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Die revisionistische Resolution

Die Reso­lu­ti­on „Bedeu­tung des euro­päi­schen Geschichts­be­wusst­seins für die Zukunft Euro­pas“, die am 19. Sep­tem­ber 2019 mit brei­ter Mehr­heit vom Euro­päi­schen Par­la­ment beschlos­sen wur­de, trägt zwar einen unver­däch­ti­gen Titel, hat es aber in sich. In Öster­reich ist es jetzt den Lager­ge­mein­schaf­ten Ravens­brück und Dach­au zu ver­dan­ken, dass sie öffent­lich wahr­ge­nom­men wer­den muss. Die bei­den Lager­ge­mein­schaf­ten pro­tes­tie­ren näm­lich heftig […]

15. Jan 2020

Mit einer Online-Peti­ti­on und einem Inse­rat im „Stan­dard“ wol­len die bei­den Lager­ge­mein­schaf­ten dar­auf auf­merk­sam machen, dass die in der Reso­lu­ti­on ent­hal­te­ne Geschichts­dar­stel­lung nicht nur Ergeb­nis­sen der zeit­ge­schicht­li­chen For­schung wider­spricht, son­dern auch den anti­na­zis­ti­schen Kon­sens angreift, „der den Sieg über Natio­nal­so­zia­lis­mus und Faschis­mus in Euro­pa erst ermög­lich­te“.

Was die bei­den Lager­ge­mein­schaf­ten damit beson­ders anspre­chen, sind jene Tei­le der Reso­lu­ti­on des EP, in denen der Natio­nal­so­zia­lis­mus mit dem Sta­li­nis­mus gleich­ge­setzt und damit die zeit­ge­schicht­li­chen For­schungs­er­geb­nis­se der letz­ten Jahr­zehn­te, aber eben auch der anti­fa­schis­ti­sche Kon­sens auf poli­ti­scher Ebe­ne ver­räumt wer­den. Es ist kein Zufall, dass die Reso­lu­ti­on von den kon­ser­va­ti­ven pol­ni­schen Abge­ord­ne­ten der Regie­rungs­par­tei PiS ein­ge­bracht und dann von den gro­ßen Frak­tio­nen im EP (Christ­de­mo­kra­ten, Libe­ra­le, Sozi­al­de­mo­kra­ten) adap­tiert und getra­gen wurde.

So kommt es auch zur deut­li­chen Über­hö­hung des Hit­ler-Sta­lin-Pak­tes, der in der Reso­lu­ti­on fak­tisch ursäch­lich für den Zwei­ten Welt­krieg ver­ant­wort­lich gemacht wird (B und C) und des­sen Unter­zeich­nung am 23. August 1939 ab jetzt jähr­lich als „Euro­päi­scher Tag des Geden­kens an die Opfer tota­li­tä­rer Regime“ gedacht wer­den soll. Dass Hit­ler-Deutsch­land vor dem Pakt schon etli­che Län­der und frem­de Lan­des­tei­le okku­piert hat­te, sei­ne aggres­si­ve und auf Erobe­rung von „Lebens­raum“ im Osten ori­en­tier­te Auf­rüs­tung und Poli­tik eben­so erkenn­bar und klar waren wie sei­ne Ver­nich­tungs­po­li­tik gegen­über der jüdi­schen Bevöl­ke­rung (Novem­ber­po­gro­me), wäh­rend Groß­bri­tan­ni­en und Frank­reich abwar­te­ten und einen mög­li­chen Zwei­fron­ten­krieg gegen Deutsch­land ablehn­ten, das alles spielt in der Reso­lu­ti­on kei­ne Rol­le und damit rechts­extre­men Geschichts­deu­tun­gen in die Hände.

So ist es offen­sicht­lich auch kein Zufall, dass in der Reso­lu­ti­on des EP die Rol­le faschis­ti­scher Regime in Vor­be­rei­tung und Durch­füh­rung des Zwei­ten Welt­kriegs, der faschis­ti­schen und nazis­ti­schen Expan­si­ons­po­li­tik und des Holo­caust nur ganz am Ran­de gestreift wird.

Pein­lich und schön­fär­be­risch wird die Reso­lu­ti­on dort, wo das EP (Punkt 7) den Geschichts­re­vi­sio­nis­mus in eini­gen – nicht genann­ten – Mit­glieds­län­dern ver­ur­teilt, den Bal­ken im eige­nen Auge aber nicht wahr­nimmt. Strei­chel­weich „besorgt“ ist die Mehr­heit im EP dar­über, „dass es Berich­ten zufol­ge in eini­gen Mit­glied­staa­ten zu Abspra­chen von füh­ren­den Poli­ti­kern, poli­ti­schen Par­tei­en und Straf­ver­fol­gungs­be­hör­den mit radi­ka­len, ras­sis­ti­schen und frem­den­feind­li­chen Bewe­gun­gen unter­schied­li­cher poli­ti­scher Cou­leur gekom­men sein soll“. Irgend­wel­chen Berich­ten zufol­ge also – nichts Genaue­res weiß man nicht, oder doch?

