Gegen die Fanatiker der Reinheit

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Caro­lin Emcke, Repor­te­rin und Publi­zis­tin, auch Kolum­nen­schrei­be­rin in der „Süd­deut­schen Zei­tung“ (SZ), hat den Frie­dens­preis des Deut­schen Buch­han­dels 2016 erhal­ten. In ihrer lesen­wer­ten Dan­kes­re­de, spricht sie nicht nur über ihre Homo­se­xua­li­tät, son­dern auch über den „aus­gren­zen­den Fana­tis­mus“ der extre­men Rech­ten. Wir brin­gen unten einen Aus­zug, die kom­plet­te Dan­kes­re­de ist auf der Web­site des Prei­ses nach­zu­se­hen.

Carolin Emcke, 2013 - Bildquelle: XXX

Caro­lin Emcke, 2013 — Bild­quel­le: Hein­rich-Böll-Stif­tung/Ste­phan Röhl, unter Crea­tive­Com­mons 2.0

„Sie ste­hen viel­leicht nicht selbst auf der Stra­ße und ver­brei­ten Angst und Schre­cken, die Popu­lis­ten und Fana­ti­ker der Rein­heit, sie wer­fen nicht unbe­dingt selbst Brand­sät­ze in Unter­künf­te von Geflüch­te­ten, rei­ßen nicht selbst mus­li­mi­schen Frau­en den hijab oder jüdi­schen Män­nern die Kip­pa vom Kopf, sie jagen viel­leicht nicht selbst pol­ni­sche oder rumä­ni­sche Euro­päe­rin­nen, grei­fen viel­leicht nicht selbst schwar­ze Deut­sche an — sie has­sen und ver­let­zen nicht unbe­dingt selbst. Sie las­sen has­sen. Sie belie­fern den Dis­kurs mit Mus­tern aus Res­sen­ti­ments und Vor­ur­tei­len, sie fer­ti­gen die ras­sis­ti­schen Pro­duct-Pla­ce­ments, all die klei­nen, gemei­nen Begrif­fe und Bil­der, mit denen stig­ma­ti­siert und ent­wer­tet wird, all die Ras­ter der Wahr­neh­mung, mit­hil­fe derer Men­schen gede­mü­tigt und ange­grif­fen werden.

Die­ser aus­gren­zen­de Fana­tis­mus beschä­digt nicht nur die­je­ni­gen, die er sich zum Opfern sucht, son­dern alle, die in einer offe­nen, demo­kra­ti­schen Gesell­schaft leben wol­len. Das Dog­ma des Homo­ge­nen, Rei­nen, Völ­ki­schen ver­engt die Welt. Es schmä­lert den Raum, in dem wir ein­an­der den­ken und sehen kön­nen. Es macht man­che sicht­bar und ande­re unsicht­bar. Es ver­sieht die einen mit wert­vol­len Eti­ket­ten und Asso­zia­tio­nen und die ande­ren mit abwer­ten­den. Es begrenzt die Fan­ta­sie, in der wir ein­an­der Mög­lich­kei­ten und Chan­cen zuschrei­ben. Man­geln­de Vor­stel­lungs­kraft und Empa­thie aber sind mäch­ti­ge Wider­sa­cher von Frei­heit und Gerech­tig­keit. Das ist eben das, was die Fana­ti­ker und Popu­lis­ten der Rein­heit wol­len: sie wol­len uns die ana­ly­ti­sche Offen­heit und Ein­füh­lung in die Viel­falt neh­men. Sie wol­len all die Gleich­zei­tig­kei­ten von Bezü­gen, die uns gehö­ren und in die wir gehö­ren, die­ses Mit­ein­an­der und Durch­ein­an­der aus Reli­gio­nen, Her­künf­ten, Prak­ti­ken und Gewohn­hei­ten, Kör­per­lich­kei­ten und Sexua­li­tä­ten vereinheitlichen.

Sie wol­len uns weis­ma­chen, dass es das nicht gäbe, demo­kra­ti­schen Huma­nis­mus. Sie wol­len Päs­se als Aus­wei­se der inne­ren Ver­fasst­heit miss­deu­ten, nur um uns gegen­ein­an­der aus­zu­spie­len. Das hat auch etwas Gro­tes­kes: Jahr­zehn­te­lang hat die­se Gesell­schaft geleug­net, eine Ein­wan­de­rungs­ge­sell­schaft zu sein, jahr­zehn­te­lang wur­den Migran­tin­nen und Migran­ten als „Frem­de” ange­se­hen, nicht als Bür­ge­rin­nen und Bür­ger, jahr­zehn­te­lang wur­den sie behan­delt als gehör­ten sie nicht dazu, als dürf­ten sie nichts ande­res sein als Tür­ken — und jetzt wirft man ihnen vor, sie wären nicht deutsch genug und besä­ßen noch einen zwei­ten Pass?

