Wiener Neustadt (NÖ): Der wunde Punkt des Gutachters

Lesezeit: 4 Minuten

Der Neo­na­zi-Ver­ein Natio­na­le Volks­par­tei (NVP) ist Ver­gan­gen­heit. Inso­fern könn­te es egal sein, ob einer ihrer Funk­tio­nä­re vom Vor­wurf der Wie­der­be­tä­ti­gung frei­ge­spro­chen wird. Die Geschwo­re­nen in Wie­ner Neu­stadt stimm­ten vier zu vier über die Schuld ab – Frei­spruch im Zwei­fel! Grund­la­ge für den Urteils­spruch war ein Gut­ach­ten. Und damit hat sich die Jus­tiz ein Pro­blem eingehandelt.

Der Pro­zess, der am Diens­tag mit dem Frei­spruch des Ange­klag­ten ende­te, war vor fast einem Jahr, am 5.6.2013 ver­tagt wor­den. Damals war dem Antrag der Ver­tei­di­gung statt­ge­ge­ben wor­den, ein Gut­ach­ten aus dem Bereich Poli­tik­wis­sen­schaft und Par­tei­en­for­schung ein­zu­ho­len – zum Beweis dafür, dass das NVP-Par­tei­pro­gramm nicht gegen das NS-Ver­bots­ge­setz verstoße.

Die­sen gut­ach­ter­li­chen Beweis lie­fer­te am Diens­tag der deut­sche Poli­tik­wis­sen­schaf­ter Eck­hard Jes­se tat­säch­lich ab: „Der deut­sche Gut­ach­ter Eck­hard Jes­se sah zum NSDAP-Pro­gramm kei­ne Par­al­le­len und auch kei­ne ras­sis­ti­schen Äußerungen.“


SS-Schu­lungs­pro­gramm (links), NVP-Pro­gramm (rechts)

Die NVP hat­te, wie vor Jah­ren auch in Gerichts­ver­fah­ren fest­ge­stellt wur­de, gan­ze Pas­sa­gen ihres Par­tei­pro­gramms von einem „Lehr­plan für die welt­an­schau­li­che Erzie­hung in der SS und Poli­zei” über­nom­men – in lan­gen Pas­sa­gen wort­ident, manch­mal nur mit gering­fü­gi­gen Ver­än­de­run­gen: als „Bluts­trä­gern“ wur­den „Erb­trä­ger“ usw.

Im Pro­zess gegen die zwei NVP-Funk­tio­nä­re Fal­ler und Rup­rechts­ber­ger im März 2012 hat­te Chris­ti­an Hay­er, der jetzt in Wie­ner Neu­stadt vor Gericht stand, die Ver­ant­wor­tung für die Erstel­lung des Par­tei­pro­gramms auf sich genom­men und die ein­schlä­gi­gen Pas­sa­gen als Ver­se­hen bezeich­net: Er habe nicht gewusst, dass die­se Pas­sa­gen von der SS stamm­ten. Die bei­den NVP-Funk­tio­nä­re wur­den jeden­falls – auch wegen ihrer Ver­ant­wor­tung für das Par­tei­pro­gramm – zu beding­ten Haft­stra­fen (20 Mona­te) ver­ur­teilt. Hay­er, der schon im Sep­tem­ber 2011 wegen NS-Wie­der­be­tä­ti­gung ver­ur­teilt wor­den war, erhielt eine neue Ankla­ge wegen sei­ner Ver­ant­wor­tung für das NVP-Pro­gramm. Schon zuvor war die Beschwer­de der NVP gegen ihre Nicht­zu­las­sung zu den Land­tags­wah­len in Ober­ös­ter­reich vom Ver­fas­sungs­ge­richts­hof abge­wie­sen wor­den. Die Wahl­be­hör­de hat­te sei­ne Ent­schei­dung mit dem NS-Ver­bots­ge­setz begrün­det und sich dabei auf das Gut­ach­ten des Lin­zer Uni­ver­si­täts­pro­fes­sors Andre­as Jan­ko gestützt. in dem Pro­zess gegen Fal­ler und Rup­rechts­ber­ger waren auch noch ande­re Gut­ach­ter wie etwa der His­to­ri­ker Ger­hard Botz bei­gezo­gen wor­den, die die Ankla­ge stütz­ten: „Der Auf­bau des Papiers ent­spre­che dar­über hin­aus dem Pro­gramm der NSDAP aus dem Jahr 1920“, erklär­te der Gut­ach­ter des Lan­des­ar­chivs OÖ laut „Stan­dard“.

