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„Es kann wieder passieren“

Bücher wie das von Shlo­mo Vene­zia („Mei­ne Arbeit im Son­der­kom­man­do Ausch­witz“) sind sehr rar. Weil kaum jemand das „Son­der­kom­man­do“ über­lebt hat bzw. über­le­ben durf­te. Weil die, die es über­lebt haben, zeit ihres Lebens damit zu kämp­fen hat­ten, eine Spra­che und Gehör für das Unge­heu­er­li­che zu fin­den, das sie erle­ben muss­ten. Umso unver­ständ­li­cher, dass die deutsche […]

5. Feb 2017

Das Inter­view, das der His­to­ri­ker Joa­chim Schrö­der im Juni 2016 mit Mari­ka Vene­zia, der Frau des im Jahr 2012 ver­stor­be­nen Shlo­mo geführt hat, wur­de in der Aus­ga­be Nr. 63 von LOTTA, der anti­fa­schis­ti­schen Zeit­schrift aus Nord­rhein-West­fa­len, Rhein­land-Pfalz und Hes­sen, veröffentlicht.

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Sein Schwei­gen über Ausch­witz hat Shlo­mo auf­ge­ge­ben, als in den 90er Jah­ren wie­der anti­se­mi­ti­sche Paro­len auf­ge­taucht sind. „Was ein­mal pas­siert ist, kann wie­der pas­sie­ren“, zitiert ihn sei­ne Frau. Wir dan­ken LOTTA für die Geneh­mi­gung zur Wie­der­ga­be des beein­dru­cken­den Inter­views und des Vorspanns.

„Es kann wie­der passieren“
Im „Son­der­kom­man­do“ arbei­ten zu müs­sen, gehör­te zum Schlimms­ten, was einem Häft­ling in Ausch­witz wider­fah­ren konn­te. Gezwun­gen von der SS, muss­ten sie die dem Tod geweih­ten Men­schen in die Gas­kam­mern beglei­ten. Bis zuletzt durch einen gren­zen­lo­sen Zynis­mus hin­ter­häl­tig getäuscht, woll­ten vie­le die Lügen vom „Duschen“ und einem spä­te­ren Arbeits­ein­satz glau­ben. Wer miss­trau­isch wur­de, den ver­such­ten die Häft­lin­ge des „Son­der­kom­man­dos“ zu beru­hi­gen, um den Men­schen unnö­ti­ge Schmer­zen zu erspa­ren, wie ein Über­le­ben­der spä­ter sag­te. Denn die SS schlug grau­sam und erbar­mungs­los zu.
Das „Son­der­kom­man­do“ muss­te die Lei­chen aus den Gas­kam­mern holen, Haa­re abschnei­den, Gold­zäh­ne her­aus­bre­chen, die Lei­chen in den Kre­ma­to­ri­en ver­bren­nen. Es gab nur einen Aus­weg: Selbst­mord, eigen­hän­dig oder durch die Selbst­aus­lie­fe­rung an die SS. Man­che gin­gen die­sen Weg, weil sie ihre Auf­ga­be nicht ertra­gen konn­ten. Die meis­ten arbei­te­ten wei­ter, um zu über­le­ben, müh­sam das immer rebel­lie­ren­de Gewis­sen unter­drü­ckend, zu Auto­ma­ten und Skla­ven in der Ver­nich­tungs­ma­schi­ne­rie degra­diert. Die meis­ten wur­den von der SS ermor­det, die mög­lichst kei­ne Zeu­gen über­le­ben las­sen woll­te. Von etwa 2.100 Ange­hö­ri­gen des „Son­der­kom­man­dos“ über­leb­ten nur etwa 100. Sie waren für ihr Leben gezeich­net. Zu ihnen gehör­te der in Salo­ni­ki gebo­re­ne Shlo­mo Vene­zia, der 2012 in Rom im Alter von 88 Jah­ren starb.

LOTTA: Frau Vene­zia, vor uns liegt das Buch Ihres Man­nes: „Mei­ne Arbeit im Son­der­kom­man­do Ausch­witz“. Es ist eines der sel­te­nen und umfas­sen­den Zeug­nis­se eines Über­le­ben­den des „Son­der­kom­man­dos“. Kön­nen Sie uns berich­ten, wie es zu die­ser Ver­öf­fent­li­chung gekom­men ist?

