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Niemals vergessen! 9. November – Aspangbahnhof

Ort des Gedenk­steins vor dem ehe­ma­li­gen Aspang­bahn­hof (Platz der Opfer der Depor­ta­ti­on, 1030 Wien) Frei­tag, 9. Novem­ber 2012 • 18 Uhr „In den Jah­ren 1939 — 1942 wur­den vom ehe­ma­li­gen Aspang­bahn­hof zehn­tau­sen­de öster­rei­chi­sche Juden in Ver­nich­tungs­la­ger trans­por­tiert und kehr­ten nicht mehr zurück“ Nie­mals ver­ges­sen! Nie wie­der Faschis­mus! Frei­tag, Ort des Gedenk­steins vor dem ehe­ma­li­gen Aspang­bahn­hof (Platz der Opfer der […]

4. Nov 2012

„In den Jah­ren 1939 — 1942
wur­den vom ehe­ma­li­gen Aspangbahnhof
zehn­tau­sen­de öster­rei­chi­sche Juden
in Ver­nich­tungs­la­ger transportiert
und kehr­ten nicht mehr zurück“

Nie­mals vergessen!
Nie wie­der Faschismus!

Frei­tag, Ort des Gedenk­steins vor dem ehe­ma­li­gen Aspang­bahn­hof (Platz der Opfer der Depor­ta­ti­on, 1030 Wien)

Zu die­ser Kund­ge­bung rufen auf:

Abg. z. LT Made­lei­ne Petro­vic; Abg. z. NR Karl Öllin­ger; Alter­na­ti­ve und Grü­ne Gewerk­schaf­te­rIn­nen (AUGE/UG); Bund Sozi­al­de­mo­kra­ti­scher Freiheitskämpfer/innen, Opfer des Faschis­mus und akti­ver Antifaschist/inn/en; Deser­teurs- und Flücht­lings­be­ra­tung; Doron Rabi­no­vici (Repu­bli­ka­ni­scher Club); Föde­ra­ti­on der Arbei­te­rIn­nen Syn­di­ka­te (FAS); Gedenk­dienst; Gewerk­schaft­li­cher Links­block (GLB); Grü­ne Alter­na­ti­ve Wien; Info­la­den Wels; Initia­ti­ve Aspang­bahn­hof; Israe­li­ti­sche Kul­tus­ge­mein­de Wien (IKG Wien); Kom­mu­nis­ti­sche Par­tei Öster­reichs – Wien (KPÖ-Wien); KZ-Ver­band (VdA); Lan­des­ver­band NÖ KZ-Ver­band (VdA); Lan­des­ver­band Wien KZ-Ver­band (VdA); Maut­hau­sen Komi­tee Öster­reich (MKÖ); Niki Kun­rath – Grü­ne Alter­na­ti­ve Wien; Öster­rei­chi­sche KZ-Ver­ei­ni­gung Buchen­wald; Peter Men­as­se – Chef­re­dak­teur „Nu“; Pierre Ramus Gesell­schaft; Redak­ti­on „Akin“; Repu­bli­ka­ni­scher Club Wien – Neu­es Öster­reich; Roma­no Cen­tro – Ver­ein für Roma; Sozia­lis­ti­sche Jugend Wien (SJ-Wien); Sozia­lis­ti­sche Links­Par­tei (SLP); Stv. BV Eva Lach­ko­vics – Grü­ne Alter­na­ti­ve Land­stra­ße; Unab­hän­gi­ges Anti­fa­schis­ti­sches Per­so­nen­ko­mi­tee Bur­gen­land; Ver­ein Die Bun­ten – The Glo­bal Play­er; Ver­ein Inter­na­tio­na­ler Zivildienst

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Nie­mals vergessen!

