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A Boy’s Life: „Das ist der dunkelste Winkel der Hölle“

In dem Doku­men­tar­film „A Boy’s Life – Kind Num­mer B2826“ las­sen Chris­ti­an Krö­nes und Flo­ri­an Wei­gen­sa­mer den Sho­ah-Über­­­le­­ben­­den Dani­el Cha­noch sei­ne Geschich­te erzäh­len. Ein erschüt­tern­des Zeit­do­ku­ment über den NS-Tötungs­­ap­­pa­rat, das auch ein Licht auf die her­aus­ra­gen­de Bar­ba­rei des öster­rei­chi­schen Kon­zen­tra­ti­ons­la­gers Maut­hau­sen mit­samt sei­nem Außen­la­ger Guns­kir­chen wirft. Dani­el Cha­noch wur­de am 2. Febru­ar 1932 in Kau­nas, Litauen, […]

18. Okt 2023
Daniel Chanoch erzählt in "A Boy's Life" seine Überlebensgeschichte (© Stadtkino Filmverleih)

Dani­el Cha­noch wur­de am 2. Febru­ar 1932 in Kau­nas, Litau­en, gebo­ren. Er war erst acht, als die Nazis ein­mar­schier­ten und sei­ne Kind­heit been­de­ten. Er und sei­ne Fami­lie wur­den ent­eig­net und muss­ten in das Ghet­to Kau­nas. Nach des­sen Auf­lö­sung wur­de die Fami­lie in das KZ Stutt­hof gebracht, wo Cha­noch sei­ne Mut­ter und Schwes­ter das letz­te Mal sah. Anschlie­ßend kam er in das KZ Dach­au, wo er auch von Vater und Bru­der getrennt wur­de. Vor einem Trans­port nach Aus­schwitz-Bir­ken­au ent­stand eine außer­or­dent­li­che Soli­da­ri­tät unter den 131 Buben aus Kau­nas, die die Lager-SS für die Ver­nich­tung selek­tier­te – ein Zusam­men­halt, der sich als über­le­bens­wich­tig erwei­sen sollte.

In Aus­schwitz muss­te er mit ande­ren der Kin­der arbei­ten, Lei­chen von der Gas­kam­mer abtrans­por­tie­ren. Kurz vor der Befrei­ung von Aus­schwitz wur­de er zu einem der Todes­mär­sche in die „Ost­mark“ gezwun­gen, wo er zuerst im öster­rei­chi­schen Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Maut­hau­sen (1) ankam, dann in des­sen Neben­la­ger Guns­kir­chen muss­te, wo er am 5. Mai 1945 durch eine US-Infan­te­rie Divi­si­on befreit wur­de. Dani­el Cha­noch hat 44 Mona­te inner­halb der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ver­nich­tungs­ma­schi­ne­rie über­lebt. Von den 131 Buben aus Kau­nas haben 40 über­lebt. Die Ver­blie­be­nen tref­fen ein­an­der bis heute.

Der 91-jäh­ri­ge Dani­el Cha­noch erzählt die Geschich­te sei­nes Über­le­bens (© Stadt­ki­no Filmverleih)

Das Regie­duo Krö­nes und Wei­gen­sa­mer ver­lässt sich auf die von Cha­noch erzähl­te Geschich­te. Kon­trast­rei­che Schwarz-Weiß-Auf­nah­men zei­gen ihn meist nah und vor einem völ­lig schwar­zen Hin­ter­grund. Das Ein­zi­ge, was von sei­nen Sät­zen ablenkt, sind sorg­fäl­tig in die Nar­ra­ti­on mon­tier­te Aus­schnit­te von his­to­ri­schem Film­ma­te­ri­al. Dar­un­ter sind etwa rus­si­sche Pro­pa­gan­da eben­so wie eng­li­sche Sati­re gegen den NS, außer­dem ein Aus­schnitt aus dem Pro­zess gegen Adolf Eich­mann in Isra­el sowie US-Auf­klä­rungs­vi­de­os, die im Rah­men der „Ree­du­ca­ti­on“ des post­na­zis­ti­schen Deutsch­land gezeigt wur­den. Die­se Ein­schü­be sind sehr unter­schied­li­che Split­ter ver­schie­de­ner poli­tisch-kol­lek­ti­ver Deu­tun­gen des Gesche­hens. Sie unter­bre­chen die indi­vi­du­el­le Geschich­te, aber über­trump­fen sie nie. Sie geben eine unein­heit­li­che Ahnung von Kon­text, aber steh­len nie das Ram­pen­licht. Eine über­ge­ord­ne­te Erzähl­stim­me fehlt gänz­lich, nur dann und wann bie­ten Text­ta­feln eine Ein­ord­nung. So bleibt das Indi­vi­du­um, das sich erin­nert, stets im Zentrum.

Cha­noch schil­dert die not­wen­di­ge emo­tio­na­le Distanz, die er früh ler­nen muss­te, um zu über­le­ben. Er spricht sehr direkt und bestimmt, zuwei­len wirkt es kühl, was aber jene Momen­te, die von Soli­da­ri­tät han­deln, nur umso deut­li­cher her­vor­tre­ten lässt. Beson­ders stark und unfass­bar wirkt etwa, wenn er davon erzählt, wie die Kin­der im Ghet­to Kau­nas tote Vögel gesucht, ihnen Namen gege­ben und sie im Rah­men eines Ritu­als beer­digt haben, womit sie an den Tie­ren voll­zo­gen, was ihren regel­mä­ßig zu Erschie­ßun­gen abge­führ­ten Mit­ge­fan­ge­nen ver­wei­gert wurde.

