschinen leicht auffindbar sei und ihn schon einmal den Job gekostet habe, weiter an ihm. Im Provisorialverfahren erzählte er auch noch vom Zoff in seiner Ehe, der auf die Berichterstattung von SdR zurückzuführen sei. Also massive Vorwürfe, die uns eine ziemlich bedeutende Rolle in Leben und Liebe des Klägers zumessen.
Was stimmt also?
Zunächst einmal muss der Kläger nach einigem Zögern zugeben, dass er seine Konten auf vk.com, dem russischen FB-Klon, und auf der Plattform Pinterest, erst wenige Tage vor der Verhandlung, nach einer schriftlichen Gegenäußerung von SdR zur Klage, gelöscht hatte. In der schriftlichen Stellungnahme verwiesen wir darauf, dass sein Konto auf vk.com gespickt war mit Kameraden aus der identitären Szene. Mit handverlesenen 37 Personen war er dort befreundet, darunter mit dem Gründer der rechtsextremen „Sudeltruppe“ (Der Spiegel vom 10.4.21) von Reconquista Germanica, der sich „Nikolai Alexander“ nennt. Seinen vk-Kameraden Nikolai, der übrigens auch in den letzten Tagen abgetaucht ist auf diesem Netzwerk, will der Kläger gar nicht kennen; und „Reconquista Germanica“ sowieso nicht. Wie aber kommt er zu dessen (Fake-)Namen, wenn er ihn gar nicht kennt?
Auf Pinterest hatte er eine andere Seite von sich gezeigt: seine Vorliebe für die nordischen Völker und ihre Runen. Warum darunter auch die Schwarze Sonne auftauchte, die zwar ein Erkennungszeichen der Neonazis ist und in der Nazi-Zeit erfunden wurde, wurde nicht weiter verhandelt.
Die Konten auf vk.com und Pinterest sprachen also nicht unbedingt für die Behauptung des Klägers, dass er seit 2011 nichts mehr mit der rechtsextremen Szene zu schaffen hatte. Sein Anwalt versuchte es daher mit einem Entlastungsangriff via Twitter. Der Kläger habe dort ein aktuelles Konto, und da könne man seine offene, ja geradezu pluralistische Haltung schon dadurch erkennen, dass er nicht nur Rechten (z.B. Alice Weidel), sondern auch Linken und anderen (Antifa-Prinzessin, Armin Wolf) folge. Zum Beweis des Gesinnungswandels wurden Kopien der Personen vorgelegt, denen der Kläger so eifrig folgt auf Twitter. Weil da nirgendwo der Name des Twitter-Accounts des Klägers auftauchte, wollten wir natürlich den Namen wissen, um die Behauptung auch überprüfen zu können.
Weil sich der Kläger zunächst weigerte, diesen Namen preiszugeben, drängten wir umso mehr auf dessen Bekanntgabe und hatten schließlich auch Erfolg. Zunächst aber wurden einmal Fotos betrachtet. Weil sich der Kläger ja gewissermaßen als unscheinbares Mauerblümchen am Rande des braunen Sumpfes dargestellt hatte, legten wir ein Foto vor. Auf dem Foto erkennbar: einige Neonazis und einer, der ein Transparent hält: „Wir sind das Volk“
Beim Betrachten des Bildes konnte der Kläger zunächst, als ihm auf Nachfragen die Person bezeichnet wurde, die er sein sollte, nur eine gewisse Ähnlichkeit entdecken. Erst nach einer kurzen Sitzungsunterbrechung, die sein Anwalt verlangt hatte, wurde die Ähnlichkeit durch die Identität abgelöst. Ja, aber auf der Demo damals, die sich gegen die EU gerichtet habe, seien auch Tausende andere Teilnehmer*innen gewesen, Das stimmt sogar, aber die Medien berichteten damals auch von den rund 300 Neonazis, die neben Jörg Haider und Peter Westenthaler (beide damals BZÖ) mitmarschierten.
Beim zweiten Foto, das dem Kläger vorgelegt wurde, waren die Neonazis dann unter sich: Es stammt aus dem Jahr 2010 und zeigt österreichische und slowakische Neonazis auf einer einschlägigen Demo in Bratislava. Auf dem Foto zentral der Kläger und mit dem Rücken zur Kamera, aber gut erkennbar, Gottfried Küssel, der mit dem Kläger mutmaßlich im Gespräch ist. Auch bei diesem Foto erwacht das Gedächtnis des Klägers erst nach einer Sitzungsunterbrechung. Immerhin: Sich selbst kann er danach zwar erkennen, nicht aber den Gottfried. Was wird sich der dazu denken?
Mit dem Gottfried habe er sowieso seit der (freiwilligen) Auflösung von dessen akademischer Ferialverbindung „Reich“ im Jahr 2011 keinerlei Kontakt mehr gehabt, erzählt der Kläger auf Befragung durch den Richter.