Mari­ka Vene­zia: Er ist oft gefragt wor­den, über sei­ne Erfah­run­gen aus­führ­lich zu berich­ten (…). Eines Tages, nach einem sei­ner zahl­rei­chen Ausch­witz-Besu­che, hat die Jour­na­lis­tin Béa­tri­ce Pras­quier, die er schon län­ger kann­te, meh­re­re Inter­views mit ihm gemacht und das Gan­ze zu dem Buch ver­ar­bei­tet, das 2006 ver­öf­fent­licht wur­de. Es ist in vie­le Spra­chen über­setzt wor­den. Die deut­sche Aus­ga­be ist lei­der vergriffen.

LOTTA: Wann wird eine Neu­aus­ga­be erscheinen?

Mari­ka Vene­zia: Es ist schwer zu glau­ben, aber der Bles­sing-Ver­lag hat kein Inter­es­se dar­an, dass es neu auf­ge­legt wird. Ich habe schon mehr­mals gefragt. Das ist sehr ärger­lich, zumal in der deut­schen Aus­ga­be im Anmer­kungs­ap­pa­rat und in den bei­gefüg­ten Auf­sät­zen eini­ge Unge­nau­ig­kei­ten ent­hal­ten sind, die in einer Neu­auf­la­ge kor­ri­giert wer­den soll­ten. Es ist schon alles vorbereitet.

LOTTA: Unge­heu­er­lich, dass aus­ge­rech­net im Land der Täter ein solch bedeu­ten­des Buch nicht mehr erhält­lich ist. Wie hat Ihr Mann sich gefühlt, als das Buch ver­öf­fent­licht wurde?

Mari­ka Vene­zia: Wis­sen Sie, mein Mann war sel­ten zufrie­den. Aber als man das Buch in Rom im Okto­ber 2007 prä­sen­tiert hat, war er sehr zufrie­den. Aber ich sage Ihnen etwas: Weder er noch ich haben jemals das Buch von Anfang bis Ende gele­sen. Immer nur ein paar Sei­ten, dann muss­te ich es weg­le­gen. Er kann­te sei­ne Geschich­te ja. Und ich habe sie so oft gehört, dass ich manch­mal glaub­te, ich hät­te sie selbst erlebt. 56 Jah­re war ich mit ihm ver­hei­ra­tet. Ich bin kei­ne Zeu­gin, Gott sei Dank, ich war nicht dort. Aber ich bin die Zeu­gin des Zeugen.

LOTTA: Wann hat Shlo­mo Vene­zia ange­fan­gen, über sei­ne Erfah­run­gen zu sprechen?

Mari­ka Vene­zia: Das war sehr, sehr spät. 1992 hat er erst­mals öffent­lich davon gespro­chen. Mir hat er natür­lich vor­her schon erzählt, aber nicht viel, nicht vom „Son­der­kom­man­do“. Dass er „im Lager“ war, er hat­te ja auch sei­ne Num­mer ein­tä­to­wiert. Dass sei­ne Mut­ter und sei­ne zwei Schwes­tern in Ausch­witz ermor­det wor­den sind. Die gan­ze Fami­lie der Mut­ter, eine grie­chi­sche Jüdin, ist ermor­det wor­den. 25 Men­schen. Vom „Son­der­kom­man­do“ hat er erst sehr spät erzählt, ich erin­ne­re mich nicht mehr genau, wann das war. Eines Tages wur­de er vom Fern­se­hen ein­ge­la­den, über sei­ne Erfah­run­gen zu spre­chen. Er bekam 13 Minu­ten! Er hat ein biss­chen erzählt, und vie­le Zuschau­er schrie­ben und woll­ten mehr wis­sen. Also bekam er noch ein zwei­tes Inter­view, und da hat er es erzählt. Unse­re drei Söh­ne haben es aus dem Fern­se­hen erfahren.

LOTTA: Es muss fürch­ter­lich sein, sol­che schreck­li­chen Erleb­nis­se mit nie­man­dem tei­len zu können.

Mari­ka Vene­zia: Er konn­te dar­über nicht spre­chen. Als wir gehei­ra­tet haben, war ich 17 Jah­re alt. Ich habe damals nichts gewusst von Ausch­witz, geschwei­ge denn von Gas­kam­mern und dem „Son­der­kom­man­do“. In die­ser Zeit hat man nicht dar­über gesprochen.