Wor­an geden­ken wir am 9. November?
Schon in der Nacht vom 11. zum 12. März 1938, also anläß­lich des Ein­mar­sches der deut­schen Wehr­macht in Öster­reich, began­nen Aus­schrei­tun­gen gegen Jüdin­nen und Juden in Öster­reich. Vie­le wur­den von SA- und HJ-Leu­ten wie von „ein­fa­chen“ Par­tei­mit­glie­dern, die sich ihre Haken­kreuz­bin­den und Orden ange­hef­tet haben, ver­haf­tet, geschla­gen und öffent­lich gede­mü­tigt. Fens­ter­schei­ben wur­den ein­ge­schla­gen. Juden und Jüdin­nen wur­den gezwun­gen Paro­len, wel­che Anhän­ger des aus­tro­fa­schis­ti­schen Bun­des­kanz­lers Schu­sch­nigg am Vor­abend des „Anschlus­ses“ auf Wän­de und Geh­stei­ge geschrie­ben haben mit Reib- und Zahn­bürs­ten weg­zu­wa­schen. Wie­wohl man­cher der Schau­lus­ti­gen ihre Bekann­ten und Freun­dIn­nen unter den Gede­mü­tig­ten erkannt haben muß­te, hat nie­mand den Mut auf­ge­bracht zu pro­tes­tie­ren – was zu die­sem Zeit­punkt sowohl mög­lich als auch sinn­voll hät­te sein kön­nen. Mit die­sen Ernied­ri­gun­gen begann die sys­te­ma­ti­sche Dis­kri­mi­nie­rung der öster­rei­chi­schen Juden und Jüdin­nen. Umso hef­ti­ger als im „Alt­reich“, weil in Öster­reich die Ent­wick­lung, die in Deutsch­land fünf Jah­re gedau­ert hat­te, in kür­zes­ter Zeit über die Betrof­fe­nen her­ein­ge­bro­chen ist.
Etwa 200.000 Öster­rei­che­rIn­nen wur­den nach den „Nürn­ber­ger Ras­sen­ge­set­zen“ zu „Juden“ erklärt, wobei etwa 180.000 von ihnen tat­säch­lich der jüdi­schen Reli­gi­on ange­hör­ten. Die Nazis began­nen mit Berufs­ver­bo­ten und Aus­bil­dungs­be­schrän­kun­gen, Juden und Jüdin­nen wur­den in ihrer Bewe­gungs­frei­heit ein­ge­schränkt. Das ers­te Ziel war es, die jüdi­sche Bevöl­ke­rung aus dem öffent­li­chen Leben zu drän­gen. Dann soll­te ihr die wirt­schaft­li­che Lebens­grund­la­ge ent­zo­gen und nicht zuletzt: gleich ob Arm, ob Reich, ihr gesam­tes Ver­mö­gen geraubt wer­den und die­ses zumin­dest nach Wil­len der Nazi-Gran­den in die Kas­sen des „Drit­ten Rei­ches“ flie­ßen – obwohl sich auch manch ande­rer dabei „bedient“ hatte.
Adolf Eich­mann, ein streb­sa­mer Bie­der­mann im Diens­te des Sicher­heits­diens­tes (SD) der SS, wur­de nach Wien beor­dert, um die „Zen­tral­stel­le für jüdi­sche Aus­wan­de­rung“ auf­zu­bau­en. „Aus­wan­de­rung“ hieß die Beschö­ni­gung für das Vor­ha­ben der Nazis, mög­lichst vie­le Jüdin­nen und Juden aus Öster­reich zu ver­trei­ben. Doch davor soll­te sicher­ge­stellt wer­den, daß die­se nicht mehr als die not­wen­digs­ten Hab­se­lig­kei­ten mit sich neh­men konn­ten, der gesam­te übri­ge Besitz wur­de beschlagnahmt.
Trotz des ste­tig zuneh­men­den Ter­rors durch die Nazis konn­ten und woll­ten vie­le die Hei­mat nicht Hals über Kopf ver­las­sen. Beson­ders älte­ren Men­schen fiel das schwer.
Die füh­ren­den Nazis hat­ten schon lan­ge auf einen Anlaß gewar­tet, die JüdIn­nen­ver­fol­gung zu ver­schär­fen. Sie brauch­ten einen Vor­wand, mit dem sie die­se v. a. auch gegen­über dem Aus­land recht­fer­ti­gen und gegen­über der eige­nen Bevöl­ke­rung die Akzep­tanz dafür erhö­hen konnten.

