Die Dossiers der „Weisen von Ibiza“. Oder: ein Lehrstück über Antisemitismus

Lesezeit: 4 Minuten

Heu­te, am 75. Jah­res­tag der Befrei­ung des KZ Maut­hau­sen, gibt’s anstatt war­mer Wor­te des Mah­nens – deren hören und lesen wir genug – ein bei­spiel­haf­tes Zeug­nis für den laten­ten Anti­se­mi­tis­mus in Öster­reich. Die bei Heinz-Chris­ti­an Stra­che auf­ge­fun­de­nen Dos­siers sind gera­de­zu ein Lehr­stück über eine zusam­men­ge­zim­mer­te jüdisch-frei­mau­re­ri­sche Ver­schwö­rungs­cli­que, die den Ex-Vize­kanz­ler stür­zen sollte.

Bür­ger­meis­ter von Wien will er wer­den, hat Heinz-Chris­ti­an Stra­che vor eini­gen Tagen in einer Pres­se­kon­fe­renz hin­aus­ge­bla­sen. Ob das ange­sichts der Umfra­ge­wer­te von rund fünf Pro­zent zum Lachen oder nur zum Kopf­schüt­teln ist, bleibt den Leser*innen über­las­sen. Kei­nes­wegs amü­sant sind jedoch Doku­men­te, über die „Der Stan­dard“ berich­tet und die uns eben­falls in klei­nen Aus­zü­gen vor­lie­gen. Dem­nach sei­en im Zuge einer Haus­durch­su­chung in Stra­ches Klos­ter­neu­bur­ger Domi­zil „dut­zen­de Dos­siers“ sicher gestellt wor­den, in denen eine Fein­des­welt zusam­men­bas­telt ist, die hin­ter Stra­ches über Ibi­za ange­peil­ten Sturz ste­hen soll. Im Unter­schied zu den Erkennt­nis­sen von Poli­zei und Staats­an­walt­schaft fokus­sie­ren sich Stra­ches Akten aber auf eine Ver­schwö­rung, an deren Spit­ze die Israe­li­ti­sche Kul­tus­ge­mein­de (IKG), die ÖVP und ‚Frei­mau­rer’ gese­hen werden.“

Verschwörungsorganigramm: ÖVP, BVT, Oligarchen, Freimaurer, IKG (Foto: Der Standard)

Ver­schwö­rungs­or­ga­ni­gramm: ÖVP, BVT, Olig­ar­chen, Frei­mau­rer, IKG (Foto: Der Stan­dard)

Viel unver­hoh­le­ner geht der Aus­druck von his­to­risch ver­wur­zel­tem Anti­se­mi­tis­mus gar nicht mehr. Die nach­weis­lich gefälsch­ten „Pro­to­kol­le der Wei­sen von Zion gel­ten als Ursprung einer her­bei­i­ma­gi­nier­ten frei­er­mau­re­ri­schen-jüdi­schen Ver­schwö­rungs­cli­que, die die Welt­herr­schaft an sich rei­ßen wol­le. Die­ses Pam­phlet dien­te als zen­tra­ler Bau­stein für die anti­se­mi­ti­sche Pro­pa­gan­da des Natio­nal­so­zia­lis­mus, die bekann­ter­ma­ßen direkt in den Holo­caust geführt hat.

Nun knüp­fen die bei Stra­che auf­ge­fun­de­nen Dos­siers der „Wei­sen von Ibi­za“ genau an wesent­li­che Ele­men­te aus den „Pro­to­kol­len“ an: Sie set­zen Orga­ni­sa­tio­nen und Insti­tu­tio­nen an die Spit­ze jenes Netz­werks, das Stra­che angeb­lich zu Fall gebracht haben soll. Wir fin­den am Kopf eines Orga­ni­gramms „Frei­mau­rer“ und „IKG“ kom­bi­niert mit „Olig­ar­chen“ und der ÖVP Nie­der­ös­ter­reich, was denn auch sug­ge­riert, es habe ein mit­ein­an­der viel­fach ver­wo­be­nes insti­tu­tio­nel­les Gefü­ge Inter­es­se dar­an gehabt, Stra­che zu stür­zen. Die IKG erscheint hier als eine Schalt­stel­le, die zu zen­tra­len Akteu­ren füh­ren soll. Man kann aus der Lek­tü­re zahl­rei­cher spe­ku­la­ti­ver Arti­kel und State­ments wenigs­tens zum Teil ahnen, wel­che Namen in dem Orga­ni­gramm auftauchen.

