Gedenkkultur: Kein Lernen aus der Geschichte!

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Am 8. März fand im Wie­ner Rat­haus eine Ver­an­stal­tung zum zehn­jäh­ri­gen Bestehen des Ver­eins „IM-MER Maly Tros­ti­nec erin­nern“ statt. Die Fest­re­de hielt die His­to­ri­ke­rin und Natio­nal­rats­ab­ge­ord­ne­te Eva Blim­lin­ger. Sie stellt unse­re gewohn­ten For­men von Gedenk­kul­tur infra­ge und for­dert: „Wir müs­sen vie­le Weg gehen und neue Wege anle­gen, und wir müs­sen auf die Wege gehen, wo die ande­ren Wirs gehen – es wird eine lan­ge Wan­de­rung.“ Viel Stoff zum Nach­den­ken, den uns Eva Blim­lin­ger mitgibt.

Unser Dank gilt Eva Blim­lin­ger, die uns ihre bemer­kens­wer­te Rede zur Ver­fü­gung gestellt hat!

Eva Blimlinger anlässlich der Zehnjahres-Feier Verein "IM-MER Maly Trostinec erinnern" (Foto © Niki Kunrath)

Eva Blim­lin­ger anläss­lich der Zehn­jah­res-Fei­er Ver­ein „IM-MER Maly Tros­ti­nec erin­nern” (Foto © Niki Kunrath)

Die­se Rede wur­de von Eva Blim­lin­ger anläss­lich der 10 Jah­res-Fei­er IM-MER Maly Tros­ti­nec erin­nern (Wal­traud Bar­ton) am 8. März 2020 im Wie­ner Rat­haus gehal­ten. Es gilt das gespro­che­ne Wort.

Sehr geehr­te Damen und Herren,

lie­be Wal­traud Barton

Am 27. Jän­ner wur­de, fast kann man sagen welt­weit, an die Befrei­ung des Kon­zen­tra­ti­ons­la­gers Ausch­witz vor 75 Jah­ren gedacht: Medi­en­kam­pa­gnen, Aktio­nen, Gedenk­ver­an­stal­tun­gen, inter­na­tio­na­le Kon­gres­se, Staats­be­su­che, Gedenk­mi­nu­ten, Tafeln in den Social Medi­en mit dem Hash­tag WeRe­mem­ber und und und und – damit ver­bun­den ein Nie­mals ver­ges­sen. All das soll­te dar­an erin­nern, dass in den Ver­nich­tungs­la­gern der Natio­nal­so­zia­lis­ten Mil­lio­nen von Men­schen ermor­det wor­den sind. „Ausch­witz zu besu­chen, ist nicht leicht. Aber es ist not­wen­dig. Ich emp­fin­de tie­fes Ent­set­zen dar­über, was hier im KZ Ausch­witz-Bir­ken­au Kin­dern, Frau­en und Män­nern ange­tan wur­de“ (1), so Bun­des­prä­si­dent Alex­an­der van der Bel­len anläss­lich des Besuchs der KZ-Gedenk­stät­te Ausch­witz-Bir­ken­au im Jän­ner die­ses Jahres.

Bei einer Tref­fen von über 50 Staats­chefs in Yad Vashem/Israel hat Frank Wal­ter Stein­mei­er, Bun­des­prä­si­dent der Repu­blik Deutsch­land, gesagt: „Deutsch­land muss sich immer an die Ver­bre­chen im Natio­nal-Sozia­lis­mus erin­nern. Wir dür­fen nie­mals damit auf­hö­ren. Schon gar nicht jetzt, wo sich Hass und Het­ze in Deutsch­land wie­der aus­brei­ten.“ (2) Und Van der Bel­len in der KZ-Gedenk­stät­te: „Der Kampf gegen Anti­se­mi­tis­mus und Ras­sis­mus ist mir per­sön­lich sehr wich­tig. Der Anti­se­mi­tis­mus und Ras­sis­mus der Natio­nal­so­zia­lis­ten ist nicht vom Him­mel gefal­len. Er war schon zuvor in der öster­rei­chi­schen Gesell­schaft sehr stark prä­sent. Aus Abwer­tung von Men­schen wur­de Aus­gren­zung, wur­de Ent­mensch­li­chung, wur­de Ermor­dung. Der Holo­caust war der grau­sa­me Höhe­punkt. Es ist daher unser gemein­sa­mer fes­ter Wil­le und unse­re Pflicht, jedem Auf­kei­men von Men­schen­ver­ach­tung, Ras­sis­mus und Anti­se­mi­tis­mus in der Gegen­wart ent­schie­den und kom­pro­miss­los ent­ge­gen­zu­tre­ten.“ (3)

