Michael Butter „Explosive Mischung“
In: Der Spiegel, Nr. 38, 12.9.20 (Beitrag hinter der Bezahlschranke)
Die Mächtigen trinken Kinderblut, die Mondlandung war ein Fake, Corona ist eine Erfindung. Wer so etwas glaubt, sei unerreichbar für Argumente, sagt der Forscher Michael Butter.
Butter, 43, ist Professor für amerikanische Literatur und Kulturgeschichte an der Universität Tübingen und Experte für Verschwörungstheorien.
SPIEGEL: Herr Butter, Sie halten einen Großteil der Menschen, die gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung demonstrieren, für Anhänger von Verschwörungstheorien. Warum?
Butter: Sie sind mit rationalen Argumenten nicht zu erreichen und zeigen offensiv, dass sie das Virus entweder für eine Erfindung oder eine maßlos überzeichnete Gefahr halten. Sie tragen keine Masken, ignorieren Abstandsregeln und glauben an eine typische Erzählung.
SPIEGEL: Welche denn?
Butter: Dass die Eliten, also Politiker, Wissenschaftler und traditionelle Medien, ein Bedrohungsszenario künstlich hochhalten, um eigene Privilegien abzusichern und den normalen Menschen ihre Rechte zu nehmen. In Ländern, die in der Pandemie mehr Tote beklagen müssen, herrschen andere Narrative vor, dort spielen Biowaffen, die das Virus freigesetzt haben sollen, eine Hauptrolle. Als man anfangs bei uns mit einer ähnlichen Zahl von Kranken wie in Italien oder Frankreich rechnete, war diese Variante auch hier stärker verbreitet.
(…)
SPIEGEL: Verschwörungstheoretiker fühlen sich besser?
Butter: Die Theorien bestätigen die eigene Weltdeutung – und entlassen einen aus der Verantwortung. Wer die Gefahr, die von Corona ausgeht, für überzeichnet hält, muss sich weder an die neuen Regeln halten noch um seine Gesundheit oder seine Angehörigen fürchten. Und da er alle, die sich sorgen, als Fußtruppen eines feindlichen Komplotts ansehen kann, muss er sich nicht einmal grämen, wenn er ihr Recht auf Unversehrtheit missachtet.
(…)
SPIEGEL: Was können Politiker tun, um solche Menschen zurückzugewinnen?
Butter: Wenig. Wir wissen aus einer Reihe von Studien, dass überzeugte Anhänger irrationaler Ideen noch stärker daran glauben, wenn man Gegenbeweise vorlegt. Allenfalls können Familienmitglieder oder Freunde ein Umdenken bewirken.
SPIEGEL: Was können die tun?
Butter: Sie sollten fragen, warum der andere an all diese Dinge glaubt, dürfen dabei aber nicht amüsiert, wütend oder irritiert wirken. Im Idealfall setzt diese Offenheit eine Selbstreflexion in Gang. Es ist ein langer, oft erfolgloser Prozess, aber es ist sinnvoll, Initiativen zu unterstützen, in denen Angehörige solche Strategien lernen können. Mittelfristig kann von Corona-Leugnern ja tatsächlich eine Gefahr ausgehen.
SPIEGEL: Woran denken Sie?
Butter: Sollte sich aus dem Protest eine typische populistische Bewegung entwickeln, in der sich Verschwörungstheoretiker mit einer Masse unzufriedener, unglücklicher Menschen verbünden, könnte es deutlich brenzliger werden als jetzt. Die Mischung aus Irrationalität und Frust ist explosiv, weil dann die Stunde antidemokratischer Parteien schlägt. Und schon heute zeigen die Proteste, dass unsere Gesellschaft in wichtigen Fragen auseinanderläuft.
Bernd Gutberlet: „Babys mit Kuhohren“
In: Der Spiegel, Nr. 44, 24.10.20 (Beitrag hinter der Bezahlschranke oder hier)
Der Historiker Bernd Gutberlet erklärt, warum die Menschen früher schon irrational auf Seuchen reagierten.
