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Oskar Deutsch: Schon wieder „nie wieder“?

Oskar Deutsch, Prä­si­dent der Israe­li­ti­schen Kul­tus­ge­mein­de (IKG) hat bei der Gedenk­fei­er am 5.5.2019 in Maut­hau­sen eine star­ke, kla­re und lei­den­schaft­li­che Rede gehal­ten. Mit sei­ner Rede wider­legt er auch indi­rekt jene Kri­ti­ker, die der Mei­nung sind, die Ver­bin­dung von Kri­tik an den poli­ti­schen Zustän­den mit dem Geden­ken sei beson­ders in Maut­hau­sen eine Ent­eh­rung der Opfer. Wir […]

9. Mai 2019
- Bildquelle: Wikipedia/Dnalor 01, frei unter CC 3.0." width="300" height="221" /> Das ehemalige KZ Mauthausen soll - so der Angeklagte - für "Flüchtlinge" wiedereröffnet werden. Er sieht das heute als "an Bledsinn" - und geht straflos frei. - Bildquelle: Wikipedia/Dnalor 01, frei unter Creative Commons 3.0.

Schon wie­der „nie wie­der“ ins Denk­mal graviert
Schon wie­der „nie wie­der“ an Schu­len rezitiert
Schon wie­der „nie wie­der“ ans Volk appelliert
Schon wie­der „nie wie­der“ als Norm definiert
Doch wie­der und wie­der wird Hass akzep­tiert

Die­se Zei­len stam­men aus einem Lied des Wie­ner Musi­kers David Rubin. Lei­der ist es kei­ne künst­le­ri­sche Zuspitzung.
Lei­der hat er recht! 

Jahr für Jahr ste­hen wir hier an einem Ort des Schre­ckens. Wir erin­nern. Wir ehren die Toten und die Über­le­ben­den. Wir dan­ken den Befrei­ern und Ret­tern. Und wie­der und wie­der sagen wir „Nie wieder!“

Aber das, was zu Maut­hau­sen und den vie­len ande­ren Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern geführt hat, exis­tiert wei­ter: der Antisemitismus!

Die Sho­ah sind nicht nur die Gas­kam­mern, Kre­ma­to­ri­en und Mas­sen­grä­ber. Die Sho­ah war möglich,
— weil Men­schen ande­re Men­schen für unwert erklärt haben.
— weil sie Vor­ur­tei­le ver­brei­tet haben, Hass wur­de gesät.
— es folg­te Abgren­zung und Ausgrenzung
— Die Ent­mensch­li­chung erfolg­te Schritt für Schritt – bis sechs Mil­lio­nen Jüdin­nen und Juden ermor­det wurden.

Sehr geehr­te Damen und Her­ren, lie­be Freun­de! Die Aus­ein­an­der­set­zung mit der Ver­gan­gen­heit dient der Zukunft! Gera­de hier und gera­de jetzt – am Jah­res­tag der Befrei­ung des KZ Maut­hau­sen sind wir es den 100.000 Todes­op­fern die­ses Lagers schul­dig, die Din­ge beim Namen zu nen­nen. Es waren Juden, Roma und Sin­ti, poli­tisch Anders­den­ken­de, Kriegs­ge­fan­ge­ne, Homo­se­xu­el­le – ihr Ver­bre­chen war ihre Exis­tenz. Und ihr Schick­sal mahnt uns, auch heu­te wach­sam zu bleiben.

Welt­weit ist eine Zunah­me des Anti­se­mi­tis­mus zu ver­zeich­nen. Er äußert sich sehr unter­schied­lich und kommt von ver­schie­de­nen Richtungen. 

Las­sen Sie mich klipp und klar sagen: Es gibt kein Ranking!
Rechts­extre­me, links­extre­me oder isla­mis­ti­sche Anti­se­mi­ten sind vor allem eines: Antisemiten.

Und Ter­ro­ris­ten sind vor allem eines: Terroristen. 

Und poli­ti­sche Popu­lis­ten berei­ten ihnen den Boden.
Die größ­ten Pogro­me, schon die im Mit­tel­al­ter eben­so wie die im Russ­land des 19. Jahr­hun­dert oder jene im Natio­nal­so­zia­lis­mus, wur­den durch blo­ße Gerüch­te ausgelöst. 