Mittlerweile konnten wir aber auch den Twitter-Account des Klägers, der seit Februar 2017 nicht unter seinem Klarnamen läuft, sichten und haben da – Überraschung! – einige aussagekräftige Tweets und Retweets finden können, die so gar nicht zur Vorstellung des politisch abstinenten, aber an allem Interessierten Menschen passen. Am 23. Juli 2017 jubelt er Martin Sellner zu: „Bravo weiter so“
Weil der Martin durch Twitter gelöscht wurde, können wir nicht mehr nachverfolgen, welcher Botschaft des Martin der Kläger da zugejubelt hat. Auf Befragen des Richters fällt dem Kläger ein, dass ihn vor allen die familienpolitischen Inhalte von Sellner beeindruckt hätten. Die familienpolitischen? Auf Nachfrage des Richters: Ja, jene über die Vater-Mutter-Kind-Familie. Präziser wird der Kläger nicht.
Überhaupt: Mit Äußerungen ist der Kläger auch auf Twitter sparsam. Da ist ihm schon lieber, einen Tweet von einer anderen Person zu übernehmen. Etwa den von Mario am 26.10.2017: „Wer heutzutage in einer politischen Debatte den Begriff ‚Nazi‘ gegen wen auch immer ins Feld führt, ist aus ethischer Sicht ein Lump, aus historischer Sicht ein Verharmloser, aus intellektueller Sicht eine Null.“
Der Mario, der da den Begriff Nazi auch für Neonazis am liebsten verbieten würde, ist – eh klar – ein Identitärer. Die mögen es bekanntlich gar nicht, wenn sie an ihre (häufig) neonazistische Vergangenheit oder an ihre neonazistischen Kontakte erinnert werden. Apropos: Martin Sellner kennt der Kläger natürlich auch aus der Zeit im Nazi‑, pardon: Neonazi-Keller bei Küssel.
Diesen Tweet vom Mario halten wir dem Kläger nicht vor, aber seine beiden zu Tommy Robinson schon. Am 28. Mai twittert er: „Theresa May MP: Free Tommi Robinson – Jetzt unterschreiben!“ Und ebenfalls am 28.5.18: „Weit haben wir es in Europa gebracht!“, dazu ein Tweet in schlechtem Deutsch, in Robinson als „einer der weniger(sic!) verbleibenden Patrioten England’s (sic!)“ bezeichnet wurde, der zu elf Monaten Haft verurteilt worden sei, angeblich weil er über den Prozess gegen einen pakistanischen Kinderschänder berichten wollte.
Der Kläger erklärt auf Befragen, dass er Robinson als britischen Journalisten kenne. Diese Zuschreibung für den oftmals Vorbestraften und Gründer der rechtsextremen English Defence League ist ähnlich originell wie jene für Martin Sellner als Familienpolitiker (zu den genaueren Umständen für Robinsons Verurteilung berichtet ausführlich das Recherche-Netzwerk CORRECTIV.
Die Argumentation des Klägers, wonach er zwar über den Verein „akademische Ferialverbindung Reich“ vor über zehn Jahren ganz am Rande mit Rechtsextremen und Neonazis wie Küssel in Kontakt gekommen sei, diese Kontakte aber abgebrochen habe, nachdem er deren radikale Ideologie erkannt habe, seither aber dem Rechtsextremismus abgeschworen habe, hat sich somit ziemlich umfassend erledigt.
Der SPÖ-Onkel mit dem Persilschein
Aber der Kläger will noch eine Trumpfkarte präsentieren: seinen Onkel, der ein gar nicht so unbekannter Wiener Lokalpolitiker und Gemeinderat der SPÖ war. Der Onkel erklärt auf Befragung, dass er zwar nicht die Aktivitäten seines Neffen in den diversen Netzwerken kenne, aber viel und schon seit vielen Jahren mit ihm diskutiere und da könne er schon feststellen, dass sein Neffe mittlerweile gemäßigte Positionen vertrete. Früher einmal sei er etwas radikaler gewesen, aber das sei lange her und außerdem durch negative Erfahrungen in der Kindheit oder Jugend mit Ausländern erklärbar.
Nein, ich habe mich nicht verhört! Das wurde tatsächlich so ungeniert gesagt: Die Neonazi-Periode wird mit einigen negativen Kindheits- oder Jugenderfahrungen erklärt! Ja, und noch was sagt der Sozialdemokrat: in Migrationsfragen bewege sich sein Schützling auf ÖGB-Linie. Auch Kanzler Kurz wird in diesem Zusammenhang erwähnt.
Nach fast vier Stunden und dieser merkwürdigen Zeugenbefragung schließt der Richter die Verhandlung. Das Urteil, ob wir den Namen des Klägers löschen müssen oder im Hinblick auf seine diversen Aktivitäten auch in den letzten Jahren ein öffentliches Interesse besteht, wird schriftlich ergehen.
Es geht dabei um sehr Grundsätzliches: Darf einer, der früher Neonazi in einer zentralen Funktion war, dann bis vor wenigen Tagen noch seine Sympathie mit den Identitären und anderen Rechtsextremen öffentlich geteilt, sie auch unterstützt hat, nicht mehr von uns mit Namen genannt werden, auch in alten Archivmeldungen nicht?