Straches deformierte Persönlichkeit

Mit welch heim­tü­cki­schen Mit­teln die­ses Ver­schwö­rer­netz­werk auf Ibi­za gear­bei­tet haben soll, offen­bart Stra­che in einem News-Interview:

Im Nach­hin­ein sagt ja jeder Exper­te, mit dem ich mich aus­tausch­te, dass die Art und Wei­se, wie ich dort über­trie­ben ges­ti­ku­lie­re und arti­ku­lie­re, kein allei­nig berausch­ter Zustand war. Jeder, der das Video ganz gese­hen hat, sagt, dass die ers­ten Stun­den völ­lig nebu­lös und fad waren, bis dann das gewirkt hat, was mir die­se Herr­schaf­ten offen­bar unter­ju­bel­ten, um mich dort hin­zu­be­kom­men, wo sie mich haben woll­ten. Ich hat­te wäh­rend der gan­zen Ent­wick­lung stets das Gefühl: „Ich will jetzt gehen!“, aber ich konn­te nicht – ich konn­te nicht und weiß nicht, war­um. (News, Nr. 18/2020, S. 20)

Stra­ches Per­sön­lich­keit wur­de also defor­miert, ver­mut­lich mit Ecsta­sy in Trop­fen oder liquide[m] Koka­in“, wie er anfügt. Als Kron­zeu­gin führt Stra­che sei­ne Mut­ter an, die, damals eben­falls auf Ibi­za wei­lend, bei sei­ner früh­mor­gend­li­chen Heim­kehr von sich gege­ben haben soll: „In so einem Zustand habe ich dich noch nie erlebt.“ Wenn das die eige­ne Mut­ter sagt, muss es ja stimmen!


Wir fas­sen zusam­men: Ein ver­schla­ge­nes Netz­werk aus einer jüdisch-frei­mau­re­ri­schen Olig­ar­chen­ecke mit ÖVP-Betei­li­gung hat Stra­che in den Hin­ter­halt gelockt, ihm Dro­gen ein­ge­flößt, sodass er völ­lig unschul­dig zu den Aus­sa­gen hin­ge­lang­te, die wir aus dem Ibi­za-Video ken­nen. Es war nicht Stra­che, der dort gespro­chen hat, es war eine ande­re Persönlichkeit.

… soll Jude sein

Über die ver­mu­te­ten Hin­ter­män­ner ist in den Dos­siers zu lesen: „XY ist stark ver­wur­zelt in der IKG … XX, der mit Sil­ber­stein gear­bei­tet hat … XZ soll (…) Jude sein … auch XZ wird eine Mit­glied­schaft in der IKG nach­ge­sagt“. Dazu Ergüs­se wie  „im Sold“ ste­hen­de Akteu­re, ein „Kopf­geld“, das auf Stra­che aus­ge­setzt wor­den sei, über angeb­li­che Frei­mau­rer in Ver­bin­dung mit einem inter­na­tio­nal ver­zweig­ten Olig­ar­chen-Netz­werk, das denn auch zur IKG füh­ren soll.

Aus dem Ibiza-Dossier über angebliche Hintermänner: verwurzelt in der IKG, Silberstein, soll Jude sein, Kopfgeld ...

Aus dem Ibi­za-Dos­sier über angeb­li­che Hin­ter­män­ner: ver­wur­zelt in der IKG, Sil­ber­stein, soll Jude sein, Kopfgeld …

Aus dem Ibiza-Dossier über angebliche Hintermänner: Freimaurer, Oligarchen ...

Aus dem Ibi­za-Dos­sier über angeb­li­che Hin­ter­män­ner: Frei­mau­rer, Oligarchen …

Stra­ches Anwalt gibt an, die­se Schrift­stü­cke sei­en dem gefal­le­nen Vize­kanz­ler und Ex-Par­tei­ob­mann „zuge­spielt“ wor­den: „Sie sind Gegen­stand von Ermitt­lun­gen und wer­den von ihm nicht bewer­tet“ (Stan­dard), lesen wir. Aber irgend­wann wird dem selbst­er­nann­ten Bür­ger­meis­ter­an­wär­ter Stra­che sicher eine Bewer­tung in Form einer Distan­zie­rung von die­sem anti­se­mi­ti­schen Dreck ent­kom­men, irgend­wann, oder?