Gutberlet, 53, arbeitet als Historiker und Autor in Berlin. Er hat über medizinhistorische Themen rund um Pest und Polio geschrieben und sich nun, anlässlich der Corona-Pandemie, besonders der Seuchengeschichte Berlins und Preußens zugewandt.
SPIEGEL: Laut der Umfrage ist einer von 100 Verschwörungstheoretikern sicher, dass „das Judentum” zu jenen „geheimen Mächten” gehört, die die Weltherrschaft anstreben – wie viel hat sich geändert, seit im Mittelalter der Schwarze Tod umging?
Gutberlet: Offenbar wenig. Im 14. Jahrhundert, als die Pest in Europa grassierte, wurden auch schon die Juden beschuldigt. Es hieß, sie wollten die Christen ermorden und hätten die Brunnen vergiftet. Diese Lüge hatte verheerende Auswirkungen auf die jüdischen Gemeinden in vielen europäischen Ländern. Andererseits waren die Leute damals aber auch nicht völlig verblendet. Zwar gab es keine Wissenschaft, die Sachverhalte hätte aufklären können — aber den gesunden Menschenverstand. Immer wieder wurde darauf hingewiesen, wie abwegig der Vorwurf war. Und diese Hinweise kamen auch von ganz oben in den weltlichen und kirchlichen Hierarchien: Warum sollten Juden die Brunnen vergiften, aus denen sie selber ihr Wasser bezogen? Warum, wenn sie das Ganze angezettelt haben sollten, starben Juden genauso an der Pest wie Christen?
SPIEGEL: Wovon hängt es ab, ob eine Verschwörungstheorie verfängt?
Gutberlet: Verschwörungstheorien sind ja zunächst einmal nur Erklärungsversuche, insofern müssen sie den Menschen vor allem einleuchten. Im Spätmittelalter war das naheliegende Erklärungsmodell vorgegeben vom christlichen Weltbild: die Krankheit als Strafe Gottes für die Sündhaftigkeit der Menschen. Abwenden lasse sich die Seuche nur, indem man sich Gott ergebenst zuwende — und das taten viele. Ein Beispiel dafür sind die Geißlerzüge, die Mitte des 14. Jahrhunderts wieder populär wurden.
SPIEGEL: Der strafende Gott blieb ein Klassiker. Wurde ihm später auch die Cholera zugeschrieben?
Gutberlet: Die Cholera war die Schreckenskrankheit des 19. Jahrhunderts, die maßgeblich dazu diente, den besonders betroffenen ärmeren Schichten ihre angeblich unmoralische Lebensweise vorzuhalten. Sie grassierte nämlich wegen der miserablen hygienischen Bedingungen vor allem in den Armenvierteln der Städte. Dort waren viele Menschen der festen Überzeugung, es handle sich gar nicht um eine ansteckende Krankheit, vielmehr würden die Reichen sie mit Arsen vergiften wollen, um sie zu dezimieren.
SPIEGEL: Und das soll eine einleuchtende Erklärung gewesen sein?
Gutberlet: Ja, das war gar nicht mal so weit hergeholt, weil die Symptomatik der Cholera der einer Arsenvergiftung durchaus ähnelt: Durchfall, Erbrechen, Verwirrtheit, Koma. Und in der Tat trat die Cholera zur Zeit der Pauperismuskrise auf, als die drastische Armut in den europäischen Ländern zu einem Problem wurde.
(…)
SPIEGEL: Ein Impfstoff könnte helfen. Wie haben die Leute vor mehr als 200 Jahren auf die erste nachweisbar wirksame Vakzine gegen Pocken reagiert?