Ja, ich den­ke, dar­über sind wir uns einig, wir, die hier ein Jubi­lä­um bege­hen, zu dem ich Wal­traud Bar­ton sehr sehr herz­lich gra­tu­lie­re, wir, die wir seit Jah­ren und Jahr­zehn­ten dar­an arbei­ten, sei es in der Wis­sen­schaft, der For­schung, der Kunst, sei es in den Schu­len, sei es an der Uni­ver­si­tät, sei es in der Erwach­se­nen­bil­dung, sei es in Orga­ni­sa­tio­nen, sei es in Muse­en oder Kul­tur­ver­ei­nen, sei es im Kino oder im Fern­se­hen. Ich kann nicht alles auf­zäh­len – es sind vie­le in unter­schied­lichs­ten Zusam­men­hän­gen, mit ver­schie­dens­ten Moti­va­tio­nen. Wir dür­fen – wie Stein­mei­er sagt – nie­mals damit auf­hö­ren, und wir wer­den es auch sicher­lich nicht – aber die Fra­ge ist, wie sol­len wir es in Zukunft machen?

Denn es gibt eben auch ande­re Wirs, die das ganz und gar nicht so sehen, wenn sie, wie in Hal­le gesche­hen, an Yom Kip­pur am 19 Okto­ber 2019 einen Anschlag auf die dor­ti­ge Syn­ago­ge durch­füh­ren, bei der zwei Men­schen ermor­det wor­den sind. Geplant war, mög­lichst vie­le Besu­cher und Besu­che­rin­nen des Got­tes­diens­tes zu ermor­den. Oder das ras­sis­ti­sche Atten­tat in Hanau gegen die Besu­cher und Besu­che­rin­nen von Shi­sha Bars, bei dem zehn Per­so­nen ermor­det wor­den sind. Die anti­se­mi­ti­schen und ras­sis­ti­schen Atten­ta­te sind nur die grau­en­vol­le Spit­ze eines Eis­bergs der ande­ren Wirs, der ande­ren kol­lek­ti­ven Gedächt­nis­se. Die ande­ren Wirs grei­fen zu viel­fäl­ti­gen Mit­teln, um ihrem Anti­se­mi­tis­mus, ihrem Ras­sis­mus Aus­druck zu ver­lei­hen. Und ja, es sind Kol­lek­ti­ve – und die haben ihr eige­nes Gedächt­nis. Es sind nicht die immer wie­der behaup­te­ten Ein­zel­tä­ter, die ohne gesell­schaft­li­che Ver­an­ke­rung in anti­se­mi­ti­schen und ras­sis­ti­schen Zusam­men­hän­gen dies und das machen. Es geht kein Ein­zel­ner auf einen jüdi­schen Fried­hof und zer­stört und schän­det dort Grab­stei­ne und Grä­ber – es sind Wirs.

Egal, ob im Schul­klo oder auf der Uni­ver­si­tät, egal ob in der Stra­ßen­bahn, im Bus oder in der U‑Bahn, auf dem Haus neben­an, am Arbeits­platz, im Stie­gen­haus oder auf der Haus­tü­re – wir fin­den sie über­all, die anti­se­mi­ti­schen und ras­sis­ti­schen Graf­fi­tis der ande­ren Wirs. (4) Egal ob auf Face­book, Twit­ter, Insta­gram wir fin­den sie über­all die anti­se­mi­ti­schen und ras­sis­ti­schen Mel­dun­gen, Fotos, Tweets der ande­ren Wirs.