Die Fami­lie mei­ner Mut­ter ist vor dem Krieg aus­ge­wan­dert nach Argen­ti­ni­en. Alle in ihrer Fami­lie besa­ßen zu ver­schie­de­nen Zeit­punk­ten ver­schie­de­ne Päs­se, mal einen argen­ti­ni­schen, mal einen deut­schen, manch­mal bei­de. Ich habe sie zuhau­se bei mir auf­ge­ho­ben: den Pass mei­nes Groß­va­ters, den mir mein Onkel geschenkt hat, und den mei­ner Mut­ter. Mei­ne Nich­te Emi­lia, die heu­te hier ist und die wie alle ihre Geschwis­ter in den USA gebo­ren ist, hat auch einen ame­ri­ka­ni­schen Pass. Mehr­spra­chig waren und sind alle.
Aber glau­ben die Neo­na­tio­na­lis­ten wirk­lich, irgend­je­mand in mei­ner Fami­lie wäre weni­ger demo­kra­tisch gewe­sen, hät­te des­we­gen weni­ger Respekt vor der Frei­heit jedes Ein­zel­nen und dem Schutz mensch­li­cher Wür­de? Glau­ben die wirk­lich, der Pass sage etwas aus über die eige­ne Abnei­gung gegen Ver­ro­hung und die Bereit­schaft, sich demo­kra­tisch für eine offe­ne Gesell­schaft zu enga­gie­ren — und zwar, egal wo?

Ich ver­mu­te eher, alle, die ein­mal ver­trie­ben wur­den, die Flucht oder auch nur Migra­ti­on ken­nen, alle, die sich an ver­schie­de­nen Orten in der Welt zu Hau­se füh­len, alle, die mit Heim­weh oder Fern­weh geplagt sind, alle, die die ver­schie­de­nen Klang­far­ben der Iro­nie und des Humors lie­ben, die sich abwech­seln und ver­mi­schen, wenn man die Spra­che wech­selt, alle, die Kin­der­lie­der erin­nern, die die nächs­te Gene­ra­ti­on nicht mehr kennt, alle, die die Brü­che der Gewalt und des Kriegs mit­er­lebt haben, alle, denen die Furcht vor Ter­ror und Repres­si­on unter die Haut gezo­gen ist, wis­sen doch um den Wert sta­bi­ler rechts­staat­li­cher Insti­tu­tio­nen und einer offe­nen Demo­kra­tie. Viel­leicht sogar etwas mehr als die­je­ni­gen, die noch nie dar­um ban­gen muss­ten, sie zu verlieren.

Sie wol­len uns ein­schüch­tern, die Fana­ti­ker, mit ihrem Hass und ihrer Gewalt, damit wir unse­re Ori­en­tie­rung ver­lie­ren und unse­re Spra­che. Damit wir vol­ler Ver­stö­rung ihre Begrif­fe über­neh­men, ihre fal­schen Gegen­sät­ze, ihre kon­stru­ier­ten Ande­ren — oder auch nur ihr Niveau. Sie beschä­di­gen den öffent­li­chen Dis­kurs mit ihrem Aber­glau­ben, ihren Ver­schwö­rungs­theo­rien und die­ser eigen­tüm­li­chen Kom­bi­na­ti­on aus Selbst­mit­leid und Bru­ta­li­tät. Sie ver­brei­ten Angst und Schre­cken und redu­zie­ren den sozia­len Raum, in dem wir uns begeg­nen und arti­ku­lie­ren können.

Sie wol­len, dass nur noch Jüdin­nen und Juden sich gegen Anti­se­mi­tis­mus weh­ren, dass nur noch Schwu­le gegen Dis­kri­mi­nie­rung pro­tes­tie­ren, sie wol­len, dass nur noch Mus­li­me sich für Reli­gi­ons­frei­heit enga­gie­ren, damit sie sie dann denun­zie­ren kön­nen als jüdi­sche oder schwu­le „Lob­by” oder „Par­al­lel­ge­sell­schaft”, sie wol­len, dass nur noch Schwar­ze gegen Ras­sis­mus auf­be­geh­ren, damit sie sie als „zor­nig” dif­fa­mie­ren kön­nen, sie wol­len, dass sich nur Femi­nis­tin­nen gegen Machis­mo und Sexis­mus enga­gie­ren, damit sie sie als „humor­los” bespöt­teln kön­nen. In Wahr­heit geht es gar nicht um Mus­li­me oder Geflüch­te­te oder Frau­en. Sie wol­len alle ein­schüch­tern, die sich ein­set­zen für die Frei­heit des ein­zig­ar­ti­gen, abwei­chen­den Indi­vi­du­el­len. Des­we­gen müs­sen sich auch alle ange­spro­chen füh­len. Des­we­gen lässt sich die Ant­wort auf Hass und Ver­ach­tung nicht ein­fach nur an „die Poli­tik” dele­gie­ren. Für Ter­ror und Gewalt sind Staats­an­walt­schaf­ten und die Ermitt­lungs­be­hör­den zustän­dig, aber für all die all­täg­li­chen For­men der Miss­ach­tung und der Demü­ti­gung, für all die Zurich­tun­gen und Zuschrei­bun­gen in ver­meint­lich homo­ge­ne Kol­lek­ti­ve, dafür sind wir alle zuständig“.