Der 9. Novem­ber 1938 –
die Bedeu­tung des Novemberpogroms

Der 17-jäh­ri­ge Her­schel Grynszpan schoß am 7. Novem­ber in Paris als Pro­test gegen die JüdIn­nen­ver­fol­gung auf den deut­schen Diplo­ma­ten Ernst v. Rath, nach­dem sei­ne Eltern und Geschwis­ter aus Deutsch­land nach Polen abge­scho­ben wor­den waren. Nach­dem Rath kurz spä­ter starb, orga­ni­sier­te Joseph Goeb­bels am 9. Novem­ber 1938 eine reichs­wei­te Akti­on gegen die jüdi­sche Bevöl­ke­rung, wel­che als „spon­ta­ner Aus­bruch des Volks­zorns“ getarnt wurde.
Die­se Akti­on wur­de wegen der geleg­ten Feu­er, wel­che sich in den zer­bro­che­nen Fens­ter­schei­ben wie „Kris­tal­le“ spie­gel­ten beschö­ni­gend „Reichs­kris­tall­nacht“ genannt. Die­se Nacht dau­er­te tat­säch­lich meh­re­re Tage und Näch­te. Nun wur­den tau­sen­de jüdi­sche Woh­nun­gen und Geschäf­te geplün­dert, zer­stört und „ari­siert“. 42 Syn­ago­gen und Bethäu­ser wur­den in Brand gesteckt und ver­wüs­tet. Nicht nur in Wien, auch in den klei­ne­ren öster­rei­chi­schen Städ­ten wie Inns­bruck kam es zu blu­ti­gen Über­grif­fen. Zahl­rei­che Men­schen star­ben in Öster­reich wäh­rend des und nach dem Novem­ber­po­grom an den Fol­gen der Miß­hand­lun­gen oder nah­men sich aus Ver­zweif­lung das Leben.
6547 Juden wur­den in Wien im Zuge des Novem­ber­po­groms ver­haf­tet, 3700 davon ins KZ Dach­au depor­tiert. Und: Die jüdi­sche Bevöl­ke­rung wur­de dazu ver­pflich­tet für alle Schä­den des gegen sie gerich­te­ten Pogroms aufzukommen!
Das Novem­ber­po­grom war der ent­schei­den­de Schritt, die begon­ne­nen Ent­rech­tungs- und Berau­bungs­maß­nah­men gegen Juden und Jüdin­nen zu voll­enden. Es war aber auch eine Art „Test­lauf“ der Nazis, wie­viel JüdIn­nen­ver­fol­gung der Bevöl­ke­rung zuzu­mu­ten sei, ohne daß es zu nen­nens­wer­tem Wider­stand dage­gen kommt.