Erst neu­lich haben wir – also die Abge­ord­ne­ten zum Natio­nal­rat – ein­stim­mig einen Ent­schlie­ßungs­an­trag betref­fend Ver­ur­tei­lung von Anti­se­mi­tis­mus und der BDS-Bewe­gung beschlos­sen. Dar­in for­dern wir die Bun­des­re­gie­rung auf, eine ganz­heit­li­che Stra­te­gie zur Ver­hü­tung und Bekämp­fung aller For­men von Anti­se­mi­tis­mus als Teil ihrer Stra­te­gien zur Ver­hü­tung von Ras­sis­mus, Frem­den­feind­lich­keit, Radi­ka­li­sie­rung und gewalt­be­rei­tem Extre­mis­mus unter enger Ein­be­zie­hung aller rele­van­ten Stel­len zu entwickeln.

Wie kann denn so eine Stra­te­gie ent­wi­ckelt wer­den? Wie kann eine Stra­te­gie ent­wi­ckelt wer­den, die das alles ver­hü­ten und bekämp­fen soll? Wie kann eine Stra­te­gie ent­wi­ckelt wer­den, die Bezug nimmt auf die Geschich­te des Anti­se­mi­tis­mus, des Ras­sis­mus, des Natio­nal­so­zia­lis­mus, um Kon­zep­te für die Zukunft zu ent­wi­ckeln. Wir, also die Abge­ord­ne­ten zum Natio­nal­rat, haben hier ein­stim­mig zuge­stimmt – aber ob wir da inhalt­lich alle ein Wir sind, das ist jeden­falls zu bezwei­feln. Es fand sich kein/e Red­ner oder Red­ne­rin der FPÖ, der oder die sich dazu äußern woll­te – bemer­kens­wert, um es vor­sich­tig aus­zu­drü­cken. Zu Anti­se­mi­tis­mus und Ras­sis­mus hat die FPÖ also nichts zu sagen.

Ja, wir dür­fen nie­mals damit auf­hö­ren zu for­schen, zu geden­ken zu erin­nern, auf­zu­klä­ren, wei­ter­zu­bil­den, zu war­nen und und und. Aber manch­mal, dann, wenn ich wie­der ein­mal an einer Haus­wand ein Haken­kreuz sehe, ein SS in Runen­schrift und dane­ben 88 lesen muss, dann, wenn ich lese, dass Grab­stei­ne am jüdi­schen Fried­hof beschmiert wor­den sind, dann packen mich der Ärger und die Wut und manch­mal auch ein biss­chen die Resi­gna­ti­on – nützt denn das alles nichts, was wir dage­gen machen, was Gene­ra­tio­nen seit 1945 dage­gen gemacht haben, die Bücher und die Vor­trä­ge, die Fil­me und Doku­men­ta­tio­nen, die Erinnerungs‑, Mahn­ma­le, Stei­ne der Erin­ne­rung und Grab­stei­ne, die Kon­gres­se und Dis­kus­sio­nen und und und. Wir machen irgend­was falsch, oder sagen wir oder sage ich es posi­ti­ver: Wir machen offen­sicht­lich zu wenig rich­tig, denn sonst wäre es mit dem Anti­se­mi­tis­mus, dem Ras­sis­mus längst vor­bei – ist es aber nicht, und Neo­na­zis ren­nen nicht nur in Öster­reich in manch ande­ren Ver­klei­dun­gen und mit ande­ren Chif­fren her­um, son­dern fin­den sich über­all in Euro­pa. Es gibt lei­der – auch wenn das immer wie­der beschwo­ren wird – kein Ler­nen aus der Geschich­te. Wenn das so wäre, wür­de es kei­ne Krie­ge, kei­nen Anti­se­mi­tis­mus, kei­ne Ras­sis­mus, kei­ne Dis­kri­mi­nie­rung von Min­der­hei­ten, wie zum Bei­spiel LGBTQIA+ geben.