LOTTA: Wie genau haben Sie sich eigent­lich kennengelernt?

Mari­ka Vene­zia: Wir haben uns in Rom in einem Sprach­kurs ken­nen­ge­lernt, der vom ame­ri­ka­ni­schen Joint orga­ni­siert wor­den war. Shlo­mo war vor­her sie­ben Jah­re lang in ver­schie­de­nen Sana­to­ri­en gewe­sen, er war sehr krank vom Lager, TBC. Er war in einer Hotel­fach­schu­le und woll­te eigent­lich aus­wan­dern, was aber nicht klapp­te, weil er noch zu krank war. Wir haben uns erst mal zwei Jah­re geschrie­ben – und dann haben wir gehei­ra­tet, und 1959 sind wir nach Rom gezo­gen, in die­sel­be Woh­nung, in der ich heu­te noch lebe.

LOTTA: Gab es einen Anlass, war­um Shlo­mo Vene­zia sein Schwei­gen gebro­chen hat?

Mari­ka Vene­zia: Es war Anfang der 1990er Jah­re, es gab auf ein­mal Graf­fi­tis auf den Wän­den, Haken­kreu­ze, „Juden in den Ofen“ und so wei­ter. In den Fuß­ball­sta­di­en kamen Rufe: „Juden raus!“ Da hat er Angst bekom­men. „Was ein­mal pas­siert ist, kann wie­der pas­sie­ren“, mein­te er. „Und nie­mand sagt etwas, genau wie damals.“ Er ist dann zur ANED [Asso­cia­zio­ne Nazio­na­le Ex Depor­ta­ti nei Cam­pi Nazis­ti] gegan­gen, einer Ver­ei­ni­gung der Sho­ah-Über­le­ben­den, und hat gefragt: „Was kann ich machen?“ Die schlu­gen ihm vor, in einer Aus­stel­lung über Anne Frank im Palaz­zo Vene­zia mit Schü­lern zu spre­chen. Das hat er ein paar Mal gemacht. Und dann hat man ihn gefragt, ob er Schul­klas­sen nach Ausch­witz beglei­ten wür­de. Ich habe gesagt, dass er auf kei­nen Fall allein fah­ren kann. Man kann doch nie wis­sen, was pas­siert. Schließ­lich sag­te er unter der Bedin­gung zu, dass ein Freund mit­kä­me, der auch in Ausch­witz war. Und sie sind dann bei­de gefah­ren, am 5. Dezem­ber 1992. Es war vol­ler Schnee, und sie haben erst mal nichts gese­hen, da ja die Gas­kam­mern und Kre­ma­to­ri­en zer­stört wor­den sind. Dann hat er die erhal­te­nen Trep­pen gese­hen, die in die Gas­kam­mern führ­ten, und dann kam alles wieder.

LOTTA: Zeitzeug_innen berich­ten einer­seits häu­fig von dem Gefühl der Erleich­te­rung, wenn sie erst­mals von ihren Erleb­nis­sen berich­te­ten, also ande­re an ihnen teil­ha­ben lie­ßen. Das Spre­chen und Erzäh­len durch­bricht einen Moment das Gefühl der Ein­sam­keit, unter dem fast alle Über­le­ben­den lit­ten. Ande­rer­seits wird die Erin­ne­rung jedes Mal wie­der erneu­ert. Es wird an die Ober­flä­che geholt, was müh­sam unter­drückt wur­de, um über­haupt den All­tag meis­tern zu können.

Mari­ka Vene­zia: Egal wo Shlo­mo war – alles hat ihn wie­der nach Ausch­witz gebracht. Es ver­ging kein Tag, an dem er nicht an Ausch­witz gedacht hat. Er hat dar­un­ter sehr gelit­ten. Und ich glau­be, er hat nicht ein­mal alles gesagt, was er gese­hen hat.

LOTTA: Lydia Man­del­baum, die Frau des „Sonderkommando“-Häftlings Hen­ryk Man­del­baum, sag­te ein­mal: „Irgend­wie ist Ausch­witz auch in mir“ – ging Ihnen das ähnlich?

