Die Studie der Grundrechteagentur ist nicht die einzige, die sich in den letzten Monaten mit dem Vormarsch von Antisemitismus in Europa beschäftigt hat. Im Sommer 2018 ist die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft über vier Jahre lang geförderte Langzeitstudie „Antisemitismus 2.0 und die Netzkultur des Hasses“ (Deutsche Forschungsgemeinschaft Kurzfassung) veröffentlicht worden, bei der über 66.000 Webseiten samt ihrer Kommentarspalten analysiert wurden. „Niederschmetternd“ nannte die „Süddeutsche Zeitung“ das Fazit dieser Untersuchung:
„Über zehn Jahre wurden ein exorbitanter Anstieg wie eine Intensivierung und Radikalisierung von Antisemitismen registriert. So hat sich zwischen 2007und 2017die Anzahl der antisemitischen Online-Kommentare dramatisch vervielfacht. Es gibt kaum noch einen Diskursbereich im Netz, in dem Nutzer nicht Gefahr laufen, auf antisemitische Texte, Bilder, Filme und/oder Songs zu stoßen, auch wenn sie gar nicht aktiv danach suchen. Denn man findet den Unflat längst auch in völlig themenfremden Diskussionsforen oder auf ansonsten unverdächtigen Ratgeberseiten.“
Der methodische Ansatz dieser Studie, die linguistische Analyse einer Unzahl von Texten im Netz, unterscheidet sich deutlich von der empirischen Befragung von 7.000 Personen in Europa, die der US-Sender CNN in Auftrag gegeben und im November dieses Jahres veröffentlicht hat (CNN „Antisemitismus in Europa“). Aus Österreich wurden mehr als 1.000 Personen interviewt – mit überwiegend erschreckenden Ergebnissen. So ist Österreich „führend“ unter den sieben befragten Ländern (neben D, F, GB, Ungarn, Polen, Schweden) bei der Zahl jener, die sagen, dass sie nur sehr wenig über den Holocaust wissen: 4 von 10 Österreichern antworten so. 12 Prozent der jungen Menschen 18–34 Jahre) geben an, dass sie noch nie etwas vom Holocaust gehört haben.
Während zwei Drittel der Befragten insgesamt der Meinung sind, dass die Erinnerung an den Holocaust dabei helfen kann, dass solche Gräueltaten in Zukunft nicht mehr passieren können, gibt in Österreich, Deutschland, Polen und Ungarn mehr als ein Drittel an, dass das Erinnern an den Holocaust von anderen Gräueltaten ablenkt . Da ist es nicht mehr weit zum klassischen Antisemitismus, der ebenfalls in Österreich, Frankreich und Deutschland besonders stark ausgeprägt ist, wo ein Viertel der Befragten der Ansicht ist, dass Juden einen großen Einfluss auf Kriege und Konflikte haben. Dazu passt auch der hohe Anteil jener aus Österreich (ein Drittel), die der Ansicht sind, dass Juden einen großen Einfluss im Finanzbusiness hätten (höher ist dieser Anteil nur mehr in Polen und Ungarn, wo 4 von 10 Befragten dieser Ansicht sind) – die klar antisemitische Kampagne gegen George Soros schlägt sich hier deutlich nieder.
Die für Österreich überwiegend alarmierenden Ergebnisse der CNN-Befragung werden durch die Studie der FRA ergänzt, die sich auf die Wahrnehmungen von mehr als 16.000 Jüdinnen und Juden aus den 12 Mitgliedsstaaten der EU stützt, in denen mehr als 96 Prozent der jüdischen Bevölkerung leben. Da schneidet Österreich – im Vergleich mit anderen Ländern – nicht so schlecht ab. Wobei das auch relativ zu sehen ist. Auf die Frage, „Wie hat sich der Grad an Antisemitismus in den vergangenen fünf Jahren geändert?“, geben für Österreich „nur“ 33 Prozent der Befragten eine starke Zunahme an (Frankreich 77%, Polen 61%), während 20 Prozent in Österreich der Meinung sind, dass der Grad an Antisemitismus gleich geblieben sei. Wie stark entwickelt der Antisemitismus am Ausgangspunkt war, bleibt dabei natürlich offen.
Verwunderlich ist, dass der Antisemitismus in Internet und sozialen Medien in Ungarn als deutlich niedriger wahrgenommen wird als im europäischen Durchschnitt. Was Österreich betrifft, so fällt auf, dass die Wahrnehmung, wonach ernsthafte antisemitische Vorfälle zu einem guten Drittel (35 Prozent) auf Personen mit „muslimischen extremistischen Ansichten“ und „nur“ zu 25 Prozent auf Personen mit rechtsextremer Ideologie zurückzuführen sind, mit den Ergebnissen des Antisemitismusberichts 2017 des „Forum gegen Antisemitismus“ (FGA) kontrastiert (1), der eine deutlich andere Gewichtung enthält. Möglicherweise sind die Unterschiede darauf zurückzuführen, dass ernsthafte tätliche Angriffe zwar (noch) selten, aber — wie der Bericht des FGA belegt (S.16) – deutlich antiisraelisch bzw. extremistisch muslimisch motiviert scheinen.
„Die Presse“ hält in ihrem Bericht über die Studie der Grundrechteagentur etwas zu locker fest, dass deren Österreich-Ergebnisse keinen „Grund zur Entspannung“ für Juden geben könnten und zitiert dann aus der Studie eine österreichische Jüdin: „Wegen des gegenwärtigen Antisemitismus wissen nur meine engsten Freunde über meine Religion Bescheid.“
Dieser deprimierende Befund wird nur noch übertroffen durch die völlig resignative Feststellung eines weiteren österreichischen jüdischen Menschen: „Antisemitismus und Rassismus sind wie das Wiener Schnitzel. Sie sind Teil des österreichischen Kulturerbes. Es gibt da nichts zu bekämpfen, nur die Folgen zu unterdrücken, muss ausreichen.“
1 Nach der Veröffentlichung unseres Beitrags erreichte uns der Hinweis, dass die beiden zuletzt angeführten Statistiken der FRA (EU-Grundrechteagentur) und des FGA (Forum gegen Antisemitismus) „aus mehreren Gründen“ in ihren Parametern (Zeitraum, Zuordenbarkeit usw.) kaum vergleichbar seien. Der Hinweis ist berechtigt – danke!