Geden­ken und Mah­nen ist ein Weg, wie der Erin­ne­rung an den Natio­nal­so­zia­lis­mus und auch der damit ver­bun­de­nen Hoff­nung, gegen das Ver­ges­sen zu agie­ren, begeg­net wird. Mahn­ma­le ver­ste­hen sich oder wer­den von jenen, die eine Errich­tung wün­schen, als Orte des mah­nen­den Erin­nerns oder, ich wür­de sagen, Geden­kens ver­stan­den – das im Zusam­men­hang mit der Idee des kol­lek­ti­ven Gedächt­nis steht. Auch beim Mas­siv der Namen. Ein Denk­mal für die Öster­rei­chi­schen Opfer der Shoa in Maly Tros­ti­nec stand im Antrag der Bür­ger­initia­ti­ve, um die For­de­rung „Maly Tros­ti­nec als Ort der Ver­nich­tung im kol­lek­ti­ven Gedächt­nis Öster­reichs zu ver­an­kern“ (5). Ich kann dem Kon­zept des kol­lek­ti­ven und kul­tu­rel­len Gedächt­nis­ses, wie es vor allem von Mau­rice Halb­wachs begrün­det und von Jan Ass­mann und Alei­da Ass­mann wei­ter­ent­wi­ckelt wur­de, nicht fol­gen. (vgl. Halb­wachs 1991; Jan Ass­mann 1997; Alei­da Ass­mann 1999) Die­ses Kon­zept eig­net sich nicht für die Ent­wick­lung von geeig­ne­ten Stra­te­gien, denn die Kol­lek­ti­ve, denn die Wirs sind in höchs­ten Maße dif­fe­rent, und in die­sem Sin­ne sind das auch ihre Gedächt­nis­se – es gibt kein öster­rei­chi­sches kol­lek­ti­ves Gedächt­nis. Las­sen Sie mich das kurz am Bei­spiel von Denk- und Mahn­ma­len – Wal­traud Bar­ton spricht immer von Grab­mal in Maly Tros­ti­nec – verdeutlichen.

Der Wunsch jener, die die Errich­tung eines Mahn­mals wol­len, ist oft­mals ver­bun­den mit einer ästhe­ti­schen und funk­tio­na­len Vor­stel­lung, wie nun die­ses Mahn­mal sein und wel­che Anfor­de­run­gen es erfül­len soll. Für Maly Tros­ti­nec war es die Idee von Wal­traud Bar­ton, die Namen jener mehr als 9.700 Men­schen zu nen­nen, die zwi­schen Novem­ber 1941 und Okto­ber 1942 von den Nazis aus soge­nann­ten Sam­mel­woh­nun­gen in Wien geholt, quer durch die Stadt getrie­ben und per Zug Rich­tung Osten gefah­ren – ins­ge­samt gab es zehn sol­che Trans­por­te – wur­den. Sie wur­den wie 50.000 ande­re dort umge­bracht bzw. gin­gen im nahe­ge­le­gen Ghet­to Minsk zugrun­de. Sie wur­den erschos­sen oder in Gas­wa­gen mit Aus­puff­ga­sen erstickt. Kein Grab – „wir schau­feln ein Grab in den Lüf­ten, da liegt man nicht eng“ (6) wie es Paul Celan in sei­nem Gedicht Todes­fu­ge nannte.

