Die Zukunft des Front National

Mit seinem Ergeb­nis bei der Stich­wahl vom 7. Mai hat der Front Nation­al das beste Ergeb­nis sein­er Geschichte einge­fahren und somit seine Ent­fal­tungskraft in Poli­tik und Gesellschaft nicht nur bestätigt, son­dern noch aus­geweit­et. 10,6 Mil­lio­nen Fran­zosen haben für Marine Le Pen gewählt, ein absoluter Reko­rd. Und den­noch feiert die Parteivor­sitzende keinen Tri­umph, sie geht sog­ar geschwächt aus der Wahl her­vor, weil ihr Ergeb­nis hin­ter den Erwartun­gen zurück­bleibt. Viele Anhänger_innen sind ent­täuscht, in der Partei wächst der Unmut.
Eine Analyse von Sophia Gassert*

Der Wahlkampf: uner­wartet neuartig
Die Stel­lung des Front Nation­al wurde vor den Wahlen dadurch begün­stigt, dass der seit dem Früh­jahr tobende Wahlkampf noch nie dagewe­sene Züge aufwies und sein Aus­gang bis zu seinem Ende am 7. Mai ungewiss blieb. Beson­ders auf­fäl­lig war vor dem ersten Wahl­gang die Schwäche der klas­sis­chen Parteien: Die linke Par­ti Social­iste kon­nte kaum auf ein gutes Wahlergeb­nis hof­fen, die Partei war nach fünf Jahren Mach­tausübung durch Präsi­dent François Hol­lande zu ges­pal­ten. Die kon­ser­v­a­tiv­en Les Répub­li­cains hinge­gen hat­ten sich schon auf den Wahlsieg eingestellt und mussten mitanse­hen, wie ihr Spitzenkan­di­dat François Fil­lon unter anderem über ein Ermit­tlungsver­fahren wegen Verun­treu­ung von Staats­geldern und Kor­rup­tion stolperte. Demge­genüber kon­nten sich Parteien pro­fil­ieren, die vor­gaben, mit der altherge­bracht­en Poli­tik und den Eliten rest­los zu brechen: Das gilt sowohl für Jean-Luc Mélen­chons „Das unbeugsame Frankre­ich“ (La France Insoumise), für Marine Le Pens Front Nation­al als auch für Emmanuel Macrons Zusam­men­schluss „In Bewe­gung!“ (En Marche!). Let­zter­er ging im ersten Wahl­gang am 23. April 2017 mit 24 % der Stim­men als Favorit her­vor und trat in der Stich­wahl des 7. Mai gegen Marine Le Pen an, die mit 21 % der Stim­men immer­hin die zweite Stelle ergat­tert hatte. 

