Absolut lesenswert: Rechtsextremismus Band 4. Eine Rezension

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Es ist bereits der vier­te Band aus der Rei­he „Rechts­extre­mis­mus“ der „For­schungs­grup­pe Ideo­lo­gien und Poli­ti­ken der Ungleich­heit“ (FIPU), der da jüngst im umtrie­bi­gen Wie­ner Man­del­baum-Ver­lag erschie­nen ist. Das Leit­the­ma „Her­aus­for­de­run­gen für den Jour­na­lis­mus“ klingt zunächst ein­mal etwas sprö­de. Im Buch umge­setzt, stimmt das jedoch nicht, denn die Bei­trä­ge der Autor*innen bie­ten – aus sehr unter­schied­li­chen Per­spek­ti­ven – vie­le Anre­gun­gen und Ein­bli­cke. Eine Rezen­si­on von Karl Öllinger.

Von den Titeln ein­zel­ner Bei­trä­ge soll­te man sich nicht abschre­cken las­sen. „Ent­nor­ma­li­sie­rung und Posi­tio­nie­rung“ heißt der ers­te, qua­si pro­gram­ma­ti­sche, den die For­schungs­grup­pe gemein­sam zeich­net. Der Unter­ti­tel „Über Rech­te reden in rech­ten Zei­ten. Mit Rech­ten reden zur rech­ten Zeit?“ macht dann schon kla­rer, was in dem Bei­trag ver­han­delt wird: Wann und unter wel­chen Vor­aus­set­zun­gen kann man mit Rechts­extre­men eine öffent­li­che Debat­te füh­ren? FIPU reflek­tiert dabei auch die Ver­än­de­run­gen der Rah­men­be­din­gun­gen: 1991 hat der Ver­fas­sungs­ge­richts­hof die Wahl­an­fech­tung der Neo­na­zi-Lis­te „Nein zur Aus­län­der­flut““ des Gerd Hon­sik unter ande­rem mit der Begrün­dung zurück­ge­wie­sen, dass sie ein für die NSDAP typi­sches Pro­pa­gan­da-Voka­bu­lar ver­wen­det habe, und führ­te als Bei­spiel dafür die häu­fi­ge Ver­wen­dung des Begriffs „Über­frem­dung“ an. Nicht ein­mal zehn Jah­re spä­ter wur­de die Paro­le „Stop der Über­frem­dung!“ in Wien dann von der FPÖ „flä­chen­de­ckend pla­ka­tiert“. Zu die­sen Ver­än­de­run­gen der Rah­men­be­din­gun­gen gehört dann auch die von FIPU zitier­te zyni­sche Aus­sa­ge von Kanz­ler Kurz aus dem Jahr 2018: „Vie­les von dem, was ich heu­te sage, ist vor drei Jah­ren noch mas­siv kri­ti­siert und als rechts­ra­di­kal abge­tan wor­den, das hat sich geän­dert.

Was da in den ein­zel­nen Bei­trä­gen an Scheuß­lich­kei­ten oder Fund­stü­cken zu Tage geför­dert wird, lohnt allei­ne schon den Kauf des Büch­leins (19 €) im Pocket­for­mat, das mit sei­nen 300 Sei­ten gar nicht so schmal daher­kommt. Ein Bei­spiel noch? Mathi­as Lich­ten­wag­ner lie­fert in sei­nem Bei­trag „Koope­ra­ti­on, Kon­trol­le, Kor­rek­tiv“ (Unter­ti­tel: „Jour­na­lis­mus, Poli­zei­ar­beit und NS-Wie­der­be­tä­ti­gung“) nicht nur einen Über­blick über alle rele­van­ten Anti-NS-Geset­ze, son­dern vor allem Ein­bli­cke in die Anwen­dung die­ser Geset­ze durch die Poli­zei und ihre Ver­ar­bei­tung in poli­zei­li­chen Sta­tis­ti­ken. Da fin­det sich dann auch eine beson­de­re Per­le, mein per­sön­li­ches High­light: Ein Kärnt­ner Ver­fas­sungs­schüt­zer erklärt dem Lan­des­ge­richt Kla­gen­furt, dass die von dem Ange­klag­ten gezeig­te Hand­be­we­gung bei der rechts­extre­men Blei­burg-Fei­er 2017 nicht den Hit­ler­gruß, son­dern den deut­lich davon zu unter­schei­den­den „kroa­ti­schen Gruß“ dar­stel­le. Das Gericht zeigt sich irri­tiert und ver­tagt, um einen Sach­ver­stän­di­gen zu laden. Der, ein Pro­fes­sor an der Uni­ver­si­tät Zagreb, erklärt dem Gericht, dass es gar kei­nen eigen­stän­di­gen „kroa­ti­schen Gruß“ als Ges­te gebe, son­dern der Hit­ler­gruß 1941 1:1 vom faschis­ti­schen kroa­ti­schen NDH-Regime über­nom­men wur­de. Lich­ten­wag­ner bilan­ziert nüch­tern: „Der Kärnt­ner Ver­fas­sungs­schutz ging dem­nach über Jah­re fälsch­li­cher­wei­se davon aus, dass die wäh­rend des Tref­fens in Bleiburg/Pliberk gezeig­ten Hit­ler­grü­ße legal, jeden­falls nicht straf­bar, gewe­sen sei­en.