Ein­drück­lich ist Cha­nochs glas­kla­re Beur­tei­lung von Maut­hau­sen und sei­nes Neben­la­gers Guns­kir­chen sowie auch der öster­rei­chi­schen (Zivil-)Bevölkerung. Es mutet irr­wit­zig an, vor dem Hin­ter­grund sol­cher Tötungs­or­te noch Unter­schei­dun­gen hin­sicht­lich ihrer Grau­sam­keit zu hören. Aber Cha­noch macht genau das unmiss­ver­ständ­lich. Nichts, auch nicht Aus­schwitz, sei schlim­mer und roher gewe­sen, als Mauthausen/Gunskirchen. Der Krieg war längst ver­lo­ren, den­noch wur­den in Guns­kir­chen noch Tau­sen­de bes­tia­lisch ermor­det. Eine Text­ta­fel blen­det das Zitat eines US-Offi­ziers nach der Befrei­ung ein: „Ich bezweif­le, dass irgend­je­mand von uns, die wir das gese­hen haben, es jemals ver­ges­sen kann – den Geruch, die hun­der­ten Lei­chen, die nur mehr Kari­ka­tu­ren von mensch­li­chen Kör­pern waren. Das ist der dun­kels­te Win­kel der Höl­le!

Auch Cha­noch selbst ver­wen­det im Film die For­mu­lie­rung vom „Win­kel der Höl­le“ und sagt, dass dies der gan­zen Welt als die „Lek­ti­on über Guns­kir­chen“ gelehrt wer­den sol­le. Er betont das Grau­en in Öster­reich auch bei sei­nen zahl­rei­chen Vor­trä­gen als Zeit­zeu­ge immer wie­der und setzt sich bis heu­te erfolg­los für die Errich­tung eines ange­mes­se­nen Denk­mals ein. Denn Guns­kir­chen wur­de von der Täter*innengesellschaft, die es sich schnell mit der Lüge von Öster­reich als ers­tem Opfer von Hit­ler bequem mach­te, sorg­fäl­tig ver­ges­sen. Erst im Vor­jahr hat das Maut­hau­sen-Komi­tee (MKÖ) die 4000 Qua­drat­me­ter Guns­kirch­ner Wald gekauft, mit dem Vor­satz, an dem Ort eine Gedenk- und Lern­stät­te zu errichten.

Bei Maut­hau­sen selbst ging das voll­stän­di­ge Ver­drän­gen schlech­ter, denn es wur­de bekannt­lich auf einem Hügel errich­tet, für alle umlie­gen­den Häu­ser und Höfe ein­seh­bar. Zudem wur­den die Inhaf­tier­ten stets durch das Dorf getrie­ben, bevor sie der sadis­ti­schen SS-Mann­schaft aus­ge­lie­fert wur­den. Die Zivil­be­völ­ke­rung wuss­te nicht nur was geschah, son­dern pack­te auch mit an, wenn mal jemand ent­kom­men konn­te (2). In die­ses Bild passt Cha­nochs Schil­de­rung der Österreicher*innen, die auch nach der Befrei­ung kei­ner­lei Freund­lich­keit gegen­über den über­le­ben­den Kin­dern und Erwach­se­nen zeig­ten, ihnen weder Essen noch Unter­kunft boten, es sei denn, dies wur­de von alli­ier­ten Sol­da­ten befoh­len. Er nennt als Aus­nah­me eine Frau, die ihm und ande­ren Hüh­ner­sup­pe gab.

Cha­noch konn­te ille­gal, unter­stützt von der gut orga­ni­sier­ten jüdi­schen Bri­ga­de, nach Paläs­ti­na flie­hen. Immer wie­der wäh­rend sei­ner Erzäh­lung kommt der damals noch nicht gegrün­de­te jüdi­sche Staat als ein Ort vor, der ihm wäh­rend der Schre­ckens­zeit Hoff­nung gab: ein kind­li­ches Uto­pia, voll Son­ne und Oran­gen­bäu­men. Es ist zum Glück im Jahr 1948 Rea­li­tät geworden.

Dani­el Cha­noch mit einem Bild, das ihn und sei­nen Bru­der Uri zeigt, den er nach der Befrei­ung als ein­zi­gen Über­le­ben­den sei­ner Fami­lie in Ita­li­en wie­der traf (© Stadt­ki­no Filmverleih)

„A Boy’s Life – Kind Num­mer B2826“ läuft gegen­wär­tig in den öster­rei­chi­schen Kinos.

Dani­el Cha­noch sprach zusam­men mit sei­ner Enkel­toch­ter im Jahr 2016 bei der Fei­er zur Befrei­ung vom NS-Regime (Fest der Freu­de) am 8. Mai am Wie­ner Heldenplatz

Text: Simon Stockinger

Fußnoten

1 Maut­hau­sen war das ein­zi­ge Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger der Kate­go­rie III inner­halb des deutsch-öster­rei­chi­schen NS-Reichs­ge­biets. Dies bedeu­te­te „Ver­nich­tung durch Arbeit“. Etwa 100 000 Men­schen wur­den in Maut­hau­sen ermordet.
2 Ins­be­son­de­re die unter dem euphe­mis­ti­schen Namen „Mühl­viert­ler Hasen­jagd“ bekann­te Jagd und Ermor­dung von etwa 500 aus Maut­hau­sen ent­kom­me­nen Häft­lin­gen steht für die­se mör­de­ri­sche und frei­wil­li­ge Mit­ar­beit der Zivilbevölkerung.

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