Das Leiden von Charkiw und die Nazis

Eine Dop­pel­num­mer des Mölz­er-Mag­a­zins „Zur Zeit“ (Nr. 6–7/2023) beschäftigt sich mit dem rus­sis­chen Über­fall auf die Ukraine. Unter einem dur­chaus orig­inellen Blick­winkel. „Die neuen deutschen Kriegsh­er­ren“ titelt das recht­sex­treme Blatt und zeigt die Regierungsmit­glieder Annale­na Baer­bock und Robert Habeck lachend hin­ter einem Panz­er. Bild und Text simulieren: Deutsch­land macht den Krieg, nicht Russland.

Im Blat­tin­neren bemüht sich der allzeit getreue Bern­hard Tomaschitz, die deutsche Mil­itärhil­fe für die Ukraine in Kriegs­beteili­gung und „Kriegslust“ umzuschreiben: mit mäßigem Erfolg, eher eine Pflichtübung. Pflichtübung für wen oder was? Die Antwort lässt sich aus dem ableit­en, was in der gesamten Dop­pel­num­mer ver­schwiegen wird: dass es sich bei dem, was „Zur Zeit“ einen „Aus­bruch des Ukrainekrieges“ nen­nt, um einen impe­ri­alen Angriffs- und Eroberungskrieg Rus­s­lands han­delt, der nicht nur einen klaren Bruch des Völk­er­rechts darstellt, son­dern auch der europäis­chen Frieden­sor­d­nung, wie sie in den Verträ­gen und Regeln der OSZE über Jahrzehnte hin­weg fest­gelegt wurde – mit der Sow­je­tu­nion und danach auch mit Rus­s­land. Aber von inter­na­tionalen Verträ­gen, Regeln und Insti­tu­tio­nen hal­ten die Recht­sex­tremen üblicher­weise ja ohne­hin sehr wenig.

Zerstörte Nationale W.-N.-Karasin-Universität Charkiw 2022 (Wikipedia)

Von der russ. Armee zer­störte Nationale W.-N.-Karasin-Universität Charkiw März 2022 (Wikipedia)

Da ist es für einen wie Andreas Mölz­er schon viel lustiger, für einen kurzen Moment die Seit­en zu wech­seln und sich als strenger Kri­tik­er ein­er „Wiederkehr des deutschen Mil­i­taris­mus“ zu präsen­tieren. Ja, aus­gerech­net Mölz­er! Aber ohne­hin nur für einen sehr kurzen Moment, denn „erin­nert muss in diesem Zusam­men­hang daran wer­den, dass es auch pos­i­tive Tra­di­tio­nen des preußis­chen Sol­da­ten­tums gibt. Ohne patri­o­tis­che Hingabe, ohne Diszi­plin und ohne Pflicht­be­wusst­sein wird auch eine mod­erne deutsche Armee nicht existieren kön­nen.

Da ist er wieder, der alte Mölz­er! Um dem blauen Lesepub­likum klarzu­machen, was unter den pos­i­tiv­en Tra­di­tio­nen des preußis­chen Sol­da­ten­tums, patri­o­tis­ch­er Hingabe und Diszi­plin zu ver­ste­hen ist, wird ver­sucht, das in der selt­samen Dop­pel­num­mer mit ein­er his­torischen Rem­i­niszenz an „die Ereignisse in Charkow im Feb­ru­ar und März 1933“ zu belegen.

Charkiw heißt die Stadt auf Ukrainisch, aber die rus­sis­che Benen­nung durch den Autor Klaus Gröbig, einen AfD-Mann aus Berlin, ist noch das ger­ing­ste Prob­lem an diesem Beitrag. Die Chuzpe muss man erst ein­mal auf­brin­gen, nach einem Jahr Krieg und Zer­störung durch Rus­s­land, durch den die zweit­größte Stadt der Ukraine um Jahrzehnte zurück­ge­bombt wurde, einen Beitrag unter dem Titel „Geräumt und zurücker­obert“ über Charkiw im Jahr 1943 aus der Per­spek­tive der deutschen Wehrma­cht zu ver­fassen – ohne jede Bezug­nahme auf die aktuellen oder his­torischen Lei­den, die die jew­eili­gen Erober­er über die Stadt und ihre Men­schen gebracht haben.

Klaus Gröbig (AfD) empfiehlt die Landsmannschaft Rhenania Münster: "Das Verbindungsstudententum stärken" (Screenshot FB)

Klaus Gröbig (AfD) emp­fiehlt die Lands­man­nschaft Rhenania Mün­ster – Finde den Fehler!: „Das Verbindungstu­den­ten­tum [sic!] stärken” (Screen­shot FB)

Charkiw, das 1933 bere­its durch die von Stal­in der Ukraine aufgezwun­gene Hunger­snot riesige men­schliche Ver­luste erlei­den musste, hat durch Hitlers Angriffs- und Eroberungskrieg gle­ich mehrfach und sehr mas­siv Ter­ror und Schä­den erlei­den müssen. Seine jüdis­chen Einwohner*innen wur­den schon kurz nach Ein­rück­en der deutschen Trup­pen 1941 fast kom­plett in den Mas­sak­ern von Drobyzkyj Jar aus­gelöscht – bis zu 20.000 Men­schen wur­den ermordet. Der restlichen Zivil­bevölkerung verord­neten die Nazis, so wie Stal­in einige Jahre zuvor, eine Hunger­snot, die geschätzte 14.000 Todes­opfer in der Stadt forderte. Zehn­tausende arbeits­fähige Einwohner*innen wur­den als Zwangsarbeiter*innen in das Deutsche Reich ver­schleppt, unge­fähr drei Vier­tel aller Häuser der Stadt wur­den bis Kriegsende zer­stört oder zu Ruinen gemacht. Die Zahl der zivilen Opfer war ins­ge­samt riesig.

