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Das Urteil im NSU-Prozess: Rezeption in und Reaktionen aus Österreich

Es war einer der wich­tigs­ten Pro­zes­se der Nach­kriegs­zeit – so der Tenor in Deutsch­land zum mehr als fünf Jah­re andau­ern­den Pro­zess gegen Bea­te Zsch­ä­pe und die Mit­an­ge­klag­ten Ralf Wohl­le­ben, Cars­ten S., André E. und Hol­ger G.. Der Pro­zess fand ges­tern mit den Urteils­sprü­chen ein vor­läu­fi­ges Ende. Doch was waren die Reak­tio­nen in Öster­reich, zumal Verstrickungen […]

12. Jul 2018

Die media­le Reso­nanz in Öster­reich auf die Urteils­sprü­che in Mün­chen war – sagen wir so – ins­ge­samt beschei­den: Es wur­den weit­ge­hend die Vor­ge­schich­te des NSU und die Urteils­sprü­che refe­riert, Kom­men­tie­run­gen oder gar tie­fer­grei­fen­de Ana­ly­sen waren zumin­dest in den letz­ten Tagen mit weni­gen Aus­nah­men nicht zu finden.

Der gest­ri­ge Bei­trag aus Öster­reich vom Team von „prozess.report“ in München

Eine zusam­men­fas­sen­de APA-Mel­dung, die vie­le Medi­en online über­nah­men, gab die Reak­tio­nen aus Deutsch­land wie­der. Sie endet damit, dass Bea­te Zsch­ä­pe nun in der JVA Aich­ach wahr­schein­lich in einer Bäcke­rei oder Schnei­de­rei arbei­ten wol­le. Das ist wohl jene Infor­ma­ti­on, die uns im Zusam­men­hang mit dem NSU-Ver­bre­chen am aller­we­nigs­ten zu inter­es­sie­ren hat.

Gud­run Dor­in­ger ging in den Salz­bur­ger Nach­rich­ten sprach­kri­tisch auf die Bezeich­nung „Döner Mor­de“ ein und stell­te die­se unsäg­li­che Titu­lie­rung in einen Zusam­men­hang mit der gesell­schaft­li­chen Gesamt­hal­tung zu die­ser Mord­se­rie: Man ver­harm­los­te. Man schlamp­te. Und man signa­li­sier­te vor allem: Was geht uns das als Gesell­schaft eigent­lich an? Es betrifft ja die. Nicht uns.“

Der Stan­dard brach­te ges­tern bereits vor der Urteils­ver­kün­dung ein Inter­view mit der Gerichts­re­por­te­rin Annet­te Ramels­ber­ger von der Süd­deut­schen Zei­tung, die den Pro­zess über die gesam­te Zeit beob­ach­tet, kom­men­tiert und mit­pro­to­kol­liert hat­te: Weil es sonst nie­mand tut. Zwar machen sich die Rich­ter und die Ver­tei­di­ger Noti­zen. Aber es gibt kein offi­zi­el­les Pro­to­koll von die­sem Jahr­hun­dert­pro­zess. Als Begrün­dung gab das Gericht an, Zeu­gen könn­ten sich gehemmt füh­len, wenn alles auf Ton­band auf­ge­nom­men wird. Das ist schon sehr weit her­ge­holt. So haben wir die Arbeit der Jus­tiz über­nom­men und alles auf­ge­schrie­ben für die Nach­welt. Wir wer­den im Herbst eine mehr­bän­di­ge Doku­men­ta­ti­on herausbringen.“

Einen aus fach­li­cher Sicht völ­lig deplat­zier­ten Ver­gleich mit der RAF zog Bir­git Bau­mann eben­falls im Stan­dard: In Deutsch­land zog eine Art brau­ne RAF durchs Land und konn­te uner­kannt mor­den, weil die Sicher­heits­be­hör­den sie nicht ent­de­cken konn­ten oder wollten.“

Die Print-Aus­ga­be der „Pres­se“ erwähnt, wie ande­re Medi­en auch die mit Zsch­ä­pe wei­te­ren Ange­klag­ten: Vier wei­te­re Hel­fer des NSU wur­den am Mitt­woch (eben­falls nicht rechts­kräf­tig) schul­dig gespro­chen. Nur einer davon, Cars­ten S., half den Behör­den bei der Auf­klä­rung. Er leb­te bis­her im Zeu­gen­schutz­pro­gramm, nun wur­de er zu drei Jah­ren Jugend­haft ver­ur­teilt. Ralf W., der dem Urteil zufol­ge die Mord­waf­fe besorgt hat, soll für zehn Jah­re ins Gefäng­nis. Hol­ger G. wur­de zu drei Jah­ren Haft ver­ur­teilt, er orga­ni­sier­te gefälsch­te Papie­re. And­re E. wird wegen Unter­stüt­zung des NSU zu zwei­ein­halb Jah­ren Haft ver­ur­teilt. Er pro­vo­zier­te im Gerichts­saal mit hef­ti­gem Grin­sen und ließ sich Neo­na­zi-Sym­bo­le und ‑Sprü­che täto­wie­ren.“ Dass genau die­se Straf­ma­ße zum Teil erheb­lich unter den von der Bun­des­an­walt­schaft bean­trag­ten Stra­fen blie­ben, wird bedau­er­li­cher­wei­se gleich wenig erwähnt wie die Tat­sa­che, dass sich alle die­ser – noch immer beken­nen­den – Neo­na­zis bis auf Wohl­le­ben damit auf frei­em Fuß befinden.