Mahn­ma­le wer­den auf­ge­la­den mit Wün­schen und Pro­gram­men, etwa jenen, dass über die Ver­bre­chen der Nationalsozialist*innen auf­ge­klärt, dass infor­miert wer­den soll, dass Mate­ria­li­en für Jugend­li­che ver­füg­bar sein sol­len. Das Denk­mal, das Mahn­mal als Gedächt­nis­hil­fe bezie­hungs­wei­se Gedächt­nis­stüt­ze, wie der eigent­li­che Wort­sinn meint, funk­tio­niert aber nur dann, wenn wir etwas wis­sen, denn erin­nern an die­se Zeit kön­nen nur mehr weni­ge. Und die­je­ni­gen, die sich erin­nern kön­nen, weil sie es selbst er- und über­lebt haben oder weil die Fami­li­en, die Freun­de und Freun­din­nen invol­viert waren, sind durch die jahr­zehn­te­lan­ge Dis­kri­mi­nie­rung oft immer noch vor­sich­tig, kön­nen oder wol­len nicht spre­chen und wer­den in eini­gen Jah­ren – Stich­wort das Ende der Zeit­zeu­gen­schaft – auch nicht mehr live erzäh­len kön­nen. Auf­klä­rung über das, was war, was gesche­hen ist, kann und soll ein Mahn­mal, wenn es als jenes im Sin­ne eines Denk­mals, auch eines Trau­er­or­tes ver­stan­den wird, jedoch nicht leis­ten. Es ist eine künst­le­risch-inhalt­li­che ästhe­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung mit der The­ma­tik, denn kom­ple­xe his­to­ri­sche Sach­ver­hal­te las­sen sich nicht über Mahn­ma­le erklä­ren oder gar dar­stel­len und schon gar nicht in einem behaup­te­ten kol­lek­ti­ven Gedächt­nis ver­an­kern Ein Mahn­mal kann also nur ein Teil, ein Aus­gangs­punkt sein, darf als Arte­fakt nicht funk­tio­na­li­siert wer­den, son­dern muss für sich les­bar und ver­steh­bar sein. Selbst­ver­ständ­lich kön­nen und sol­len vor­lie­gen­de wis­sen­schaft­li­che Ergeb­nis­se als Basis die­ses ästhe­ti­schen Erkennt­nis­pro­zes­ses dienen.

Wäh­rend Denk­mä­ler tra­di­tio­nell von Staats wegen Top-down, wie man heu­te sagen wür­de, vor allem aus poli­ti­schen Reprä­sen­ta­ti­ons­grün­den errich­tet wer­den – wie etwa das Denk­mal der Exe­ku­ti­ve beim äuße­ren Burg­tor oder das vor eini­ger Zeit auf dem Buda­pes­ter Frei­heits­platz auf­ge­stell­te umstrit­te­ne Denk­mal zur Erin­ne­rung an die deut­sche Besat­zung 1944 oder das 2013 errich­te­te Denk­mal für den ehe­ma­li­gen unga­ri­schen Reichs­ver­we­ser und Hit­ler-Ver­bün­de­ten Miklós Hor­thy in Buda­pest –, ist der Weg der Errich­tung von Mahn­ma­len meist ein ande­rer: ein Bot­tom-up-Ver­fah­ren (7) – initi­iert von Bürger_inneninitiativen, regio­na­len Grup­pen, betrof­fe­nen Per­so­nen oder Hausbewohner_innen wie etwa bei den Stol­per­stei­nen oder eben beim „Mas­siv der Namen“ (8) in Maly Tros­ti­nec. In Öster­reich – und für Öster­rei­che­rin­nen und Öster­rei­cher – sind nahe­zu alle Mahn­ma­le und Erin­ne­rungs­zei­chen von Grup­pen der Zivil­ge­sell­schaft ein­ge­for­dert wor­den, nur äußerst sel­ten wur­den die Repu­blik, die Län­der oder gar Gemein­den ohne Anre­gung oder Auf­re­gung tätig, ähn­lich wie bei den Maß­nah­men zur Ent­schä­di­gung oder Rück­stel­lung nach 1945. Die­ser Bot­tom-up-Pro­zess ist bis hin zur Rea­li­sie­rung in den meis­ten Fäl­len ein lang­wie­ri­ger und müh­sa­mer, ja noch immer – und wer ist hier das Wir? Und wel­ches kol­lek­ti­ve Gedächt­nis ist hier die Grundlage?

Den Rea­li­sie­run­gen geht nach wie vor zunächst eine poli­ti­sche Debat­te über die Fra­gen, war­um über­haupt und war­um für die­se Grup­pe und wozu, vor­an. Der zwei­te Kom­plex der Debat­te gilt in der Regel dem Stand­ort, wie etwa die Bei­spie­le des Mahn­mals für die öster­rei­chi­schen jüdi­schen Opfer der Sho­ah am Juden­platz – hier gab es eine Initia­ti­ve der Anrainer_innen, die sich gegen den Juden­platz als Auf­stel­lungs­ort aus­spra­chen – oder auch des Denk­mals für die Ver­folg­ten der NS-Mili­tär­jus­tizam Wie­ner Ball­haus­platz, des­sen Stand­ort immer wie­der von Ver­ant­wort­li­chen infra­ge gestellt wur­de, zei­gen. Ohne zen­tra­len Stand­ort – so es nicht ein sich aus der Geschich­te erge­ben­der Erin­ne­rungs­ort, wie er etwa Maly Tros­ti­nec ist – wird aber der Sinn und die Bedeu­tung eines Mahn­mals marginalisiert.