Der Aspang­bahn­hof

Mit dem deut­schen Über­fall auf Polen begann
offi­zi­ell der 2. Welt­krieg in Euro­pa. Zu die­sem Zeit­punkt leb­ten noch etwa 70.000 Jüdin­nen und Juden in Wien. Alle ver­blie­be­nen öster­rei­chi­schen Jüdin­nen und Juden waren mitt­ler­wei­le nach Wien geschickt wor­den. Dort leb­ten sie zusam­men­ge­pfercht in Sam­mel­woh­nun­gen und ‑lager, unter schlech­ten Bedin­gun­gen und schlecht ver­sorgt. Sie wur­den regis­triert und muß­ten ab Sep­tem­ber 1941 einen gel­ben David­stern tra­gen, wie auch die noch von Jüdin­nen und Juden bewohn­ten Woh­nun­gen mit einem sol­chen gekenn­zeich­net wur­den, um den Behör­den die Ver­fol­gung bzw. Aus­he­bung für die Depor­ta­tio­nen zu erleichtern.
Die ers­ten Depor­ta­tio­nen soll­ten noch dem zumin­dest vor­geb­li­chen Ziel die­nen, deut­sche bzw. öster­rei­chi­sche Jüdin­nen und Juden in einem „Juden­re­ser­vat“ in Polen anzu­sie­deln. Die­ser Plan wur­de aber nie verwirklicht.
Im Früh­jahr 1941 for­der­te der neue Gau­lei­ter von Wien, Bal­dur von Schi­rach, die Depor­ta­tio­nen wie­der auf­zu­neh­men, um die ver­blie­be­nen jüdi­schen Woh­nun­gen „frei­ma­chen“ zu kön­nen. Juden und Jüdin­nen wur­den erfaßt und regis­triert und in der Fol­ge Lis­ten für die Depor­ta­tio­nen zusammengestellt.
Die Depor­ta­tio­nen erfolg­ten vom Aspang­bahn­hof. Die­se wur­den zuerst mit nor­ma­len Per­so­nen­wag­gons der 3. Klas­se, spä­ter dann mit Vieh­wag­gons, durch­ge­führt und „nur“ von nor­ma­ler Poli­zei bewacht, nicht von der SS. Zum einen woll­ten die Nazis wohl die Illu­si­on einer „Aus­wan­de­rung“ für die Betrof­fe­nen und die beob­ach­te­ten­de Bevöl­ke­rung auf­recht­erhal­ten, zum andern rech­ne­ten sie nicht mit nen­nens­wer­tem Wider­stand durch die Betrof­fe­nen, weil vie­le der aus Wien Depor­tier­ten älte­re Men­schen bzw. Frau­en waren. Die Opfer der ers­ten Depor­ta­tio­nen im Jahr 1941 wur­den auf die Ghet­tos im besetz­ten Rest-Polen auf­ge­teilt. Arbeits­fä­hi­ge kamen meist in die Zwangs­ar­beits­la­ger der SS. Die meis­ten die­ser am Anfang 1941 Depor­tier­ten soll­ten im Früh­jahr und Som­mer 1942 „Aus­kämm­ak­tio­nen“ der SS zum Opfer fal­len oder wur­den zusam­men mit den pol­ni­schen Jüdin­nen und Juden in die Ver­nich­tungs­la­ger gebracht. Tau­sen­de öster­rei­chi­sche Juden und Jüdin­nen wur­den in Lagern wie Maly Tros­ti­nez mas­sen­haft erschos­sen oder in Gas­wa­gen ermordet.