Eigent­lich waren damit auch alle Fak­ten für den Pro­zess gegen Hay­er auf dem Tisch – schließ­lich lagen ja schon ent­spre­chen­de Urtei­le und Gut­ach­ten vor. Was letzt­end­lich dazu geführt hat, dass das Gericht dem Antrag der Ver­tei­di­gung ent­sprach, ein Gut­ach­ten zum Beweis zuzu­las­sen, dass das NVP-Par­tei­pro­gramm nicht natio­nal­so­zia­lis­tisch ist„ wis­sen wir nicht. Jeden­falls wur­de mit Eck­hard Jes­se als Gut­ach­ter einer der ganz weni­gen im deutsch­spra­chi­gen Raum gefun­den, die die­sem Auf­trag entsprachen.


Fal­ler bas­telt sich sei­nen eige­nen Nachruf

Natio­na­lis­tisch und rechts­extrem, aber nicht ras­sis­tisch sei das NVP-Pro­gramm, so der Gut­ach­ter. Nur zum Kern der Ankla­ge, den Pas­sa­gen aus dem SS-Schu­lungs­pro­gramm, hat­te Jes­se kei­ne über­zeu­gen­de Erklä­rung: „Der ‚wun­de Punkt’ sei aller­dings, dass jene zwei Sei­ten, die sich als Pla­gi­at aus dem SS-Bil­dungs­pa­pier her­aus­stell­ten, nach Bekannt­wer­den die­ser Tat­sa­che nicht her­aus­ge­nom­men wur­den.“ So kann das Abschrei­ben vom SS-Schu­lungs­pro­gramm auch ver­harm­lost wer­den: als „wun­den Punkt“, den man nicht wei­ter bewer­ten muss. Über Eck­hard Jes­se, den Gut­ach­ter, schreibt Heri­bert Prantl in der „Süd­deut­schen Zeitung“:

Eck­hard Jes­se ist durch Ver­harm­lo­sung rechts­extre­mer Umtrie­be auf­ge­fal­len. 1990 schoss er sich in einem Auf­satz auf Heinz Galin­ski, den frü­he­ren Vor­sit­zen­den des Zen­tral­ra­tes der Juden ein und mein­te: „Auf Dau­er dürf­te Juden­feind­lich­keit nicht zuletzt gera­de wegen man­cher Ver­hal­tens­wei­sen von Reprä­sen­tan­ten des Juden­tums an Bedeu­tung gewin­nen.

Kri­tik an gro­ben Anti­se­mi­tis­men beklag­te er als „hys­te­ri­sche Reak­ti­on”. Der genann­te Auf­satz Jes­ses erschien in dem von ihm gemein­sam mit Uwe Backes und Rai­ner Zitel­mann her­aus­ge­ge­be­nen Sam­mel­band „Die Schat­ten der Ver­gan­gen­heit. Impul­se zur His­to­ri­sie­rung des Natio­nal­so­zia­lis­mus”, das als Stan­dard­werk des gemä­ßig­ten Geschichts­re­vi­sio­nis­mus gilt.

In die­sem Buch wer­den „mora­li­sie­ren­de Gesin­nungs­state­ments” der His­to­ri­ker eben­so gegei­ßelt wie deren „Pose des Anklä­gers” gegen­über den Akteu­ren des Drit­ten Rei­ches. In einem Arti­kel, den Jes­se am Mon­tag auf Sei­te 3 der „Welt” publi­ziert hat, behaup­tet er, das die Gefahr von rechts hoch­ge­spielt, die von links ver­harm­lost wür­de: „Die Ero­si­on der Abgren­zung zwi­schen demo­kra­tisch und extre­mis­tisch geschieht am lin­ken, nicht am rech­ten Rand.”

Prantl hat sei­nen Bei­trag im Jahr 2010 über­ti­telt mit „Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt macht Bock zum Gärt­ner“. Das Lan­des­ge­richt Wie­ner Neu­stadt hat mit dem Gut­ach­ter Jes­se einen kapi­ta­len Bock geschossen.

➡️ derstandard.at — Auf­re­gung um Gut­ach­ter in Neonazi-Prozess