Die­se Erin­ne­rungs­zei­chen ste­hen an sich in der Tra­di­ti­on des Krie­ger­denk­mals, das nahe­zu in jeder öster­rei­chi­schen Gemein­de steht, meist für die getö­te­ten und nament­lich genann­ten Sol­da­ten der bei­den Welt­krie­ge, manch­mal auch für die zivi­len Toten. Der tat­säch­li­chen Opfer des Natio­nal­so­zia­lis­mus wird hin­ge­gen nur sel­ten bis gar nicht gedacht – und sie wer­den auch sel­ten nament­lich genannt. Dort, beim Krie­ger­denk­mal wird die Form des Denk­mals mit der Tra­di­ti­on des Grab­mals ver­bun­den und das Krie­ger­denk­mal ver­leiht dem Tod des Gefal­le­nen Sinn und ver­herr­licht die­sen Tod vor allem im Zusam­men­hang mit einer natio­na­lis­ti­schen Opfer­per­spek­ti­ve. Das Mahn­mal ver­wei­gert zunächst die­sen Appell und dekon­stru­iert einen Anspruch der natio­na­len Sinn­stif­tung. Die Dar­stel­lung – und hier ist im Grun­de frag­lich, ob sich dies über­haupt dar­stel­len lässt – von Trau­er, Schuld, Ver­ant­wor­tung in einem Medi­um, wel­ches tra­di­tio­nell der Legi­ti­ma­ti­on und Iden­ti­täts­stif­tung dient, erscheint nur auf den ers­ten Blick para­dox. Die­ser Wider­spruch lässt sich jedoch inso­fern auf­lö­sen, als ein dif­fe­ren­tes Iden­ti­täts­an­ge­bot geschaf­fen wird, denn letzt­lich ist auch die Fra­ge zu stel­len, ob nicht damit eine Gegen­er­zäh­lung eta­bliert wer­den kann, deren Absicht eine Hege­mo­nia­li­sie­rung ist, ja aus mei­ner Sicht sein muss. Durch das zuneh­men­de Bedürf­nis – in den letz­ten 20 Jah­ren – der Namens­nen­nung von Opfern des Natio­nal­so­zia­lis­mus jeweils in einem natio­na­len Kon­text bei Mahn­ma­len ord­nen sich die­se immer mehr in die Tra­di­ti­on der Krie­ger­denk­mä­ler ein, und die vor­hin insi­nu­ier­te Para­do­xie löst sich auf.

Las­sen Sie mich zum Schluss kom­men: Mei­ne Fra­ge nach einer Stra­te­gie, wie ich sie ange­sichts des unver­än­dert bestehen­den Anti­se­mi­tis­mus und Ras­sis­mus gestellt habe, rich­tet sich zunächst an mich sel­ber. Ich muss Ihnen sagen, ich weiß es nicht, ich weiß es nicht, ob wir also zum Bei­spiel wir hier, etwas ent­wi­ckeln kön­nen, das zu weni­ger Anti­se­mi­tis­mus, zu weni­ger Ras­sis­mus führt – und den­noch müs­sen wir hier wei­ter arbei­ten, all das, was ich zu Beginn erwähnt habe, wei­ter machen, bes­ser machen – dif­fe­ren­zier­ter einer­seits und all­ge­mein ver­ständ­li­cher ande­rer­seits. Und wir müs­sen uns bemü­hen, die­ses unser Wir zu einem grö­ße­ren machen, mehr Men­schen in die­ses Wir inte­grie­ren – wir müs­sen vie­le Weg gehen und neue Wege anle­gen, und wir müs­sen auf die Wege gehen, wo die ande­ren Wirs gehen – es wird eine lan­ge Wanderung.