Spä­ter führ­ten die Depor­ta­ti­ons­zü­ge vom Aspang­bahn­hof in das Ghet­to The­re­si­en­stadt in der Nähe von Prag, von wo aus die Züge Rich­tung Ver­nich­tungs­la­ger Treb­linka, Sobi­bor, Ausch­witz bzw. Auschwitz/Birkenau gin­gen, wel­che mitt­ler­wei­le schon mit rie­si­gen Gas­kam­mern aus­ge­stat­tet waren. Mit dem Zweck mög­lichst vie­le Men­schen in mög­lichst kur­zer Zeit und – für die Mör­der – mög­lichst „scho­nend“ umzubringen.
Unter­des­sen wur­den auch öster­rei­chi­sche Roma und Sin­ti (sie wur­den zuerst als „Aso­zia­le“, spä­ter als „Zigeu­ner“ ver­folgt) von der Kri­mi­nal­po­li­zei bzw. Gesta­po beraubt und in den Lagern Lackenbach/Burgenland, Maxglan/Salzburg und St. Pantaleon/OÖ inter­niert. Sie wur­den immer wie­der zu Zwangs­ar­beit her­an­ge­zo­gen. Etwa 5000 Roma und Sin­ti, in der Regel gan­ze Fami­li­en, wur­den 1941 in das Ghet­to Lodz depor­tiert und letzt­lich im Ver­nich­tungs­la­ger Kulmhof/Chelmo ermor­det. Ein gro­ßer Teil der ver­blie­be­nen Roma und Sin­ti aus Öster­reich wur­de nach Auschwitz/Birkenau gebracht und ermor­det, nur weni­ge über­leb­ten. Bei der Befrei­ung des Lagers Lacken­bach durch die Rote Armee waren dort noch höchs­tens 400 Häftlinge.
Nach 40 gro­ßen und vie­len klei­ne­ren Trans­por­ten aus Wien leb­ten von 200.000 öster­rei­chi­schen Jüdin­nen und Juden 1945 noch etwa 5000 in Wien. Sogar noch in den letz­ten Tagen der Kämp­fe um Wien ver­üb­te eine SS-Ein­heit ein Mas­sa­ker an neun hier ver­blie­be­nen Juden.
15 bis 20.000 öster­rei­chi­sche Jüdin­nen und Juden, wel­che sich nach der Flucht in die Tsche­cho­slo­wa­kei, nach Bel­gi­en und Frank­reich schon in Sicher­heit geglaubt haben, fie­len nach der Erobe­rung die­ser Län­der durch die deut­sche Wehr­macht ihren Mör­dern in die Hände.
6 Mil­lio­nen euro­päi­sche Juden und Jüdin­nen sind der Shoa, auch „Holo­caust“ genannt, zum Opfer gefal­len, min­des­tens 65.500 davon stamm­ten aus Öster­reich. Die­se Zahl ist eine Min­dest­zahl, da vie­le Ermor­de­te namen­los oder auch „staa­ten­los“ waren und des­halb nicht als öster­rei­chi­sche Staats­bür­ge­rIn­nen erfasst wur­den. Von den 11 bis 12.000 öster­rei­chi­schen „Zigeu­nern“ wur­den zwi­schen 1938 und 1945 schät­zungs­wei­se 9500 ermor­det, etwa 2000 über­leb­ten die Depor­ta­tio­nen. Zudem sind zig­tau­sen­de „Erb­kran­ke“ (Behin­der­te), „Aso­zia­le“, Zeu­gIn­nen Jeho­vas, Zwangs­ar­bei­te­rIn­nen, Deser­teu­re und „Wehr­kraft­zer­set­zer“, Homo­se­xu­el­le, Kri­mi­nel­le und poli­ti­sche Geg­ne­rIn­nen bzw. Wider­stands­kämp­fe­rIn­nen aus Öster­reich der Mord­ma­schi­ne­rie der Nazis zum Opfer gefallen.

