Mit einer Online-Petition und einem Inserat im „Standard“ wollen die beiden Lagergemeinschaften darauf aufmerksam machen, dass die in der Resolution enthaltene Geschichtsdarstellung nicht nur Ergebnissen der zeitgeschichtlichen Forschung widerspricht, sondern auch den antinazistischen Konsens angreift, „der den Sieg über Nationalsozialismus und Faschismus in Europa erst ermöglichte“.
Was die beiden Lagergemeinschaften damit besonders ansprechen, sind jene Teile der Resolution des EP, in denen der Nationalsozialismus mit dem Stalinismus gleichgesetzt und damit die zeitgeschichtlichen Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte, aber eben auch der antifaschistische Konsens auf politischer Ebene verräumt werden. Es ist kein Zufall, dass die Resolution von den konservativen polnischen Abgeordneten der Regierungspartei PiS eingebracht und dann von den großen Fraktionen im EP (Christdemokraten, Liberale, Sozialdemokraten) adaptiert und getragen wurde.
So kommt es auch zur deutlichen Überhöhung des Hitler-Stalin-Paktes, der in der Resolution faktisch ursächlich für den Zweiten Weltkrieg verantwortlich gemacht wird (B und C) und dessen Unterzeichnung am 23. August 1939 ab jetzt jährlich als „Europäischer Tag des Gedenkens an die Opfer totalitärer Regime“ gedacht werden soll. Dass Hitler-Deutschland vor dem Pakt schon etliche Länder und fremde Landesteile okkupiert hatte, seine aggressive und auf Eroberung von „Lebensraum“ im Osten orientierte Aufrüstung und Politik ebenso erkennbar und klar waren wie seine Vernichtungspolitik gegenüber der jüdischen Bevölkerung (Novemberpogrome), während Großbritannien und Frankreich abwarteten und einen möglichen Zweifrontenkrieg gegen Deutschland ablehnten, das alles spielt in der Resolution keine Rolle und damit rechtsextremen Geschichtsdeutungen in die Hände.
So ist es offensichtlich auch kein Zufall, dass in der Resolution des EP die Rolle faschistischer Regime in Vorbereitung und Durchführung des Zweiten Weltkriegs, der faschistischen und nazistischen Expansionspolitik und des Holocaust nur ganz am Rande gestreift wird.
Peinlich und schönfärberisch wird die Resolution dort, wo das EP (Punkt 7) den Geschichtsrevisionismus in einigen – nicht genannten – Mitgliedsländern verurteilt, den Balken im eigenen Auge aber nicht wahrnimmt. Streichelweich „besorgt“ ist die Mehrheit im EP darüber, „dass es Berichten zufolge in einigen Mitgliedstaaten zu Absprachen von führenden Politikern, politischen Parteien und Strafverfolgungsbehörden mit radikalen, rassistischen und fremdenfeindlichen Bewegungen unterschiedlicher politischer Couleur gekommen sein soll“. Irgendwelchen Berichten zufolge also – nichts Genaueres weiß man nicht, oder doch?
Dass der polnische Offizier Witold Pilecki, der eine herausragende Rolle im polnischen Widerstand und auch im KZ Auschwitz spielte, vom stalinistischen Regime in Polen aber dann hingerichtet wurde, als einziger Widerstandskämpfer in der Resolution namentlich erwähnt wird und durch einen „Internationalen Tag der Helden des Kampfes gegen den Totalitarismus“ geehrt werden soll (Punkt 11 in der Resolution), ist nicht bloß ein – berechtigter – Tribut an den polnischen Widerstand, sondern ein vom EP abgesegneter Versuch, dem polnischen Nationalismus und der Totalitarismus-Ideologie ein Denkmal in der Erinnerung zu setzen und den kommunistischen und antifaschistischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus ebenso zu eliminieren wie die den Anteil der Sowjetunion an der Befreiung Europas vom Nationalsozialismus und den Anteil der eigenen Mittäterschaft.
Von den österreichischen Abgeordneten im EP haben alle für diese Resolution gestimmt – mit Ausnahme von Monika Vana (Grüne), die sich der Stimme enthalten hat (vgl. Resolution Lagergemeinschaften). Eine Protestnote, die die beiden Lagergemeinschaften im November 2019 an alle österreichischen Abgeordneten im EP geschickt haben, ist bis heute unbeantwortet geblieben.
Deshalb: unterstützt den Protest der beiden Lagergemeinschaften durch Eure Unterschrift!
