Oskar Deutsch: Schon wieder „nie wieder“?

Oskar Deutsch, Präsi­dent der Israelitis­chen Kul­tus­ge­meinde (IKG) hat bei der Gedenk­feier am 5.5.2019 in Mau­thausen eine starke, klare und lei­den­schaftliche Rede gehal­ten. Mit sein­er Rede wider­legt er auch indi­rekt jene Kri­tik­er, die der Mei­n­ung sind, die Verbindung von Kri­tik an den poli­tis­chen Zustän­den mit dem Gedenken sei beson­ders in Mau­thausen eine Entehrung der Opfer. Wir danken Oskar Deutsch für seine Zus­tim­mung zur Wieder­gabe sein­er Rede.

Schon wieder „nie wieder“ ins Denkmal graviert
Schon wieder „nie wieder“ an Schulen rezitiert
Schon wieder „nie wieder“ ans Volk appelliert
Schon wieder „nie wieder“ als Norm definiert
Doch wieder und wieder wird Hass akzep­tiert

Diese Zeilen stam­men aus einem Lied des Wiener Musik­ers David Rubin. Lei­der ist es keine kün­st­lerische Zuspitzung.
Lei­der hat er recht! 

Jahr für Jahr ste­hen wir hier an einem Ort des Schreck­ens. Wir erin­nern. Wir ehren die Toten und die Über­leben­den. Wir danken den Befreiern und Ret­tern. Und wieder und wieder sagen wir „Nie wieder!“

Aber das, was zu Mau­thausen und den vie­len anderen Konzen­tra­tionslagern geführt hat, existiert weit­er: der Antisemitismus!

Die Shoah sind nicht nur die Gaskam­mern, Kre­ma­to­rien und Mas­sen­gräber. Die Shoah war möglich,
— weil Men­schen andere Men­schen für unwert erk­lärt haben.
— weil sie Vorurteile ver­bre­it­et haben, Hass wurde gesät.
— es fol­gte Abgren­zung und Ausgrenzung
— Die Ent­men­schlichung erfol­gte Schritt für Schritt – bis sechs Mil­lio­nen Jüdin­nen und Juden ermordet wurden.

Sehr geehrte Damen und Her­ren, liebe Fre­unde! Die Auseinan­der­set­zung mit der Ver­gan­gen­heit dient der Zukun­ft! Ger­ade hier und ger­ade jet­zt – am Jahrestag der Befreiung des KZ Mau­thausen sind wir es den 100.000 Todes­opfern dieses Lagers schuldig, die Dinge beim Namen zu nen­nen. Es waren Juden, Roma und Sin­ti, poli­tisch Ander­s­denk­ende, Kriegs­ge­fan­gene, Homo­sex­uelle – ihr Ver­brechen war ihre Exis­tenz. Und ihr Schick­sal mah­nt uns, auch heute wach­sam zu bleiben.

Weltweit ist eine Zunahme des Anti­semitismus zu verze­ich­nen. Er äußert sich sehr unter­schiedlich und kommt von ver­schiede­nen Richtungen. 

Lassen Sie mich klipp und klar sagen: Es gibt kein Ranking!
Recht­sex­treme, link­sex­treme oder islamistis­che Anti­semiten sind vor allem eines: Antisemiten.

Und Ter­ror­is­ten sind vor allem eines: Terroristen. 

Und poli­tis­che Pop­ulis­ten bere­it­en ihnen den Boden.
Die größten Pogrome, schon die im Mit­te­lal­ter eben­so wie die im Rus­s­land des 19. Jahrhun­dert oder jene im Nation­al­sozial­is­mus, wur­den durch bloße Gerüchte ausgelöst. 

Ich möchte die Worte des Philosophen Theodor Adorno in Erin­nerung rufen: „Anti­semitismus ist das Gerücht über den Juden.“ 

Solche Gerüchte wer­den heute nicht mehr nur von harm­losen Ran­der­schei­n­un­gen der Poli­tik ver­bre­it­et. Nein, es geschieht in Ungarn vom Premierminister,
in Polen von Regieren­den und auch in Öster­re­ich sind es Spitzen­vertreter ein­er Regierungspartei, die Ver­schwörungs­the­o­rien verbreiten. 

Diese Pop­ulis­ten haben etwas mit Mus­lim­brüdern gemein­sam: Mit ihren Ver­schwörungs­the­o­rien säen sie Hass. Und Hass tötet:

In Pitts­burgh in ein­er Synagoge,
in Christchurch in ein­er Moschee,
in Sri Lan­ka in Kirchen,
in San Diego in ein­er Synagoge. 

Ein­mal sind Juden das Ziel – weil sie Juden sind.
Dann sind es Mus­lime – weil sie Mus­lime sind.
Chris­ten wer­den ermordet – weil sie Chris­ten sind.

Damit keine Missver­ständ­nisse aufkom­men: Die Pop­ulis­ten in Europa und Ameri­ka sind keine Mörder! Sie sind nicht mit den Ter­ror­is­ten zu ver­gle­ichen. Auch nicht mit dem Ver­nich­tungsan­tisemitismus des iranis­chen Regimes.
— Ver­gle­ich­bar ist, dass sie alle den Anti­semitismus als poli­tis­che Waffe ver­ste­hen. Die einen bewusster, die anderen weil es tief in ihrer Ide­olo­gie ver­haftet ist. 