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Wien – „Welt­haupt­stadt des Anti­se­mi­tis­mus“ um 1900
Von Dr. Ger­hard Senft, Pierre Ramus Gesellschaft

Das Bild von Wien um 1900 ist nach
wie vor Gegen­stand roman­ti­scher Ver­klä­rung. Die Fül­le groß­ar­ti­ger Schöp­fun­gen auf den Gebie­ten der Kunst und der Wis­sen­schaf­ten lässt posi­ti­ve gedank­li­che Ver­bin­dun­gen durch­aus zu. Doch das Wien der Jahr­hun­dert­wen­de ist nicht nur das Wien bedeu­ten­der kul­tu­rel­ler und geis­ti­ger Strö­mun­gen, es ist auch jenes Wien, in dem der jun­ge Adolf Hit­ler um weni­ge Hel­ler sei­ne ers­ten anti­se­mi­ti­schen Bro­schü­ren erstan­den hat.
Die kri­sen­haf­te öko­no­mi­sche Ent­wick­lung im Gefol­ge des Wie­ner Bör­sen­krachs von 1873 hat­te eine poli­ti­sche Wen­de in Rich­tung Feu­dal­kon­ser­va­ti­vis­mus und Natio­na­lis­mus her­bei­ge­führt. Damit ein­her ging eine wach­sen­de Juden­feind­lich­keit, die sich vor allem gegen die Zuwan­de­rung aus den öst­li­chen Pro­vin­zen der Mon­ar­chie rich­te­te. An der Uni­ver­si­tät Wien, die sich als ein „deut­scher Tem­pel der Wis­sen­schaf­ten“ zu gerie­ren ver­such­te, kam es im Dezem­ber 1875 im Zuge einer Vor­le­sung des bekann­ten Medi­zi­ners Theo­dor Bill­roth zu ers­ten anti­se­mi­ti­schen Aus­schrei­tun­gen. Des­sen The­sen „gegen schlim­me gali­zi­sche und unga­ri­sche jüdi­sche Ele­men­te“ wur­den von einer deutsch­na­tio­nal gesinn­ten Stu­den­ten­schaft begeis­tert aufgenommen.
Ein frucht­ba­rer Boden für ras­sis­ti­sches Gedan­ken­gut fand sich auch im klein­ge­werb­li­chen Milieu, in dem neben der katho­li­schen Tra­di­ti­on auch ein tief ver­wur­zel­ter Anti­ju­da­is­mus nach­wirk­te. Die Emp­fäng­lich­keit gegen­über der Hetz­pro­pa­gan­da eines Karl Lue­ger war hier beson­ders aus­ge­prägt. Geschickt ver­stand es der Wie­ner Bür­ger­meis­ter und Füh­rer der Christ­lich­so­zia­len Par­tei, die mit der kapi­ta­lis­ti­schen Ent­wick­lung auf­kom­men­den Exis­tenz­ängs­te zu instru­men­ta­li­sie­ren und damit einem wirt­schaft­li­chen Anti­se­mi­tis­mus Auf­trieb zu ver­lei­hen. Nicht zufäl­lig waren es über­wie­gend Gewer­be­trei­ben­de, die die Auf­nah­me der Geschäfts­tä­tig­keit der Wie­ner Back­wa­ren­fa­brik Anker­brot durch die Brü­der Hein­rich und Fritz Mendl 1891 mit anti­se­mi­ti­schen Kund­ge­bun­gen begleiteten.
Zum enge­ren Per­so­nen­kreis um Lue­ger zähl­te der Poli­ti­ker und Hoch­schul­leh­rer Josef Schle­sin­ger, der sich im Jahr 1898 mit fol­gen­den Wor­ten an den öster­rei­chi­schen Reichs­rat wand­te: „Ein offe­ner Blick in das prak­ti­sche Leben zeigt uns die That­sa­che, daß ins­be­son­de­re das wirth­schaft­li­che Leben unse­rer Zeit von den Juden beherrscht wird. … Wo eins­tens die Juden nur gedul­det wur­den, sind sie jetzt die Her­ren, und die Nach­kom­men der Chris­ten sind jetzt ihre Knech­te; ja soweit ist es gekom­men, daß Juden als Herr­schafts­be­sit­zer zu Patro­nats­her­ren christ­li­cher Pfar­ren gewor­den sind. … Schaf­fen wir ein Gegen­ge­wicht dem Bun­de der Juden, der
Alli­ance Israe­li­te, schaf­fen wir einen Bund der Ari­er, der uns Ari­er Alle … zu einer gro­ßen Volks­macht zusam­men-führt; … strei­ten und kämp­fen wir doch lie­ber ver­eint gegen die uns unter­jo­chen­de jüdi­sche Geld­herr­schaft, gegen den volks­wirth­schaft­li­chen, unse­re ari­sche Cul­tur ver­nich­ten­den semi­ti­schen Ring …“ Schle­sin­ger schloss mit den Wor­ten: „Also hoher Reichs­rath, erken­ne Dei­ne Mis­si­on und füh­re uns Ari­er zum Siege!“