Gutberlet: Größtenteils mit Euphorie. Die Pocken waren damals eine der wichtigsten Todesursache für unter Fünfjährige. Vor Einführung der Impfung starben daran in Deutschland jedes Jahr rund 70.000 Kinder! Jede Familie wartete bang darauf, wann die sogenannte Kinderpest zuschlagen würde – und ob die Kleinen sie überleben würden. Mit der Impfung ging die Sterblichkeit dann schnell zurück.
SPIEGEL: Also regte sich kaum Widerstand?
Gutberlet: O doch, umstritten war die Impfung trotzdem von Anfang an, es ging auch um einen Impfzwang, der wurde heiß diskutiert. Wir reden hier von der Zeit der Aufklärung, es galt das Ideal der Mündigkeit jedes Einzelnen — da sollte der Einzelne entscheiden können, ob er sein Kind impfen lässt oder nicht. Das gab selbst Immanuel Kant zu bedenken.
(…)
SPIEGEL: Heute geschieht ja oft Folgendes: Die Vakzine wirkt, die Krankheit verschwindet, Impfmüdigkeit macht sich breit. Gab es so etwas damals schon?
Gutberlet: Bei der Pockenimpfung passierte genau das. Irgendwann schätzten Eltern die Gefahr durch die Impfung plötzlich größer ein als die Gefahr durch die Krankheit, die Impfquote ging zurück. Und so kam es, dass die Pocken ab 1870 Europa noch einmal heimsuchen konnten. Es gibt beim Impfen das gleiche Paradox wie bei den Corona-Schutzmaßnahmen: Menschen verweigern sich, weil sie die Gefahr für gering halten, dabei ist die Gefahr nur gering, weil sich vorher alle an die Schutzmaßnahmen gehalten haben.
Dina Wyler: „Antisemitismus ist populärer geworden“
In: NZZ, 8.12.20 (Beitrag nach Anmeldung)
Dina Wyler ist seit dem 1. August 2020 Geschäftsführerin der Schweizer Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus in Zürich. An der Boston University machte sie den Master in Internationalen Beziehungen und Religion. Zusammen mit dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund organisiert die Stiftung den Antisemitismusbericht für die Deutschschweiz.
NZZ: Frau Wyler, Sie beobachten, dass der Antisemitismus in der Corona-Krise erstarkt ist. Wieso?
Wyler: In Krisenzeiten hat der Antisemitismus Hochkonjunktur. Wenn Menschen verunsichert sind, kommen uralte Verschwörungstheorien wieder hoch.
NZZ: Weshalb?
Wyler: Sie vereinfachen die Realität, sie teilen ein – in Freund und Feind. Ein Sündenbock hilft mit dem Ohnmachtsgefühl umzugehen. Und leider ist dieser Sündenbock oft jüdisch.
NZZ: Können Sie ein Beispiel nennen?
Wyler: Während der Pest hiess es, die Juden hätten die Brunnen vergiftet. Auch in der Schweiz wurden dann Juden ermordet.
NZZ: Warum sind die Juden häufig der Sündenbock?
Wyler: Das hat mit alten Stereotypen zu tun, die in den Köpfen der Menschen sind. Die Juden wurden immer als nicht zugehörig beschrieben. Es hiess, dass sie heimlich die Gesellschaft infiltrierten. Dieses Gedankengut ist tief verankert, in einer Krise kommt es dann zum Vorschein. Der Antisemitismus war nie weg. Aber er war weniger salonfähig. Die Grenze dessen, was man sagen darf, hat sich verschoben.
NZZ: Was meinen Sie damit?
Wyler: Leute, die sich gegen die Maskenpflicht wehren, vergleichen sich mit Sophie Scholl. Und sie tun das, während sie demonstrieren, also ihr Meinungsäusserungsrecht ausüben. Das ist absurd! Sophie Scholl musste heimlich protestieren, weil sie Angst hatte, vom Staat ermordet zu werden – was dann ja auch tatsächlich passiert ist. Solche Vergleiche gehen nicht. Ich erwarte einen Aufschrei in der Gesellschaft.