Dass der pol­ni­sche Offi­zier Witold Pil­ecki, der eine her­aus­ra­gen­de Rol­le im pol­ni­schen Wider­stand und auch im KZ Ausch­witz spiel­te, vom sta­li­nis­ti­schen Regime in Polen aber dann hin­ge­rich­tet wur­de, als ein­zi­ger Wider­stands­kämp­fer in der Reso­lu­ti­on nament­lich erwähnt wird und durch einen „Inter­na­tio­na­len Tag der Hel­den des Kamp­fes gegen den Tota­li­ta­ris­mus“ geehrt wer­den soll (Punkt 11 in der Reso­lu­ti­on), ist nicht bloß ein – berech­tig­ter – Tri­but an den pol­ni­schen Wider­stand, son­dern ein vom EP abge­seg­ne­ter Ver­such, dem pol­ni­schen Natio­na­lis­mus und der Tota­li­ta­ris­mus-Ideo­lo­gie ein Denk­mal in der Erin­ne­rung zu set­zen und den kom­mu­nis­ti­schen und anti­fa­schis­ti­schen Wider­stand gegen den Natio­nal­so­zia­lis­mus eben­so zu eli­mi­nie­ren wie die den Anteil der Sowjet­uni­on an der Befrei­ung Euro­pas vom Natio­nal­so­zia­lis­mus und den Anteil der eige­nen Mittäterschaft.

Von den öster­rei­chi­schen Abge­ord­ne­ten im EP haben alle für die­se Reso­lu­ti­on gestimmt – mit Aus­nah­me von Moni­ka Vana (Grü­ne), die sich der Stim­me ent­hal­ten hat (vgl. Reso­lu­ti­on Lager­ge­mein­schaf­ten). Eine Pro­test­no­te, die die bei­den Lager­ge­mein­schaf­ten im Novem­ber 2019 an alle öster­rei­chi­schen Abge­ord­ne­ten im EP geschickt haben, ist bis heu­te unbe­ant­wor­tet geblieben.

Des­halb: unter­stützt den Pro­test der bei­den Lager­ge­mein­schaf­ten durch Eure Unter­schrift!

Stel­lung­nah­me Inter­na­tio­na­le Föde­ra­ti­on der Wider­stands­kämp­fer – Bund der Antifaschisten

Die Erklä­rung der Inter­na­tio­na­len Komi­tees der Lager­ge­mein­schaf­ten: „Erklä­rung von Madrid“ 

Die Reso­lu­ti­on des EP

Der Offe­ne Brief der Lager­ge­mein­schaf­ten Ravens­brück und Dach­au:

An die öster­rei­chi­schen Abge­ord­ne­ten des Euro­päi­schen Parlaments,
An die Par­tei­vor­sit­zen­den der öster­rei­chi­schen Parlamentsparteien

Das Euro­päi­sche Par­la­ment ver­ab­schie­de­te am 19.09.2019 mit gro­ßer Mehr­heit eine Ent­schlie­ßung über die „Bedeu­tung der Erin­ne­rung an die Euro­päi­sche Ver­gan­gen­heit für die Zukunft Euro­pas“ (P9-TA-PROV (2019) 0021). Ein­ge­bracht wur­de die Reso­lu­ti­on von 19 Abge­ord­ne­ten (18 aus Polen, einer aus Litau­en), ange­nom­men wur­de sie von einer gro­ßen Mehr­heit der Abge­ord­ne­ten aller Frak­tio­nen (535 Ja-Stim­men, 66 Ableh­nun­gen und 52 Ent­hal­tun­gen). Auch alle öster­rei­chi­schen EU-Abge­ord­ne­ten (mit Aus­nah­me der Grü­nen Abge­ord­ne­ten Moni­ka Vana, die sich der Stim­me ent­hielt) haben mit ihrer Zustim­mung die Inten­ti­on der pol­ni­schen Regie­rung unter­stützt, inter­na­tio­nal eine neue, revi­sio­nis­ti­sche Erin­ne­rungs­po­li­tik zu instal­lie­ren, die die allei­ni­ge Schuld des natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Deutsch­land am Ver­nich­tungs­krieg relativiert.

Die in der Reso­lu­ti­on ent­hal­te­ne Geschichts­dar­stel­lung wider­spricht nicht nur aner­kann­ten Ergeb­nis­sen der zeit­ge­schicht­li­chen For­schung — die im Übri­gen für die Sowjet­uni­on auch die höchs­te zivi­le und mili­tä­ri­sche Opfer­zahl des 2. Welt­kriegs fest­stellt —, sie greift auch den anti­na­zis­ti­schen Kon­sens an, der den Sieg über Natio­nal­so­zia­lis­mus und Faschis­mus in Euro­pa erst ermög­lich­te. Damit stellt die­ser medi­al weit­ge­hend unbe­merk­te Skan­dal einen gra­vie­ren­den his­to­ri­schen Rück­schritt dar, der eine alar­mie­ren­de Macht­ver­schie­bung im euro­päi­schen Par­la­ment signalisiert.