Auf­fäl­lig ist im gege­be­nen Zusam­men­hang, dass Schle­sin­gers Den­ken über den reli­gi­ös und wirt­schaft­lich fun­dier­ten Anti­se­mi­tis­mus sei­ner Zeit hin­aus­ge­hend eine deut­li­che ras­sen­ideo­lo­gi­sche Ori­en­tie­rung ent­hielt. Es war kein gerin­ge­rer als Karl Kraus, der die Quel­le, aus der Schle­sin­ger sei­ne ungeis­ti­gen Anre­gun­gen bezog, auf­ge­deck­te: „Herr Abge­ord­ne­ter Schle­sin­ger“, schrieb Kraus in der Novem­ber-Aus­ga­be der Fackel 1899, „ich bat Sie neu­lich, bei Ihren Inter­pel­la­tio­nen im Abge­ord­ne­ten­haus und bei Ihren Cita­ten im Deut­schen Volks­blatt die Quel­le nie zu ver­ges­sen und gera­de­her­aus zu sagen, daß Sie Ihre Wis­sen­schaft­lich­keit aus Hous­ton Ste­wart Cham­ber­lain bezie­hen, des­sen ‘Grund­la­gen’ soeben voll­stän­dig erschie­nen sind.“ Für Kraus war Schle­sin­ger in ers­ter Linie ein Pla­gia­tor Cham­ber­lains (Die Grund­la­gen des 19. Jahr­hun­derts, 1898). Für die Geschichts­wis­sen­schaft gilt Cham­ber­lain heu­te als einer der Ein­peit­scher des Ras­sen-Anti­se­mi­tis­mus, der in fami­liä­rer und ideo­lo­gi­scher Nähe zu Richard Wag­ner den Hit­ler-Faschis­mus mit vor­be­rei­ten half.

Lue­ger und Schle­sin­ger waren durch­aus kei­ne Ein­zel­er­schei­nun­gen bei den öster­rei­chi­schen Christ­lich­so­zia­len: Das Pro­gramm der Christ­lich­so­zia­len Par­tei von 1926 beinhal­te­te ein kla­res Bekennt­nis zum Anti­se­mi­tis­mus. Zudem sah Engel­bert Doll­fuß, der Öster­reich 1933 in die aus­tro­fa­schis­ti­sche Dik­ta­tur führ­te, die ideo­lo­gi­schen Gren­zen zwi­schen Christ­lich­so­zia­len und Natio­nal­so­zia­lis­ten alles ande­re als klar. Doll­fuß am 14. März 1933: „Was im Natio­nal­so­zia­lis­mus und sei­nen Ideen gesund ist, das ist altes, christ­lich-sozia­les Pro­gramm …“ Doll­fuß zeig­te 1933 zudem hohe Bereit­schaft, Natio­nal­so­zia­lis­ten in sei­ne Regie­rung auf­zu­neh­men, auch sein Vor­gän­ger im Bun­des­kanz­ler­amt, Ignaz Sei­pel, hat­te die Natio­nal­so­zia­lis­ten als poten­ti­el­le Bünd­nis­part­ner erachtet.