Vie­len Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

Fuß­no­ten

1 https://www.bundespraesident.at/aktuelles/detail/van-der-bellen (abge­ru­fen am 19/3/2020).
2 https://www.nachrichtenleicht.de/erinnerung-an-auschwitz.2042.de.html?dram:article_id=468655 (abge­ru­fen am 19/3/2020),
3 https://www.bundespraesident.at/aktuelles/detail/van-der-bellen (abge­ru­fen am 19/3/2020).
4 Vgl. zu die­ser Rede fol­gen­de Arti­kel und Inter­net­quel­len: Ass­mann, Alei­da (1999): Erin­ne­rungs­räu­me. For­men und Wand­lun­gen des kul­tu­rel­len Gedächt­nis­ses. Mün­chen: C. H. Beck. Ass­mann, Jan (1997): Das kul­tu­rel­le Gedächt­nis. Schrift, Erin­ne­rung und poli­ti­sche Iden­ti­tät in frü­hen Hoch­kul­tu­ren. Mün­chen: C. H. Beck. Blim­lin­ger Eva (2015); Der loka­le (Mahnmal-)Kunstdiskurs. Künstler_innen und die Rah­men­be­din­gun­gen für die Errich­tung von Mahn­ma­len, in: Zu spät? Dimen­sio­nen des Geden­kens an homo­se­xu­el­le und trans­gen­der NS-Opfer, Wien: zag­lo­sus S. 255–269. Doku­men­ta­ti­ons­ar­chiv des öster­rei­chi­schen Wider­stan­des (Hg.) (2019): Depor­ta­ti­on und Ver­nich­tung – Maly Tros­ti­nec. Wien: DÖW. Halb­wachs Mau­rice (1991):Das kol­lek­ti­ve Gedächt­nis. Frank­furt am Main: Fischer. Scharf, Hel­mut (1984): Klei­ne Kunst­ge­schich­te des Deut­schen Denk­mals. Darm­stadt: Wis­sen­schaft­li­che Buchgesellschaft.Tomberger, Corin­na (2007): Das Gegen­denk­mal. Avant­gar­de­kunst, Geschichts­po­li­tik und Geschlecht in der bun­des­deut­schen Erin­ne­rungs­kul­tur. Bie­le­feld: Tran­script (Stu­di­en zur visu­el­len Kul­tur 4).Young, James E. (1992): The Coun­ter-Monu­ment: Memo­ry against Its­elf in Ger­ma­ny Today. In: Cri­ti­cal Inquiry, Jg. 18, H. 2, S. 267–297; stopptdierechten.atdoew.at
5 https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXV/BI/BI_00073/index.shtml (abge­ru­fen 19/3/2020).
6 https://www.lyrikline.org/de/gedichte/todesfuge-66(abge­ru­fen 19/3/2020).
7 Hier dan­ke ich Corin­na Tom­ber­ger für den Hin­weis, dass auch frü­he­re Denk­mä­ler durch Bürger*innenbeteiligung ent­stan­den sind. Bei­spiel­haft sei hier das Fer­di­nand-Rai­mund-Denk­mal im Wie­ner Weg­hu­ber Park, das bis 1939 vor dem Deut­schen Volks­thea­ter stand, genannt, wel­ches auf­grund der Bemü­hun­gen und durch die Finan­zie­rung eines Denk­mal-Komi­tees ent­stan­den ist. Dies gilt etwa auch für das Schil­ler-und das Goe­the-Denk­mal an der Wie­ner Ring­stra­ße sowie für ande­re Denk­mä­ler von Schrift­stel­lern und Künst­lern. Bewusst ist hier die männ­li­che Form gewählt, da es kaum Denk­mä­ler für Schrift­stel­le­rin­nen und Künst­le­rin­nen gibt.
8 Das Mas­siv der Namen. Ein Denk­mal für die Öster­rei­chi­schen Opfer der Sho­ah in Maly Tros­ti­nec, Bun­des­kanz­ler­amt 2019.