Wenn da nicht jemand im Gerichts­saal sitzt und auch sol­che Pas­sa­gen mit­schreibt, dann weiß die Öffent­lich­keit nichts davon. Gar nicht so sel­ten erfährt man nicht ein­mal, dass von einem Gericht ein Ver­fah­ren wegen NS-Wie­der­be­tä­ti­gung abge­han­delt wur­de – weil kei­ne Prozessberichterstatter*innen anwe­send waren. Die Grün­de für das man­geln­de Medi­en­in­ter­es­se nennt Mah­riah Zim­mer­mann in ihrem Bei­trag „Rechts­extre­mis­mus vor Gericht. Ver­ant­wor­tung und Leer­stel­len der Prozessberichterstattung“:

So sind Journalist_innen vor allem bei län­ger andau­ern­den Ver­fah­ren schon nach weni­gen Tagen nicht mehr anwe­send bezie­hungs­wei­se haben kaum die Mög­lich­keit, den gesam­ten Tag im Gericht zu ver­brin­gen. (…) Die­se begrenz­ten Res­sour­cen füh­ren zu einer Vor­auswahl und damit zur Ein­schrän­kung der öffent­li­chen Wahr­neh­mung.

Die Kon­se­quen­zen begrenz­ter Res­sour­cen einer­seits und einer auf Zuspit­zung und Sen­sa­ti­on ori­en­tier­ten Bericht­erstat­tung las­sen sich etwa auch an unse­rer Wochen­schau für die Vor­wo­che gut nach­voll­zie­hen: Berich­te über den Pro­zess gegen mit dem IS sym­pa­thi­sie­ren­den Tsche­tsche­nen, der wegen Betei­li­gung an einer ter­ro­ris­ti­schen Ver­ei­ni­gung, aber auch wegen Wie­der­be­tä­ti­gung und Kin­der­por­no­gra­phie vor Gericht stand, fan­den sich in fast allen öster­rei­chi­schen Tages­zei­tun­gen, wäh­rend etwa über die ins­ge­samt zehn Per­so­nen an vier Tagen umfas­sen­de Pro­zess­se­rie wegen Wie­der­be­tä­ti­gung in Salz­burg kaum und nur sehr dürr berich­tet wurde.

Dar­um ist die Arbeit von „prozess.report“ und ande­ren unab­hän­gi­gen Prozessberichterstatter*innen, deren Rah­men­be­din­gun­gen in die­sem Bei­trag dar­ge­stellt wer­den, auch so wich­tig. Dazu pas­send auch der Bei­trag von Dirk Müll­ner und der Anti­fa­schis­ti­schen Recher­che Graz, „Gret­chen­fra­ge Anti­fa. Zum ambi­va­len­ten Umgang von Journalist*innen mit Anti­fa-Recher­chen“, in dem es um die nicht immer frik­ti­ons­freie Bezie­hung zwi­schen dem Jour­na­lis­mus klas­si­scher Medi­en und der zumeist lang­wie­ri­gen und inten­si­ven Arbeit von anti­fa­schis­ti­schen Recher­che­platt­for­men geht, die dann immer wie­der mal die Erfah­rung machen muss­ten, „dass sich ihre Recher­chen ohne Quel­len­an­ga­be meh­re­re Mona­te spä­ter in Tages­zei­tun­gen wie­der­fan­den“. Die­se Erfah­rung tei­len auch wir von SdR.

War­um Anti­fa-Grup­pen „unge­ach­tet der oft hohen Qua­li­tät ihrer Recher­che“ oft­mals nur der Sta­tus von Schmud­del­kin­dern zuge­schrie­ben wird, die man am bes­ten unter den Tisch fal­len lässt, das erklä­ren Müll­ner und die Anti­fa­schis­ti­sche Recher­che Graz ziem­lich gut. Was dabei etwas zu kurz kommt, ist der Hin­weis, war­um eine brei­te öffent­li­che Wahr­neh­mung von Anti­fa-Recher­che und ‑Arbeit für die­se oft sehr spe­zia­li­sier­ten Grup­pen essen­zi­ell ist. Das beinhal­tet die per­so­nel­len, poli­ti­schen und mate­ri­el­len Repro­duk­ti­ons­mög­lich­kei­ten sol­cher Grup­pen, aber auch schlicht und ein­fach Beach­tung, Aner­ken­nung und (Aus-) Wir­kun­gen die­ser Arbeit.