Der Stän­de­staat der Aus­tro­fa­schis­ten zwi­schen 1934 und 1938 lief auf eine beden­ken­lo­se Imi­ta­ti­on totalitärer/autoritärer Vor­bil­der hin­aus und er leis­te­te eine Grund­la­gen­ar­beit, die mit natio­nal­so­zia­lis­ti­schem Gedan­ken­gut zumin­dest teil­wei­se kon­gru­ent war. Als im Juni 1936 der frei­den­ke­ri­sche Phi­lo­so­phie­pro­fes­sor Moritz Schlick das Opfer eines poli­tisch rechts­ge­rich­te­ten Atten­tä­ters wur­de, war es die Pres­se des Stän­de­staa­tes, die dem Ermor­de­ten noch Schmä­hun­gen ins Grab mit­gab. Im Wochen­blatt Schö­ne­re Zukunft stand zu lesen: „Der Jude ist der gebo­re­ne Ame­ta­phy­si­ker, er liebt in der Phi­lo­so­phie den Logo­zis­mus, den Mathe­ma­ti­zis­mus, den For­ma­lis­mus und Posi­ti­vis­mus, also lau­ter Eigen­schaf­ten, die in höchs­tem Maße Schlick in sich ver­ei­nig­te.“ Das Lin­zer Volks­blatt gab die authen­ti­schen kle­ri­ko­au­to­ri­tä­ren Töne von sich: Schlick habe „Edel­por­zel­lan des Volks­tums“ ver­dor­ben, „hei­mat­hö­ri­ge Schol­len­kin­der, edlen Wuchs aus dem geis­ti­gen Kraft­re­ser­voir unse­res Bau­ern­stan­des.“ So wur­de Schlick zuletzt noch zum „schul­di­gen Ermor­de­ten“ gestem­pelt, des­sen Mör­der in Wahr­heit unschul­dig war.
An den Hoch­schu­len war es bereits zuvor zu gehäuf­ten anti­se­mi­ti­schen Über­grif­fen gekom­men. Als beson­ders üble Figur erwies sich in dem Zusam­men­hang Oth­mar Spann, sei­nes Zei­chens Pro­fes­sor an der Uni­ver­si­tät Wien, des­sen Vor­le­sungs­in­hal­te sowohl die katho­lisch-kon­ser­va­ti­ve als auch die deutsch­na­tio­na­le Stu­den­ten­schaft anspra­chen. Der Zeit­zeu­ge und spä­te­re Wie­ner Kul­tur­stadt­rat Vik­tor Mate­j­ka berich­tet in sei­nen Erin­ne­run­gen von Anhän­gern Spanns, die nach den Vor­le­sun­gen ihres Idols auf­ge­heizt aus dem Hör­saal stürm­ten, um jüdi­sche Kom­mi­li­to­nen zu ver­prü­geln. Für Spann zeich­ne­ten sich die Juden vor allem durch ihre „Ver­stockt­heit“ aus, bar jeder „schöp­fe­ri­schen Bega­bung“ sei­en sie nur bestrebt, ihr „Wirts­volk“ zu „zer­set­zen“. Spann hat­te zunächst die Nähe der faschis­ti­schen Heim­wehr gesucht, rück­te in den 1930er Jah­ren aber immer stär­ker in Rich­tung Nationalsozialismus.
Zu die­ser Zeit waren jüdi­sche Mit­bür­ge­rin­nen und Mit­bür­ger bereits von zahl­rei­chen Orga­ni­sa­tio­nen, vom Sport­ver­ein bis zur Stu­den­ten­ver­bin­dung, aus­ge­schlos­sen. Im stän­de­staat­li­chen Öster­reich beschränk­te sich der gewerb­li­che Anti­se­mi­tis­mus auch nicht mehr allein auf ver­ba­le Hie­be gegen das „Ost-Juden­tum“. Juden wur­den kei­ne Funk­tio­nen im Bund der öster­rei­chi­schen Gewer­be­trei­ben­den mehr zuge­stan­den, zu Weih­nach­ten 1937 wur­de eine bis dahin in Öster­reich nahe­zu bei­spiel­lo­se Kam­pa­gne gestar­tet, mit der die Geschäf­te jüdi­scher Inha­ber boy­kot­tiert wer­den sollte.
Als in der ers­ten Jah­res­hälf­te 1938 der Anschluss Öster­reichs an das Deut­sche Reich voll­zo­gen wur­de, war der Boden für kom­men­de Ver­fol­gungs- und Ver­nich­tungs­ak­tio­nen bereits wesent­lich aufbereitet.

Das Geden­ken am 9. Novem­ber im Internet:
http://www.initiative-aspangbahnhof.org