Neuar­tig erschien auch die Inten­sität der poli­tis­chen Kon­fronta­tion in der Zeit zwis­chen den zwei Wahlgän­gen. Die Kan­di­da­turen und Wahl­pro­gramme von Macron und Le Pen kon­nten unter­schiedlich­er nicht sein: auf der einen Seite der poli­tis­che Neul­ing, Wirtschaftsmin­is­ter von Hol­lande und ehe­ma­liger Banki­er, der für einen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und europäis­chen Lib­er­al­is­mus warb, auf der andere Seite die „Kan­di­datin des Volkes“, Tochter eines verurteil­ten Anti­semiten und Ras­sis­ten, die sich für ein antikap­i­tal­is­tisch-pro­tek­tion­is­tis­ches und europafeindlich­es Pro­jekt stark machte. Die andauernde Wirtschaft­skrise, die hohe Arbeit­slosigkeit, die all­ge­meine Poli­tikver­drossen­heit sowie die seit 2015 von Islamis­ten verübten Atten­tate waren kon­textgegebene Voraus­set­zun­gen, die die Extrem­is­ten beförderten. Auch die Unschlüs­sigkeit von Seit­en der im ersten Wahl­gang besiegten Kan­di­dat­en spielte ihnen in die Hände. Anders als 2002, als der kon­ser­v­a­tive Jacques Chirac in der Stich­wahl gegen den Recht­sex­trem­is­ten Jean-Marie Le Pen hat­te antreten müssen, hat es 2017 frankre­ich­weit keine Welle der Entrüs­tung gegeben. Die Kon­ser­v­a­tiv­en riefen zwar umge­hend zur Wahl für den Lib­eralen Macron auf, die „repub­likanis­che Front“ aber, die zuvor den Zusam­men­schluss aller Demokrat_innen jed­wed­er Couleur gegen die extreme Rechte beschwor, war keine Selb­stver­ständlichkeit mehr. Mélen­chon weigerte sich etwa eine Wahlempfehlung für Macron als ver­meintlichen Vertreter des Finanzkap­i­tals zu geben, viele sein­er „Unbeugsamen“ forderten die Franzosen_Französinnen zur Enthal­tung auf. Der Sou­veränist und Gaullist Nico­las Dupont-Aig­nan, der beim ersten Wahldurch­gang 4,7 % der Wahlstim­men erhal­ten hat­te, schloss sich wider Erwarten Marine Le Pen an, die ihm im Falle ihres Sieges den Posten des Pre­mier Min­is­ters ver­sprach. Das allmäh­liche Bröck­eln der repub­likanis­chen Front bescheinigte die gelun­gene Nor­mal­isierung, die soge­nan­nte „Ent­dä­mon­isierung“ (dédi­a­boli­sa­tion) des FN. Von medi­aler und poli­tis­ch­er Aus­gren­zung ist seit langem keine Rede mehr, die extreme Rechte gehört zum poli­tis­chen All­t­ag dazu, sie ist hof­fähig geworden.

Zum Ver­häng­nis wur­den Marine Le Pen allerd­ings mehrere Fehltritte in diesen entschei­den­den Wochen vor der Stich­wahl: ihre revi­sion­is­tis­che Äußerung über die Unschuld des franzö­sis­chen Staates in der Depor­ta­tion von 13.000 Paris­er Juden und Jüdin­nen vom Win­ter­velo­drom in die Ver­nich­tungslager Osteu­ropas im Jahre 1942 stieß auf heftige Kri­tik und machte ihre seit Jahren unter­nomme­nen Annäherungsver­suche an die jüdis­che Gemeinde zunichte; außer­dem ver­schreck­te sie viele Beamte und Angestellte des öffentlichen Dien­stes, indem sie unver­hohlen „Säu­berungs­maß­nah­men“ gegen „unpa­tri­o­tis­che“ Mitarbeiter_innen ankündigte. Fern­er bezeugte sie in ihrer 1. Mai-Rede durch die scham­lose Aneig­nung langer Textpas­sagen aus ein­er Wahlkampfrede von François Fil­lon ihren gren­zen­losen Dilet­tan­tismus. Beson­ders neg­a­tiv hat sich aber ihr Auftreten beim TV-Duell am 3. Mai 2017 gegen Emmanuel Macron aus­gewirkt. An dem Abend fiel sie vor allem durch ihre aggres­sive Hal­tung, die Unbes­timmtheit ihrer Posi­tio­nen in wesentlichen Wirtschafts- und Regierungs­fra­gen, durch Lügen und Unter­stel­lun­gen auf, wodurch wahrschein­lich nicht wenige Wähler_innen ver­prellt wurden.