Stellungnahme Internationale Föderation der Widerstandskämpfer – Bund der Antifaschisten
Die Erklärung der Internationalen Komitees der Lagergemeinschaften: „Erklärung von Madrid“
Der Offene Brief der Lagergemeinschaften Ravensbrück und Dachau:
An die österreichischen Abgeordneten des Europäischen Parlaments,
An die Parteivorsitzenden der österreichischen ParlamentsparteienDas Europäische Parlament verabschiedete am 19.09.2019 mit großer Mehrheit eine Entschließung über die „Bedeutung der Erinnerung an die Europäische Vergangenheit für die Zukunft Europas“ (P9-TA-PROV (2019) 0021). Eingebracht wurde die Resolution von 19 Abgeordneten (18 aus Polen, einer aus Litauen), angenommen wurde sie von einer großen Mehrheit der Abgeordneten aller Fraktionen (535 Ja-Stimmen, 66 Ablehnungen und 52 Enthaltungen). Auch alle österreichischen EU-Abgeordneten (mit Ausnahme der Grünen Abgeordneten Monika Vana, die sich der Stimme enthielt) haben mit ihrer Zustimmung die Intention der polnischen Regierung unterstützt, international eine neue, revisionistische Erinnerungspolitik zu installieren, die die alleinige Schuld des nationalsozialistischen Deutschland am Vernichtungskrieg relativiert.
Die in der Resolution enthaltene Geschichtsdarstellung widerspricht nicht nur anerkannten Ergebnissen der zeitgeschichtlichen Forschung — die im Übrigen für die Sowjetunion auch die höchste zivile und militärische Opferzahl des 2. Weltkriegs feststellt —, sie greift auch den antinazistischen Konsens an, der den Sieg über Nationalsozialismus und Faschismus in Europa erst ermöglichte. Damit stellt dieser medial weitgehend unbemerkte Skandal einen gravierenden historischen Rückschritt dar, der eine alarmierende Machtverschiebung im europäischen Parlament signalisiert.
Die Verabschiedung der Entschließung wiederum ist ein weiteres Zeichen dafür, dass es der rechtspopulistischen Regierung Polens gelingt, Mehrheiten für eine Erinnerungspolitik zu gewinnen, in der alle totalitären Regime gleichgesetzt werden. Damit wird den rechtsextremen Kräften in ganz Europa in die Hände gespielt.
Die Zustimmung nahezu aller österreichischen Abgeordneten im EU-Parlament ist ein unerträglicher Affront für die Opfer des Nationalsozialismus. Viele Verfolgte haben nach der Befreiung aktiv am demokratischen Aufbau Österreichs und Europas mitgearbeitet. Ihre unermüdlichen Bemühungen für eine demokratische Gesellschaftsordnung wurden aufs Gröbste missachtet.
Die Österreichische Lagergemeinschaft Ravensbrück und FreundInnen (ÖLGRF) und die Österreichische Lagergemeinschaft Dachau (ÖLGD) sind von Überlebenden der beiden Konzentrationslager vor 70 Jahren gegründet worden. Von Beginn an verfolgten die Lagergemeinschaften das Ziel, über die Verbrechen der NS-Herrschaft aufzuklären, gegen jegliche rassistische und antisemitische Tendenz und Gewalt aufzutreten und der Opfer der mörderischen nationalsozialistischen Diktatur würdig zu gedenken. Die Entschließung der EU, die auf der Verzerrung von historischen Fakten basiert, widerspricht — gerade durch die Missachtung der Fakten ― diesen Zielen in eklatanter Weise.
Daher haben die beiden Lagergemeinschaften gemeinsam eine Protestnote verfasst und sie Anfang November 2019 an die österreichischen Abgeordneten des Europäischen Parlaments sowie die Parteivorsitzenden der österreichischen Parlamentsparteien gesendet. Diese blieb bis heute unbeantwortet.
In diesem Zusammenhang möchten wir auch noch auf die Stellungnahmen und Proteste verschiedener Verfolgtenorganisationen hinweisen, wie etwa der Internationalen Komitees der Vernichtungs- und Konzentrationslager der Nazis (Erklärung von Madrid Nov. 2019) und der FIR (Féderation Internationale Des Résistants – Association Antifasciste).
Mit unserer Unterschrift unterstützen wir den Protest der Lagergemeinschaften und fordern die sofortige Rücknahme der Entschließung P9-TA-PROV (2019) 0021; von allen AdressatInnen erwarten wir, dass sie alles in ihrem Bereich Mögliche tun, damit dies auch geschieht.
Dr.in Helga Amesberger (Österreichische Lagergemeinschaft Ravensbrück & FreundInnen)
Dr.in Brigitte Halbmayr (Österreichische Lagergemeinschaft Ravensbrück & FreundInnen)
Mag.a Bernadette Dewald (Österreichische Lagergemeinschaft Ravensbrück & FreundInnen)
Univ.-Prof. Dr. Ernst Berger (Österreichische Lagergemeinschaft Dachau)
Dr. Eva Friedler (Österreichische Lagergemeinschaft Dachau)