Für das Dossier „Die braune Internationale“ (Paywall!) in „Die Zeit“ recherchierten verschiedene Journalist*innen über acht Monate:
Sie gingen den Spuren des Neonazis Fabian D. in der süddeutschen Provinz nach, besuchten den Vordenker der Bewegung, James Mason, zu Hause in Denver und kontaktierten den Chef der Neonazi-Gruppe The Base. Aus Russland und den Niederlanden arbeiteten freie Kollegen dem Team zu; der kanadische Reporter Ryan Thorpe, der zeitweise undercover Zugang zum internen Chat von The Base hatte, teilte einige seiner Informationen.
Der US-Amerikaner James Mason ist für die braune Internationale ein Anziehungs- und Anknüpfungspunkt: Der gewaltaffine, mehrfach wegen Kinderpornographie, Misshandlung Minderjähriger und anderer Gewaltdelikte verurteilte Rechtsextremist veröffentlichte 1992 das Buch „Siege“ (auf Deutsch „Belagerung“), in dem Nazi-Newsletter aus mehreren Jahren gesammelt publiziert wurden. Masons Buch gilt als Bibel für rechtsterroristische Gruppierungen wie etwa die auch in Europa aktive „Atomwaffen Division“. Er postuliert darin einen Strategiewechsel innerhalb der Rechtsextremen: hin von hierarchisch aufgebauten Organisationen zum Konzept von regionalen Gruppen („Zellen“) bis zu Einzelkämpfern. Sie alle eint das rassistische Phantasma, die weiße Rasse weltweit verteidigen zu müssen.
Die 2015 von Amerikanern gegründete Neonazi-Gruppe „Atomwaffen Division“ (AWD) ist eine der härtesten Neonazi-Gruppierungen weltweit, in den USA werden AWD-Anhängern fünf Morde angelastet. Sie ist stark von der Idee des führerlosen Widerstands geprägt, die James Mason propagiert hat. Die AWD unterhält Ableger quer über Europa – auch in Österreich wurden bereits Propaganda-Aufkleber gefunden. Sie wurde zwar 2020 offiziell in den USA aufgelöst, tauchte jedoch unter einem anderen Namen wieder auf: National Socialist Order. „»Ein Name verschwindet, und du suchst dir einen anderen. So, wie man seine Unterwäsche wechselt«, sagt Mason.“
Eine zentrale Rolle für neonazistische Netzwerke spielen ukrainische Organisationen wie das 2014 gegründete paramilitärische Asow-Bataillon, das internationale Söldner versammelt, die in den Ukraine-Krieg zogen oder es zumindest geplant hatten.
Der Krieg in der Ukraine (…) sei für Rechtsextreme heute das, was Afghanistan in den 1980ern und 1990ern für Dschihadisten war. Damals gingen Gotteskrieger aus vielen Ländern an den Hindu- kusch und kämpften gegen die von der Sowjetunion unterstützten säkularen Machthaber. Einer von ihnen war Osama bin Laden. Aus einem harten Kern von Fanatikern formte er Al-Kaida. Der Krieg am Hindukusch war so etwas wie der Urknall für den islamistischen Terror des 21. Jahrhunderts.
Tatsächlich lassen sich einige Parallelen zwischen rechtsextremen Organisationen und Al Kaida finden. „Die Zeit“ nennt die in den USA gegründete und mit internationalen Ablegern agierende Neonnazi-Gruppe „The Base“ – nach Eigendefinition eine Plattform für Selbstverteidigung, aber angelehnt
an Al-Kaida, deren Name ebenfalls »die Basis« bedeutet. Kleine, autonome Zellen. Möglichst viele Standorte. Obligatorisches paramilitärisches Training. »Afghanistan ist ein gutes Beispiel dafür, wie eine vereinigende Ideologie militärisch nutzbar gemacht wurde«, hieß es zeitweise auf einem Base-Account auf Twitter. The Base sei besser als Al-Kaida und der »Islamische Staat«, prahlte ein Mitglied.
„Die Zeit“ erwähnt auch Olena Semenyaka, die als internationalen Sekretärin eine führende Rolle innerhalb von Asow und dessen internationale Vernetzung spielt – das ist jene Frau, die für das erste Halbjahr 2021 am Wiener Institut die Wissenschaften vom Menschen (IWM) ein Stipendium erhalten hätte sollen. Erst als das über Twitter publik und heftig kritisiert wurde, hat man am Institut die Reißleine gezogen und Semenyaka, die sich bereits in Wien aufgehalten hatte, wieder ausgeladen.
Eine international bekannte Neonazi-Frau als Stipendiatin des @IWM_Vienna? Das sollte aber sehr schnell geklärt werden!
(via @lindakreu) https://t.co/YxjmytnZHQ
— stopptdierechten.at (@stopptrechte) January 11, 2021
Die Fronten haben sich im Vergleich zum nationalsozialistischen Freund-Feind-Schema verschoben: Heute sind es östliche Staaten, die in der NS-Zeit noch als slawische Untermenschen figurierten, in die Rechtsextremisten pilgern – Russland sei dabei, so „Die Zeit“, zum „Sehnsuchtsort“ geworden, „ein Bollwerk gegen den Westen, gegen Verweichlichung und Migration“. Der Russe Denis Gariew unterhält in St. Petersburg ein Ausbildungszentrum, in dem „patriotische Gesinnte“ Kriegsspiele trainieren – auch aus dem Westen. „In St. Petersburg redet Gariew offen über seine Rolle. Er sagt: »Wir sind die einzige Organisation mit starken, professionellen Verbindungen zu Rechten auf der ganzen Welt.«“
Worin besteht nun die neue Gefahr, die die Autor*innen orten? Dass sich Neonazis weltweit in einer braun geprägten Ideologie verbünden, die sich noch vor nicht allzu langer Zeit aufgrund nationaler Ressentiments feindlich gegenüber gestanden wären. Ein Resultat: „Das Counter-Terrorism Committee des UN-Sicherheitsrats stellt fest, dass es von 2015 bis 2020 bei der Zahl der rechtsterroristischen Angriffe weltweit einen steilen Anstieg gegeben habe: plus 320 Prozent.“
Alle Zitate aus „Die Zeit“, No 7, 11. Februar 2021
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