Die Ver­ab­schie­dung der Ent­schlie­ßung wie­der­um ist ein wei­te­res Zei­chen dafür, dass es der rechts­po­pu­lis­ti­schen Regie­rung Polens gelingt, Mehr­hei­ten für eine Erin­ne­rungs­po­li­tik zu gewin­nen, in der alle tota­li­tä­ren Regime gleich­ge­setzt wer­den. Damit wird den rechts­extre­men Kräf­ten in ganz Euro­pa in die Hän­de gespielt.

Die Zustim­mung nahe­zu aller öster­rei­chi­schen Abge­ord­ne­ten im EU-Par­la­ment ist ein uner­träg­li­cher Affront für die Opfer des Natio­nal­so­zia­lis­mus. Vie­le Ver­folg­te haben nach der Befrei­ung aktiv am demo­kra­ti­schen Auf­bau Öster­reichs und Euro­pas mit­ge­ar­bei­tet. Ihre uner­müd­li­chen Bemü­hun­gen für eine demo­kra­ti­sche Gesell­schafts­ord­nung wur­den aufs Gröbs­te missachtet.

Die Öster­rei­chi­sche Lager­ge­mein­schaft Ravens­brück und Freun­dIn­nen (ÖLGRF) und die Öster­rei­chi­sche Lager­ge­mein­schaft Dach­au (ÖLGD) sind von Über­le­ben­den der bei­den Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger vor 70 Jah­ren gegrün­det wor­den. Von Beginn an ver­folg­ten die Lager­ge­mein­schaf­ten das Ziel, über die Ver­bre­chen der NS-Herr­schaft auf­zu­klä­ren, gegen jeg­li­che ras­sis­ti­sche und anti­se­mi­ti­sche Ten­denz und Gewalt auf­zu­tre­ten und der Opfer der mör­de­ri­schen natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Dik­ta­tur wür­dig zu geden­ken. Die Ent­schlie­ßung der EU, die auf der Ver­zer­rung von his­to­ri­schen Fak­ten basiert, wider­spricht — gera­de durch die Miss­ach­tung der Fak­ten ― die­sen Zie­len in ekla­tan­ter Weise.

Daher haben die bei­den Lager­ge­mein­schaf­ten gemein­sam eine Pro­test­no­te ver­fasst und sie Anfang Novem­ber 2019 an die öster­rei­chi­schen Abge­ord­ne­ten des Euro­päi­schen Par­la­ments sowie die Par­tei­vor­sit­zen­den der öster­rei­chi­schen Par­la­ments­par­tei­en gesen­det. Die­se blieb bis heu­te unbeantwortet.

In die­sem Zusam­men­hang möch­ten wir auch noch auf die Stel­lung­nah­men und Pro­tes­te ver­schie­de­ner Ver­folg­ten­or­ga­ni­sa­tio­nen hin­wei­sen, wie etwa der Inter­na­tio­na­len Komi­tees der Ver­nich­tungs- und Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger der Nazis (Erklä­rung von Madrid Nov. 2019) und der FIR (Féde­ra­ti­on Inter­na­tio­na­le Des Résistants – Asso­cia­ti­on Antifasciste).

Mit unse­rer Unter­schrift unter­stüt­zen wir den Pro­test der Lager­ge­mein­schaf­ten und for­dern die sofor­ti­ge Rück­nah­me der Ent­schlie­ßung P9-TA-PROV (2019) 0021; von allen Adres­sa­tIn­nen erwar­ten wir, dass sie alles in ihrem Bereich Mög­li­che tun, damit dies auch geschieht. 

Dr.in Hel­ga Ames­ber­ger (Öster­rei­chi­sche Lager­ge­mein­schaft Ravens­brück & FreundInnen)
Dr.in Bri­git­te Halb­mayr (Öster­rei­chi­sche Lager­ge­mein­schaft Ravens­brück & FreundInnen)
Mag.a Ber­na­dette Dewald (Öster­rei­chi­sche Lager­ge­mein­schaft Ravens­brück & FreundInnen)
Univ.-Prof. Dr. Ernst Ber­ger (Öster­rei­chi­sche Lager­ge­mein­schaft Dachau)
Dr. Eva Fried­ler (Öster­rei­chi­sche Lager­ge­mein­schaft Dachau)

Abstimmungsergebnis im Europäischen Parlament: 80% Pro-Stimmen
Abstim­mungs­er­geb­nis im Euro­päi­schen Par­la­ment: 80% Pro-Stimmen
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Schlagwörter: Antisemitismus | Protest | Weite Welt |