Ich möch­te die Wor­te des Phi­lo­so­phen Theo­dor Ador­no in Erin­ne­rung rufen: „Anti­se­mi­tis­mus ist das Gerücht über den Juden.“ 

Sol­che Gerüch­te wer­den heu­te nicht mehr nur von harm­lo­sen Rand­er­schei­nun­gen der Poli­tik ver­brei­tet. Nein, es geschieht in Ungarn vom Premierminister,
in Polen von Regie­ren­den und auch in Öster­reich sind es Spit­zen­ver­tre­ter einer Regie­rungs­par­tei, die Ver­schwö­rungs­theo­rien verbreiten. 

Die­se Popu­lis­ten haben etwas mit Mus­lim­brü­dern gemein­sam: Mit ihren Ver­schwö­rungs­theo­rien säen sie Hass. Und Hass tötet:

In Pitts­burgh in einer Synagoge,
in Christ­church in einer Moschee,
in Sri Lan­ka in Kirchen,
in San Die­go in einer Synagoge. 

Ein­mal sind Juden das Ziel – weil sie Juden sind.
Dann sind es Mus­li­me – weil sie Mus­li­me sind.
Chris­ten wer­den ermor­det – weil sie Chris­ten sind.

Damit kei­ne Miss­ver­ständ­nis­se auf­kom­men: Die Popu­lis­ten in Euro­pa und Ame­ri­ka sind kei­ne Mör­der! Sie sind nicht mit den Ter­ro­ris­ten zu ver­glei­chen. Auch nicht mit dem Ver­nich­tungs­an­ti­se­mi­tis­mus des ira­ni­schen Regimes.
— Ver­gleich­bar ist, dass sie alle den Anti­se­mi­tis­mus als poli­ti­sche Waf­fe ver­ste­hen. Die einen bewuss­ter, die ande­ren weil es tief in ihrer Ideo­lo­gie ver­haf­tet ist. 

Simon Wie­sen­thal und Leon Zel­man waren Gefan­ge­ne in Maut­hau­sen. Ich bin davon über­zeugt, dass sie bei­de uns dazu ermah­nen wür­den, Klar­text zu spre­chen. Nicht nur über damals, son­dern über das hier und jetzt. Für unse­re Kin­der und Enkel­kin­der. Für Öster­reich, für Europa. 

Sie wür­den uns auf­for­dern, am 26. Mai wäh­len zu gehen! 

Was brin­gen uns die vie­len Befra­gun­gen und Stu­di­en der letz­ten Mona­te, wenn dar­aus kei­ne Leh­ren gezo­gen werden? 

Was brin­gen die roten Lini­en wenn sie stän­dig über­tre­ten wer­den – und kei­ne Kon­se­quen­zen folgen? 

Frü­her sag­ten sie „Umvol­kung“, heu­te nen­nen sie es „Bevöl­ke­rungs­aus­tausch“.

Frü­her sag­ten sie „Roth­schild“, heu­te ist es „Sor­os“.

Frü­her sag­ten sie „Juden nach Paläs­ti­na“, heu­te sagen sie „Juden raus aus Palästina“

„Der“ Jude oder Isra­el als Jude unter den Staa­ten wird zum Sündenbock. 

In vie­len poli­ti­schen Par­tei­en gab es Anti­se­mi­ten. Alle haben ihre Ver­gan­gen­heit und Ver­ant­wor­tung auf­ge­ar­bei­tet – nur eine Par­tei tut sich immer noch schwer.
Die­se Par­tei ist der blaue Schat­ten der Bun­des­re­gie­rung — und der bur­gen­län­di­schen Landesregierung.
Die­ser Schat­ten ver­dun­kelt die Erfol­ge von ÖVP und SPÖ, aber auch die unmiss­ver­ständ­lich anti­fa­schis­ti­sche Hal­tung von Neos, Grü­nen und ande­ren poli­ti­schen Kräf­ten in unse­rer Demo­kra­tie. Inner­halb der FPÖ gab es wohl auch Ver­su­che, die brau­ne Krus­te des Drit­ten Lagers auf­zu­bre­chen. Bis­her ohne Erfolg.