Mari­ka Vene­zia: Ich war sehr jung, mit drei klei­nen Kin­dern. Kei­ne ande­ren Ver­wand­ten, die uns hät­ten unter­stüt­zen kön­nen, also über­haupt wenig Zeit, sich damit zu befas­sen… Mir hat es so weh getan, weil es ihm weh getan hat. Das Kre­ma­to­ri­um in Ausch­witz war eine Rou­ti­ne. Jeden Tag das­sel­be. Die Haa­re abschnei­den, die Zäh­ne her­aus­zie­hen, die Lei­chen in den Ofen, Tag und Nacht. Wie ein Robo­ter. Er war nicht mehr Shlo­mo. Die Häft­lin­ge waren Auto­ma­ten. Er sag­te mir ein­mal: „Wie hät­te ich essen kön­nen mit die­sen Hän­den, mit denen ich vor­her den Toten die Zäh­ne gezo­gen habe?“

LOTTA: Ist er denn mal als Zeu­ge auf­ge­tre­ten im Ausch­witz-Pro­zess? Gera­de die Häft­lin­ge des „Son­der­kom­man­dos“ waren ja die wich­tigs­ten Zeu­gen, wenn es dar­um ging zu zei­gen, wie der Mord an Hun­dert­tau­sen­den von Men­schen fabrik­mä­ßig orga­ni­siert wur­de. Es gab ja genü­gend, die das immer noch geleug­net haben – und noch leugnen.

Mari­ka Vene­zia: Nein, ist er nicht. Unter den Holo­caust-Leug­nern waren sogar Uni­ver­si­täts­pro­fes­so­ren. Als das Buch kam, haben Leu­te gesagt: „Da ist der Jude, der viel Geld aus den USA bekom­men hat und der behaup­tet, er sei lebend aus dem Kre­ma­to­ri­um her­aus­ge­kom­men.“ Mich hat der Schlag getrof­fen, aber der His­to­ri­ker Umber­to Gen­ti­lo­ni hat mir gesagt: „Ant­wor­te nie­mals auf sol­che Behaup­tun­gen.“ Das Inter­es­san­te ist, dass die Täter selbst es spä­ter nie­mals abge­strit­ten haben. Sie haben nur behaup­tet, sie sei­en nicht ver­ant­wort­lich gewe­sen. Wäh­rend des Krie­ges haben die Deut­schen gesagt: Die Häft­lin­ge selbst wer­den es nicht über­le­ben, und wenn es doch einer über­lebt, wird ihm nie­mand glauben.

LOTTA: Hat Shlo­mo Vene­zia die­se Erfah­rung gemacht?

Mari­ka Vene­zia: Er hat mal in einer klei­ne­ren Run­de von sei­nen Erleb­nis­sen berich­tet, in den 1980er Jah­ren. Wäh­rend er erzähl­te, regis­trier­te er, wie einer einen ande­ren ansah und sich mit dem Fin­ger an die Stirn tipp­te. Der hat ihn für ver­rückt gehal­ten. Das hat ihn natür­lich blo­ckiert. Die meis­ten Leu­te haben sich dafür nicht inter­es­siert, auch nicht für die Ver­bre­chen, die die Deut­schen in Ita­li­en ver­übt haben, wie das Mas­sa­ker in den Adrea­ti­ni­schen Höh­len, Kapp­ler, Prieb­ke und so wei­ter. Heu­te ist es anders. Seit den 1990ern wur­den viel mehr Bücher ver­öf­fent­licht, es wur­de dann der Gedenk­tag im Janu­ar ein­ge­führt, an dem über­all im Land Gedenk­ver­an­stal­tun­gen orga­ni­siert wer­den. Wir sind sehr viel in die Schu­len gegan­gen und haben mit den Kin­dern und Jugend­li­chen gespro­chen. Es war sehr sel­ten, dass sie das nicht inter­es­siert hat. Das war auch wegen Shlo­mos Art. Er war immer sehr ruhig und unauf­ge­regt, er hat in ein­fa­cher Spra­che gespro­chen – und er hat sie auch nie gezwun­gen, zuzu­hö­ren. Sie haben ihn gemocht.