Der Print-Kurier stellt die zehn Mord­op­fer mit Fotos und Kurz­be­schrei­bung vor und berich­tet in lapi­da­rer Wei­se: Bei der Urteils­ver­kün­dung waren rech­te Pro­vo­ka­teu­re im Saal anwe­send. Dass die­se Neo­na­zis sind und nicht nur anwe­send waren, son­dern ins­be­son­de­re bei der Ver­kün­dung des gerin­gen Straf­ma­ßes von André E. sogar applau­dier­ten, erfah­ren wir über die „rech­ten Pro­vo­ka­teu­re“ nicht.

In der ZiB 24 war der gehalt­volls­te ORF-Bei­trag in einem Inter­view mit Wieb­ke Ramm (Süd­deut­sche Zei­tung) zu sehen, die die Mög­lich­kei­ten des Pro­zes­ses durch­aus kon­tro­ver­si­ell beur­teilt, da ihre Sicht kei­nes­falls ein­hel­lig, beson­ders nicht von Ver­tre­te­rIn­nen der Opfer, geteilt wird: Also, ich wür­de schon sagen, dass der Senat, also die Rich­ter unter Vor­sitz von Man­fred Götzl, das Best­mög­li­che tat­säch­lich getan hat, weil ein Straf­pro­zess, der sich ja um die Tat- und Schuld­vor­wür­fe gegen die kon­kre­ten Ange­klag­ten rich­tet, kann dann viel­leicht tat­säch­lich, nicht, das ist nicht sei­ne Auf­ga­be, nicht die Rol­le, die Feh­ler, das Ver­sa­gen, der Behör­den, der Ermitt­lungs­be­hör­den, des Ver­fas­sungs­schut­zes natür­lich auf­klä­ren. Das ist in der Tat nicht Auf­ga­be die­ses Straf­pro­zes­ses gewe­sen. So muss man das, glau­be ich, sehen. Es gab ja auch zahl­rei­che par­la­men­ta­ri­sche Unter­su­chungs­aus­schüs­se, das heißt, auf poli­ti­scher Ebe­ne wur­de da eini­ges geleis­tet und wird es ja auch noch. Die gan­zen Fra­gen, die es in der Tat immer noch gibt, die konn­te die­ser Straf­pro­zess, mei­ner Mei­nung nach nicht aufklären.“

Die „Klei­ne Zei­tung“ brach­te mit ihrem regio­na­len Able­ger „Neue“ neben aus­ge­wähl­ten Reak­tio­nen aus inter­na­tio­na­len Medi­en die aus­führ­lichs­te Kom­men­tie­rung zum Prozess: 

Der Natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Unter­grund und unser Umgang mit ihm mar­kiert einen Wen­de­punkt in der Geschich­te. Die Jah­re, die Bea­te Zsch­ä­pe in Unter­su­chungs­haft ver­brach­te, sind Ach­sen­jah­re. Natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Reden wer­den heu­te in aller Öffent­lich­keit von gut situ­ier­ten Bür­gern geführt. Nicht mehr bevor­zugt von jugend­li­chen Haudraufs.
Und das – fast – über­all in Euro­pa. Im Novem­ber 2011 gab es viel zu vie­le, die so naiv waren, die NSU-Mor­de als die Tat aus­ge­flipp­ter Ein­zel­ner zu betrach­ten. Sie wur­den nicht gese­hen als Akti­on einer Grup­pe von Men­schen, die in einem bestimm­ten Milieu sich in die­se Rich­tung ent­wi­ckelt hat­te. Das war, als es Jahr­zehn­te zuvor um den Ter­ro­ris­mus der Roten Armee Frak­ti­on ging, ganz anders. Da wur­de der Fokus sofort auf das „Sym­pa­thi­san­ten­um­feld“ eingestellt.
Man erin­ne­re sich an die Ver­ve, mit der die ein­schlä­gi­gen Behör­den sich sogar Hein­rich Böll vor­knöpf­ten. Nichts Ver­gleich­ba­res geschah nach dem Novem­ber 2011, als die NSU-Taten bekannt wurden.
Man wird dar­um zögern, nur von Nai­vi­tät zu spre­chen. Die Augen zu schlie­ßen vor dem Rechts­ra­di­ka­lis­mus und sei­ner Gewalt­be­reit­schaft, passt zu gut in die Geschich­te der Bun­des­re­pu­blik und ihrer Dienste.“

Der hier feh­len­de Nach­satz sei von uns ange­fügt: Das gilt auch und viel­leicht sogar in gestei­ger­tem Maß für Öster­reich. Den­noch waren in kei­nem Medi­um O‑Töne von öster­rei­chi­schen Exper­tIn­nen zu fin­den. Auch Reak­tio­nen aus der öster­rei­chi­schen Poli­tik haben wir ver­geb­lich gesucht. Um die­se Leer­stel­le zu fül­len, über­las­sen wir der deut­schen Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­ten Mar­ti­na Ren­ner einen Ausblick: