Daniel Chanoch wurde am 2. Februar 1932 in Kaunas, Litauen, geboren. Er war erst acht, als die Nazis einmarschierten und seine Kindheit beendeten. Er und seine Familie wurden enteignet und mussten in das Ghetto Kaunas. Nach dessen Auflösung wurde die Familie in das KZ Stutthof gebracht, wo Chanoch seine Mutter und Schwester das letzte Mal sah. Anschließend kam er in das KZ Dachau, wo er auch von Vater und Bruder getrennt wurde. Vor einem Transport nach Ausschwitz-Birkenau entstand eine außerordentliche Solidarität unter den 131 Buben aus Kaunas, die die Lager-SS für die Vernichtung selektierte – ein Zusammenhalt, der sich als überlebenswichtig erweisen sollte.
In Ausschwitz musste er mit anderen der Kinder arbeiten, Leichen von der Gaskammer abtransportieren. Kurz vor der Befreiung von Ausschwitz wurde er zu einem der Todesmärsche in die „Ostmark“ gezwungen, wo er zuerst im österreichischen Konzentrationslager Mauthausen (1) ankam, dann in dessen Nebenlager Gunskirchen musste, wo er am 5. Mai 1945 durch eine US-Infanterie Division befreit wurde. Daniel Chanoch hat 44 Monate innerhalb der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie überlebt. Von den 131 Buben aus Kaunas haben 40 überlebt. Die Verbliebenen treffen einander bis heute.
Das Regieduo Krönes und Weigensamer verlässt sich auf die von Chanoch erzählte Geschichte. Kontrastreiche Schwarz-Weiß-Aufnahmen zeigen ihn meist nah und vor einem völlig schwarzen Hintergrund. Das Einzige, was von seinen Sätzen ablenkt, sind sorgfältig in die Narration montierte Ausschnitte von historischem Filmmaterial. Darunter sind etwa russische Propaganda ebenso wie englische Satire gegen den NS, außerdem ein Ausschnitt aus dem Prozess gegen Adolf Eichmann in Israel sowie US-Aufklärungsvideos, die im Rahmen der „Reeducation“ des postnazistischen Deutschland gezeigt wurden. Diese Einschübe sind sehr unterschiedliche Splitter verschiedener politisch-kollektiver Deutungen des Geschehens. Sie unterbrechen die individuelle Geschichte, aber übertrumpfen sie nie. Sie geben eine uneinheitliche Ahnung von Kontext, aber stehlen nie das Rampenlicht. Eine übergeordnete Erzählstimme fehlt gänzlich, nur dann und wann bieten Texttafeln eine Einordnung. So bleibt das Individuum, das sich erinnert, stets im Zentrum.
Chanoch schildert die notwendige emotionale Distanz, die er früh lernen musste, um zu überleben. Er spricht sehr direkt und bestimmt, zuweilen wirkt es kühl, was aber jene Momente, die von Solidarität handeln, nur umso deutlicher hervortreten lässt. Besonders stark und unfassbar wirkt etwa, wenn er davon erzählt, wie die Kinder im Ghetto Kaunas tote Vögel gesucht, ihnen Namen gegeben und sie im Rahmen eines Rituals beerdigt haben, womit sie an den Tieren vollzogen, was ihren regelmäßig zu Erschießungen abgeführten Mitgefangenen verweigert wurde.
Eindrücklich ist Chanochs glasklare Beurteilung von Mauthausen und seines Nebenlagers Gunskirchen sowie auch der österreichischen (Zivil-)Bevölkerung. Es mutet irrwitzig an, vor dem Hintergrund solcher Tötungsorte noch Unterscheidungen hinsichtlich ihrer Grausamkeit zu hören. Aber Chanoch macht genau das unmissverständlich. Nichts, auch nicht Ausschwitz, sei schlimmer und roher gewesen, als Mauthausen/Gunskirchen. Der Krieg war längst verloren, dennoch wurden in Gunskirchen noch Tausende bestialisch ermordet. Eine Texttafel blendet das Zitat eines US-Offiziers nach der Befreiung ein: „Ich bezweifle, dass irgendjemand von uns, die wir das gesehen haben, es jemals vergessen kann – den Geruch, die hunderten Leichen, die nur mehr Karikaturen von menschlichen Körpern waren. Das ist der dunkelste Winkel der Hölle!“
Auch Chanoch selbst verwendet im Film die Formulierung vom „Winkel der Hölle“ und sagt, dass dies der ganzen Welt als die „Lektion über Gunskirchen“ gelehrt werden solle. Er betont das Grauen in Österreich auch bei seinen zahlreichen Vorträgen als Zeitzeuge immer wieder und setzt sich bis heute erfolglos für die Errichtung eines angemessenen Denkmals ein. Denn Gunskirchen wurde von der Täter*innengesellschaft, die es sich schnell mit der Lüge von Österreich als erstem Opfer von Hitler bequem machte, sorgfältig vergessen. Erst im Vorjahr hat das Mauthausen-Komitee (MKÖ) die 4000 Quadratmeter Gunskirchner Wald gekauft, mit dem Vorsatz, an dem Ort eine Gedenk- und Lernstätte zu errichten.
Bei Mauthausen selbst ging das vollständige Verdrängen schlechter, denn es wurde bekanntlich auf einem Hügel errichtet, für alle umliegenden Häuser und Höfe einsehbar. Zudem wurden die Inhaftierten stets durch das Dorf getrieben, bevor sie der sadistischen SS-Mannschaft ausgeliefert wurden. Die Zivilbevölkerung wusste nicht nur was geschah, sondern packte auch mit an, wenn mal jemand entkommen konnte (2). In dieses Bild passt Chanochs Schilderung der Österreicher*innen, die auch nach der Befreiung keinerlei Freundlichkeit gegenüber den überlebenden Kindern und Erwachsenen zeigten, ihnen weder Essen noch Unterkunft boten, es sei denn, dies wurde von alliierten Soldaten befohlen. Er nennt als Ausnahme eine Frau, die ihm und anderen Hühnersuppe gab.
Chanoch konnte illegal, unterstützt von der gut organisierten jüdischen Brigade, nach Palästina fliehen. Immer wieder während seiner Erzählung kommt der damals noch nicht gegründete jüdische Staat als ein Ort vor, der ihm während der Schreckenszeit Hoffnung gab: ein kindliches Utopia, voll Sonne und Orangenbäumen. Es ist zum Glück im Jahr 1948 Realität geworden.
„A Boy’s Life – Kind Nummer B2826“ läuft gegenwärtig in den österreichischen Kinos.
Daniel Chanoch sprach zusammen mit seiner Enkeltochter im Jahr 2016 bei der Feier zur Befreiung vom NS-Regime (Fest der Freude) am 8. Mai am Wiener Heldenplatz
Text: Simon Stockinger
Fußnoten
1 Mauthausen war das einzige Konzentrationslager der Kategorie III innerhalb des deutsch-österreichischen NS-Reichsgebiets. Dies bedeutete „Vernichtung durch Arbeit“. Etwa 100 000 Menschen wurden in Mauthausen ermordet.
2 Insbesondere die unter dem euphemistischen Namen „Mühlviertler Hasenjagd“ bekannte Jagd und Ermordung von etwa 500 aus Mauthausen entkommenen Häftlingen steht für diese mörderische und freiwillige Mitarbeit der Zivilbevölkerung.