LOTTA: Es stimmt, dass heu­te viel mehr über den Holo­caust gespro­chen und unter­rich­tet wird. In Deutsch­land ist der Ver­weis auf die wäh­rend der NS-Herr­schaft ver­üb­ten Ver­bre­chen und die Ver­ant­wor­tung, die sich hier­aus ergibt, Bestand­teil einer fest eta­blier­ten Erin­ne­rungs­kul­tur. Abge­se­hen von der miss­bräuch­li­chen poli­ti­schen Instru­men­ta­li­sie­rung droht aber immer auch die Gefahr einer Ritua­li­sie­rung. Wel­che Bedeu­tung hat Ihrer Mei­nung nach der his­to­ri­sche Ort selbst?

Mari­ka Vene­zia: Man muss sich das vor Ort anse­hen, der Ein­druck ist sehr stark. Auch wenn nicht mehr viel übrig ist in Bir­ken­au. Man braucht eini­ge Vor­stel­lungs­kraft. Aber es gibt ja das Modell die­ser „Todes­fa­brik“, das der pol­ni­sche Bild­hau­er Miec­zysław Sto­bier­ski geschaf­fen hat. Das doku­men­tiert es am bes­ten. Das müss­te auch in Bir­ken­au und nicht nur im Stamm­la­ger auf­ge­stellt wer­den, was ich schon mehr­fach ange­regt habe. Es gibt ohne­hin eini­ges, was man an der Aus­stel­lung in Ausch­witz ver­bes­sern könn­te, und der Umgang mit die­sem Ort war oft pro­ble­ma­tisch. Man den­ke an die Umwand­lung des Kom­man­dan­tur-Gebäu­des in Bir­ken­au in eine katho­li­sche Kir­che. Oder als in der alten Ger­be­rei in Oświęcim, in der Ausch­witz-Häft­lin­ge arbei­te­ten, eine Dis­ko­thek auf­mach­te. Sie haben Shlo­mo und ande­re Häft­lin­ge zur Eröff­nung eingeladen…

LOTTA: Dür­fen wir auch zu Ihrer eige­nen Bio­gra­phie etwas fragen?

Mari­ka Vene­zia: Wenn es inter­es­siert… Mei­ne Kind­heit ist ziem­lich kom­pli­ziert ver­lau­fen. Ich wur­de in Temes­war gebo­ren, wie mei­ne Groß­mutter und mein Vater. Das gehör­te bis zum Ende des Ers­ten Welt­kriegs zu Öster­reich-Ungarn, danach zu Rumä­ni­en. Mei­ne Mut­ter starb als ich drei Jah­re alt war, mein Vater war in Gefan­gen­schaft. Ich bin dann bei mei­ner Groß­mutter auf­ge­wach­sen, die unga­risch und deutsch sprach – des­we­gen kann ich deutsch spre­chen. Wir haben in Rumä­ni­en über­lebt, mit Glück, denn in Rumä­ni­en, das ein deut­scher Satel­li­ten­staat war, wur­den 400.000 Juden ermor­det. Nach dem Krieg kamen die Kom­mu­nis­ten, die alles ver­staat­licht und ent­eig­net haben. Mein Vater und ich sind nach Paris gegan­gen, wo er ein klei­nes Geschäft auf­ge­macht hat, das aber schnell bank­rott­ge­gan­gen ist. Dann sind wir nach Rom gegangen.

LOTTA: Haben Sie immer in Ita­li­en leben wol­len oder haben Sie auch mal dar­an gedacht, auszuwandern?

Mari­ka Vene­zia: Wir sind sogar ein­mal aus­ge­wan­dert, nach Isra­el, mit unse­ren Söh­nen, im Jahr 1977 war das. Aber es war sehr schwer. Die israe­li­sche Regie­rung hat es den Ein­wan­de­rern damals nicht unbe­dingt ein­fach gemacht. Das gehör­te zum Kon­zept: Du musst Dich schon anstren­gen! Eine Woh­nung fin­den, die Spra­che ler­nen, das war alles sehr schwie­rig. Nach einem hal­ben Jahr haben wir gesagt: Wir gehen lie­ber wie­der zurück. Aber ich habe noch eine Woh­nung in Isra­el. Ich möch­te nicht in Ita­li­en beer­digt wer­den. Es ist schwie­rig gera­de in Ita­li­en, die Flücht­lings­kri­se macht dem Land sehr zu schaf­fen. Alle sind unzu­frie­den. So schlimm war es noch nie.