Das alles neh­men wir auch für uns in Anspruch. Wenn dann – etwa im eben­falls lesens­wer­ten Bei­trag von Judith Goetz über „Rechts­extre­mis­mus und Medi­en“ – aber nur die klas­si­schen Medi­en “pro­fil“ und „standard.at“ mit ihren Berich­ten über die mas­si­ven Pla­gia­te bei „Info-Direkt“ zitiert wer­den, obwohl sich bei­de Berich­te (dan­kens­wer­ter­wei­se!) auf die umfang­rei­che Recher­che­ar­beit von „Stoppt die Rech­ten“ bezo­gen, dann ist das viel­leicht ein Indiz dafür, dass die Repu­ta­ti­on von klas­si­schen Medi­en als zita­ble Quel­len auch in Anti­fa-Krei­sen manch­mal mehr zählt als die Recher­che selbst.

Info-Direkt philosophiert über „Heimat, Umwelt und Identität” und bedient sich dafür bei den Arbeitsblättern für SchülerInnen von ARD/rbb (links: Info-Direkt, rechts: ARD-Homepage „Mach dich schlau!”)

aus der Recher­che 2017: Info-Direkt phi­lo­so­phiert über „Hei­mat, Umwelt und Iden­ti­tät” und bedient sich dafür bei den Arbeits­blät­tern für Schü­le­rIn­nen von ARD/rbb (links: Info-Direkt, rechts: ARD-Home­page „Mach dich schlau!”)

Rechts­extre­mis­mus. Band 4: Her­aus­for­de­run­gen für den Jour­na­lis­mus. Her­aus­ge­ge­ben von Judith Goetz, FIPU & Mar­kus Sulz­bach­er. Man­del­baum Ver­lag, edi­ti­on kri­tik & uto­pie, Wien, Ber­lin 2021.

Inhalts­ver­zeich­nis

9  Ein­lei­tung
16  Ent­nor­ma­li­sie­rung und Posi­tio­nie­rung. Über Rech­te reden in rech­ten Zei­ten. Mit Rech­ten reden zur rech­ten Zeit? (For­schungs­grup­pe Ideo­lo­gien und Poli­ti­ken der Ungleichheit)
30  Rechts­extre­mis­mus und Medi­en. Ein ein­füh­ren­der Über­blick (Judith Goetz)
52  Unge­woll­te Kom­pli­zen­schaft. Über gän­gi­ge Fall­stri­cke in der media­len Bear­bei­tung von Rechts­extre­mis­mus (Bern­hard Weidinger)
72  Der stil­le Pakt (Mar­kus Sulzbacher)
88  Pro­vo­ka­tio­nen, Ängs­te, Kata­stro­phen. Das rechts­extre­me und rechts­po­pu­lis­ti­sche Spiel mit den Medi­en (Bri­git­te Bailer)
105  »… in die media­le Debat­te ein­drin­gen«. Iden­ti­tä­re Selbst­in­sze­nie­run­gen und ihre Rezep­ti­on durch öster­rei­chi­sche Medi­en (Judith Goetz)
136  Die rech­te Erobe­rung des Cyber­space (Ingrid Brodnig)
156 Ver­schwö­rungs­my­then in den Medi­en. Die (Un-)Möglichkeiten der Bericht­erstat­tung (Flo­ri­an Zeller)
177  Zwi­schen Ein­he­gung und Dro­hun­gen. Rechts­extre­me Umgangs­for­men mit Journalist*innen (Fabi­an Schmid)
194  »Beau­tys lieben’s blau«. Zum Sexis­mus in der Bericht­erstat­tung über rech­te Frau­en am Bei­spiel von Phil­ip­pa Stra­che (Bian­ca Kämpf)
211  Rechts­extre­mis­mus vor Gericht. Ver­ant­wor­tung und Leer­stel­len der Pro­zess­be­richt­erstat­tung (Mah­riah Zimmermann)
236  Koope­ra­ti­on, Kon­trol­le, Kor­rek­tiv. Jour­na­lis­mus, Poli­zei­ar­beit und NS-Wie­der­be­tä­ti­gung (Mathi­as Lichtenwagner)
254  Gret­chen­fra­ge Anti­fa. Zum ambi­va­len­ten Umgang von Journalist*innen mit Anti­fa-Recher­chen (Anti­fa­schis­ti­sche Recher­che Graz, Dirk Müllner)
282  Beharr­li­che Bil­der. Bild­spra­che und Rechts­extre­mis­mus­prä­ven­ti­on (Andre­as Hechler)
298 Zur Ana­to­mie rech­ter Shit­s­torms und wie eins sich dage­gen weh­ren kann (Fan­ny Rasul)
314  Kurzbiografien