Das ambiva­lente Ergeb­nis der Stich­wahl: Frust statt Euphorie
Mit 34,9 % aller gülti­gen Stim­men erre­ichte der Front Nation­al das beste Ergeb­nis sein­er Geschichte. Die extreme Rechte kon­nte zwis­chen den Präsi­dentschaftswahlen 2002 und 2017 ihre Stim­men regel­recht ver­dop­peln: Jean-Marie Le Pen hat­te sein­er Zeit 5,5 Mil­lio­nen Wähler_innen überzeugt, fün­fzehn Jahre später waren es bei sein­er Tochter 10,6 Mil­lio­nen. Mehr Män­ner als Frauen, darunter beson­ders viele junge Franzosen_Französ_innen und Erstwähler_innen, Arbeiter_innen, Arbeit­slose und Men­schen in prekären Lebensver­hält­nis­sen oder mit niedri­gen Bil­dungsab­schlüssen gaben dies­mal dem FN ihre Stimme. Seine Hochbur­gen befind­en sich weit­er­hin im Süd-Osten (Provence-Alpes-Côte d’Azur), im Nor­den (Hauts-de-France) und im Osten (Elsaß-Lothrin­gen), dort kon­nte Marine Le Pen ihre Macht­po­si­tion noch aus­bauen. Dieses ein­schnei­dende Ergeb­nis schafft gute Voraus­set­zun­gen für ihre Partei, die sich anschickt bei den Par­la­mentswahlen im Juni 2017 mit ein­er min­destens fün­fzehn Mann starken Frak­tion die Assem­blée Nationale zu erobern und sich als erste Oppo­si­tion­spartei zu profilieren.

Den­noch ist die Stim­mung in den Rän­gen des FN ver­hal­ten. Für viele Anhänger_innen fiel das Endergeb­nis ernüchternd aus: Ursprünglich sahen sie Marine Le Pen bei weit über 40 %, ihr Wahlkampf und ihre zutage beförderte Unbe­holfen­heit, ihre Inkom­pe­tenz haben ent­täuscht. Viele befürcht­en, dass die Glas­decke nun erre­icht ist und, dass man mit dieser Kan­di­datin und diesem Pro­gramm nicht darüber hin­auskann. Am Abend ihrer Nieder­lage hat Marine Le Pen eine tief­greifende Umgestal­tung ihrer Partei angekündigt, die auf eine Namen­sän­derung hin­aus­laufen kön­nte. Dadurch wäre der Bruch mit ihrem Vater, dem Begrün­der des Front Nation­al, endgültig. Unter­dessen schwillt die Krise in der Partei weit­er an: die Nichte der Vor­sitzen­den, Mar­i­on Maréchal-Le Pen hat vor kurzem die Nieder­legung all ihrer Man­date und Funk­tio­nen und ihren Rück­zug aus der Poli­tik bekan­nt­gegeben, mit der Begrün­dung sich als Mut­ter mehr um ihr Kind küm­mern zu wollen und in der Pri­vatwirtschaft Erfahrun­gen zu sam­meln. Dieses tem­poräre Auss­chei­den, das wahrschein­lich auch ihrem schlecht­en Ver­hält­nis zu Marine Le Pen geschuldet ist, kön­nte ihr ermöglichen, in fünf bis zehn Jahren ihre Tante an der Parteispitze zu erset­zen. Diese Entschei­dung hat viele „Marionist_innen“ und Anhänger_innen vom recht­en Flügel des FN verun­sichert. Ver­mehrt wen­den sich Stim­men gegen den sozial-sou­veränis­tis­chen Kurs, den Marine Le Pen und ihr Vize-Präsi­dent Flo­ri­an Philip­pot seit 2011 vorgeben. Vor allem den „Frex­it“ und den Ausstieg aus dem Euro, den die Mehrheit der Franzosen_Französinnen ablehnt, eracht­en immer mehr Parteikad­er als poli­tisch untrag­bar. Der Kongress, der voraus­sichtlich Anfang 2018 stat­tfind­en soll, wird über die Zukun­ft der Partei entschei­den. Marine Le Pen, die sich zuweilen auch vor Gericht wegen Betrug und Verun­treu­ung von Geldern der Europäis­chen Union ver­ant­worten muss, wird für ihre Wieder­wahl para­dox­er­weise wahrschein­lich mehr als je zuvor kämpfen müssen. 

Sophia Gassert pro­moviert in deutsch­er Geschlechtergeschichte und unter­richtet an ein­er Uni­ver­sität in Frankreich.