LOTTA: Vor weni­gen Wochen wur­de in Det­mold ein ehe­ma­li­ger SS-Ange­hö­ri­ger aus Ausch­witz zu einer Haft­stra­fe ver­ur­teilt. Ver­fol­gen Sie sol­che Pro­zes­se heu­te noch?

Mari­ka Vene­zia: Ja, ich habe es mit­be­kom­men, aber es inter­es­siert mich nicht mehr beson­ders. Ich ver­su­che auch, sol­che Din­ge nicht zu sehr an mich her­an zu las­sen. Ich gehe zu einem Zeit­zeu­gen­ge­spräch oder zu einer Ver­an­stal­tung, das beschäf­tigt mich dann eini­ge Stun­den, aber dann muss ich abschal­ten. Wenn man isst, spricht man nicht von der Sho­ah. Hat auch Shlo­mo immer gesagt. Man muss abschal­ten, wenn man nicht krank wer­den will.

LOTTA: Aber wie schal­tet man ab, wenn man doch die Bil­der im Kopf hat?

Mari­ka Vene­zia: Man braucht einen sehr star­ken Wil­len. Sonst könn­te man nicht ein­mal schla­fen, auch nicht mit Schlaf­mit­teln. Ich kann das ganz gut. Ich muss. Aber ich habe auch nicht das mit­ge­macht, was er mit­ge­macht hat. Was mir immer am meis­ten weh getan hat, war der Gedan­ke an Shlo­mo, der damals mit sei­nen 20 Jah­ren da ankommt in Ausch­witz. Und der muss dann die Tür auf­ma­chen und 1.000, 1.500 Lei­chen aus der Gas­kam­mer raus­ho­len, die Haa­re schnei­den und so wei­ter. Wie soll man da „nor­mal“ blei­ben? Er hat gelit­ten, aber er war nor­mal. Er ist auch gefragt wor­den, wie hast Du das aus­ge­hal­ten, wie kann man so etwas machen? Die Ant­wort ist: Er woll­te leben. Es war sei­ne ein­zi­ge Chan­ce. Er war sehr stark. Man hat die Über­le­ben­den immer gefragt: Wie war das, was hast Du erlebt? Aber nie­mand hat gefragt: Wie hast Du danach wei­ter­ge­lebt? Man kommt nie von Ausch­witz los. Ich habe nie­mals gedacht, dass ich heu­te das machen wür­de, was ich jetzt tue. Aber kurz nach­dem Shlo­mo gestor­ben ist, rief mich ein Bekann­ter einer jüdi­schen Orga­ni­sa­ti­on aus der Tos­ka­na an und frag­te, ob ich kom­men wür­de, um von Shlo­mo zu erzäh­len. Ich habe etwas nach­ge­dacht – und zuge­sagt. Und dann habe ich ein­fach wei­ter­ge­macht. Gefühlt habe ich mich dabei nicht gut, nicht schlecht. Es ist eine Ver­pflich­tung für mich, eine Auf­ga­be. Ich habe nicht immer Lust dazu. Ich fah­re fünf Mal im Jahr nach Ausch­witz. Und das ist sehr schwer.

LOTTA: Frau Vene­zia, herz­li­chen Dank für das Gespräch. Wir wün­schen Ihnen alles Gute.

Anmer­kung der Redaktion:
Der His­to­ri­ker Joa­chim Schrö­der hat die­ses Inter­view auf Bit­te der LOTTA am 29. Juni 2016 am Ran­de einer Ver­an­stal­tung mit Mari­ka Vene­zia und Roland Vos­se­bre­cker (Bil­dungs­werk Sta­nis­law Hantz e.V.) in der Rei­he „INPUT – anti­fa­schis­ti­scher The­men­abend in Düs­sel­dorf“ geführt. LOTTA bedankt sich bei allen Genann­ten sowie bei den Initia­to­ren der Ver­an­stal­tung, dem Bil­dungs­werk Sta­nis­law Hantz e.V., dem Arbeits­kreis Gedenk­stät­ten­fahrt und INPUT, für die Mit­wir­kung. (Link LOTTA Und stopptdierechten.at dankt LOTTA für die Geneh­mi­gung zur Wie­der­ga­be des beein­dru­cken­den Inter­views und des Vorspanns.

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