In unse­rer Gesell­schaft – und fast über­all in Euro­pa – gibt es auch den mus­li­mi­schen Anti­se­mi­tis­mus. Ein gewal­ti­ges Problem!

Und obwohl vom Isla­mis­mus eine gro­ße Gefahr für Juden und für die west­li­che Kul­tur der Frei­heit und Moder­ne ins­ge­samt aus­geht, wer­den wir Mus­li­me immer gegen Ver­un­glimp­fung, Pau­scha­li­sie­rung und Hass ver­tei­di­gen – das gilt eben­so für Chris­ten, Athe­is­ten, Homo­se­xu­el­le, und sämt­li­che ande­re Men­schen­grup­pen. Das ist eine Leh­re aus der Sho­ah, das schul­den wir den Mil­lio­nen von Toten.

Da gab es zum Bei­spiel eine bemer­kens­wer­te Stu­die, die Par­la­ments­prä­si­dent Wolf­gang Sobot­ka in Auf­trag gege­ben hat. Angeb­lich ergab sie, dass der tra­di­tio­nel­le Anti­se­mi­tis­mus im Sin­ken sei und ein so genann­ter impor­tier­ter Anti­se­mi­tis­mus befin­de sich im Stei­gen. Das stimmt so nicht! Und das ist auch nicht das Ergeb­nis der Studie!

39 Pro­zent der Öster­rei­cher sagen: „Die Juden beherr­schen die inter­na­tio­na­le Geschäftswelt.“
✔ 39 Pro­zent von fast 9 Mil­lio­nen Einwohnern
34 Pro­zent der Öster­rei­cher sagen: „Die Israe­lis behan­deln die Paläs­ti­nen­ser nicht anders als die Deut­schen im 2. Welt­krieg die Juden.“
✔ 34 Pro­zent von fast 9 Mil­lio­nen Menschen.
36 Pro­zent sagen: „Juden ver­su­chen einen Vor­teil dar­aus zu zie­hen, dass sie wäh­rend der Nazi-Zeit Opfer waren.“
37 Pro­zent wol­len nichts mehr über die Sho­ah hören.
19 Pro­zent sagen, dass Juden selbst schuld an den Ver­fol­gun­gen waren.

Das sind alar­mie­ren­de Zahlen. 

Der Hin­weis auf zusätz­li­che Befra­gun­gen von Ara­bisch­spra­chi­gen und Tür­kisch­spra­chi­gen Öster­rei­chern, die seit min­des­tens 10 Jah­ren in Öster­reich leben, ist inter­es­sant. In die­sen Grup­pen, zu denen wahr­schein­lich über­wie­gend Mus­li­me und kop­ti­sche Chris­ten zäh­len, sind die Ergeb­nis­se noch schlimmer. 

Vor zehn Jah­ren leb­ten in Öster­reich weni­ger als 40.000 ara­bisch­spra­chi­ge Men­schen. Selbst wenn 100% der Mei­nung sind, dass
— Juden die Welt beherrschen
— Die Israe­lis wie die Nazis seien
— Juden selbst an der Ver­fol­gung schuld sind,

dann sind das noch immer weni­ger als 0,5 Pro­zent der Bevölkerung!

In aller Deut­lich­keit: Der mus­li­mi­sche Anti­se­mi­tis­mus ist eine beson­ders gro­ße Bedro­hung, gegen die sich Jüdin­nen und Juden seit lan­ger Zeit weh­ren müssen. 

„Alles hat sei­ne Zeit“, steht in der Tho­ra. Für unser Leben hier und jetzt heißt das:

So lan­ge immer der Anti­se­mi­tis­mus der ande­ren bekämpft wird, so lan­ge wer­den wir nicht weiterkommen. 

Jeder kann einen Bei­trag zu Tikun Olam, zur Ret­tung der Welt, leis­ten. Begin­nen wir bei uns selbst, unse­ren eige­nen Fami­li­en und unse­ren eige­nen Parteien.
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