Simon Wiesen­thal und Leon Zel­man waren Gefan­gene in Mau­thausen. Ich bin davon überzeugt, dass sie bei­de uns dazu ermah­nen wür­den, Klar­text zu sprechen. Nicht nur über damals, son­dern über das hier und jet­zt. Für unsere Kinder und Enkelkinder. Für Öster­re­ich, für Europa. 

Sie wür­den uns auf­fordern, am 26. Mai wählen zu gehen! 

Was brin­gen uns die vie­len Befra­gun­gen und Stu­di­en der let­zten Monate, wenn daraus keine Lehren gezo­gen werden? 

Was brin­gen die roten Lin­ien wenn sie ständig übertreten wer­den – und keine Kon­se­quen­zen folgen? 

Früher sagten sie „Umvolkung“, heute nen­nen sie es „Bevölkerungsaus­tausch“.

Früher sagten sie „Roth­schild“, heute ist es „Soros“.

Früher sagten sie „Juden nach Palästi­na“, heute sagen sie „Juden raus aus Palästina“

„Der“ Jude oder Israel als Jude unter den Staat­en wird zum Sündenbock. 

In vie­len poli­tis­chen Parteien gab es Anti­semiten. Alle haben ihre Ver­gan­gen­heit und Ver­ant­wor­tung aufgear­beit­et – nur eine Partei tut sich immer noch schwer.
Diese Partei ist der blaue Schat­ten der Bun­desregierung — und der bur­gen­ländis­chen Landesregierung.
Dieser Schat­ten ver­dunkelt die Erfolge von ÖVP und SPÖ, aber auch die unmissver­ständlich antifaschis­tis­che Hal­tung von Neos, Grü­nen und anderen poli­tis­chen Kräften in unser­er Demokratie. Inner­halb der FPÖ gab es wohl auch Ver­suche, die braune Kruste des Drit­ten Lagers aufzubrechen. Bish­er ohne Erfolg.

In unser­er Gesellschaft – und fast über­all in Europa – gibt es auch den mus­lim­is­chen Anti­semitismus. Ein gewaltiges Problem!

Und obwohl vom Islamis­mus eine große Gefahr für Juden und für die west­liche Kul­tur der Frei­heit und Mod­erne ins­ge­samt aus­ge­ht, wer­den wir Mus­lime immer gegen Verunglimp­fung, Pauschal­isierung und Hass vertei­di­gen – das gilt eben­so für Chris­ten, Athe­is­ten, Homo­sex­uelle, und sämtliche andere Men­schen­grup­pen. Das ist eine Lehre aus der Shoah, das schulden wir den Mil­lio­nen von Toten.

Da gab es zum Beispiel eine bemerkenswerte Studie, die Par­la­mentspräsi­dent Wolf­gang Sobot­ka in Auf­trag gegeben hat. Ange­blich ergab sie, dass der tra­di­tionelle Anti­semitismus im Sinken sei und ein so genan­nter importiert­er Anti­semitismus befinde sich im Steigen. Das stimmt so nicht! Und das ist auch nicht das Ergeb­nis der Studie!

39 Prozent der Öster­re­ich­er sagen: „Die Juden beherrschen die inter­na­tionale Geschäftswelt.“
✔ 39 Prozent von fast 9 Mil­lio­nen Einwohnern
34 Prozent der Öster­re­ich­er sagen: „Die Israelis behan­deln die Palästi­nenser nicht anders als die Deutschen im 2. Weltkrieg die Juden.“
✔ 34 Prozent von fast 9 Mil­lio­nen Menschen.
36 Prozent sagen: „Juden ver­suchen einen Vorteil daraus zu ziehen, dass sie während der Nazi-Zeit Opfer waren.“
37 Prozent wollen nichts mehr über die Shoah hören.
19 Prozent sagen, dass Juden selb­st schuld an den Ver­fol­gun­gen waren.

Das sind alarmierende Zahlen. 

Der Hin­weis auf zusät­zliche Befra­gun­gen von Ara­bis­chsprachi­gen und Türkischsprachi­gen Öster­re­ich­ern, die seit min­destens 10 Jahren in Öster­re­ich leben, ist inter­es­sant. In diesen Grup­pen, zu denen wahrschein­lich über­wiegend Mus­lime und kop­tis­che Chris­ten zählen, sind die Ergeb­nisse noch schlimmer. 

Vor zehn Jahren lebten in Öster­re­ich weniger als 40.000 ara­bis­chsprachige Men­schen. Selb­st wenn 100% der Mei­n­ung sind, dass
— Juden die Welt beherrschen
— Die Israelis wie die Nazis seien
— Juden selb­st an der Ver­fol­gung schuld sind,

dann sind das noch immer weniger als 0,5 Prozent der Bevölkerung!

In aller Deut­lichkeit: Der mus­lim­is­che Anti­semitismus ist eine beson­ders große Bedro­hung, gegen die sich Jüdin­nen und Juden seit langer Zeit wehren müssen. 

„Alles hat seine Zeit“, ste­ht in der Tho­ra. Für unser Leben hier und jet­zt heißt das:

So lange immer der Anti­semitismus der anderen bekämpft wird, so lange wer­den wir nicht weiterkommen. 

Jed­er kann einen Beitrag zu Tikun Olam, zur Ret­tung der Welt, leis­ten. Begin­nen wir bei uns selb­st, unseren eige­nen Fam­i­lien und unseren eige­nen Parteien.
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