Deutsche Wehrmacht im zerstörten Charkiw 1943 (Bundesarchiv)

Deutsche Wehrma­cht im zer­störten Charkiw 1943 (Com­mons Wikimedia/Bundesarchiv)

Von all dem ist in dem selt­samen Beitrag des AfD-Mannes Gröbig nichts zu lesen. Keine Zeile, keine Silbe. Stattdessen ermü­dende Beschrei­bun­gen von Trup­pen­be­we­gun­gen und Kriegstak­tiken, die noch dazu etlich­es ver­schweigen oder gar ver­fälschen.  So ist in Gröbigs Beitrag zu lesen, dass die Stadt 1943 „vom II.SS-Panzerkorps gegen Hitlers aus­drück­lichem [sic!] Befehl am 16. Feb­ru­ar geräumt wor­den war“. Einige Absätze bzw. Wochen später „wollte nun (…) der Kom­man­deur des II. SS-Panz­erko­rps, Ober­grup­pen­führer Paul Hauss­er (…) die Stadt, die er vor knapp einem Monat räu­men musste, nun wieder ein­nehmen“.

Schön, dass die Lüge so ein­fach zu find­en ist. Paul Hauss­er, ein ganz übler Nazi-Ver­brech­er, „musste“ nicht räu­men, son­dern hat sich einem Befehl Hitlers und sein­er mil­itärischen Vorge­set­zten Erich von Manstein und Hubert Lanz wider­set­zt, sie ein­fach nicht zur Ken­nt­nis genom­men. Statt an dieser Stelle in einem Ein­schub die Mölz­er­schen Seifen­blasen über preußis­ches Sol­da­ten­tum, Patri­o­tismus und Pflicht­be­wusst­sein zum Platzen zu brin­gen, gibt es einen Kas­ten zu Gen­er­al Erich von Manstein, der – auf­passen, Mölz­er! – „auf ver­schiede­nen preußis­chen Kadet­te­nanstal­ten“ aus­ge­bildet, später ein­er der klüg­sten Mil­itärs Hitlers, aber auch ein­er sein­er bravsten Pflichter­füller („Preußis­che Feld­marschälle meutern nicht“) und Kriegsver­brech­er wurde.

Deutsche Wochenschau 1943: Charkiw von der Wehrmacht zerstört

Deutsche Wochen­schau 1943 (Screen­shot): Charkiw von der Wehrma­cht zerstört

Statt sich unter dem Titel „Geräumt und zurücker­obert“ unter Aus­blendung so ziem­lich aller Gegeben­heit­en und Grausamkeit­en in eine sehr kurze Phase von Siegen der Hitler-Trup­pen hineinzuträu­men, wür­den das Lei­den von Charkiw und sein­er Bevölkerung unter Stal­in, Hitler und Putin, aber auch die Befehlsver­weigerung von Hauss­er so wie das Pflichter­füller­tum des Gen­er­alfeld­marschalls Manstein für etliche Dop­pel­num­mern ein­er Zeitschrift reichen – aber sich­er nicht für „Zur Zeit“, wo man sich nur in großdeutsch­er Hagiogra­phie ver­ste­ht. Die Nieder­lage des Nazi-Regimes stand zum Zeit­punkt der Rücker­oberung Charki­ws im März 1943 schon fest, die mil­itärischen Fähigkeit­en und Tak­tiken Mansteins haben Hitlers Krieg im Osten höch­stens ver­längert und so weit­ere Hun­dert­tausende zivile und mil­itärische Opfer verursacht.

Wie sich die „Zurücker­oberung“ Charki­ws durch den SS-Ver­brech­er Hauss­er im März 43 tat­säch­lich abge­spielt hat, wird in der Dis­ser­ta­tion des His­torik­ers Gunter Friedrich („Kol­lab­o­ra­tion in der Ukraine im Zweit­en Weltkrieg. Die Rolle der ein­heimis­chen Stadtver­wal­tung während der deutschen Beset­zung Charkows 1941 bis 1943“) beschrieben:

Am 15. März gelang es allerd­ings den SS-Panz­er­di­vi­sio­nen „Das Reich“ und „Leib­stan­darte Adolf Hitler“ die Stadt zurück­zuer­obern. In ten­den­z­iös­er Lit­er­atur wird das mil­itärische Vorge­hen der SS-Ein­heit­en als oper­a­tive Meis­ter­leis­tung beschrieben, dabei wird allerd­ings vielfach nicht erwäh­nt, welche Schreck­en die nach­fol­gende Wiederbe­set­zung mit sich brachte. Die Ein­wohn­er Charkows sprachen in diesem Zusam­men­hang von der „anderen“ Beset­zung der Stadt. Die SS-Ein­heit­en exeku­tierten bei der Wiederer­oberung der Stadt wahl­los Ein­wohn­er. Deutsche Sol­dat­en sper­rten Ein­heimis­che ohne weit­ere Ver­dachtsmo­mente in Kel­lergewölbe und töteten die Gefangenen
mit Hand­granat­en. Kriegs­versehrte Rotarmis­ten, die in einem Charkow­er Kranken­haus zurück­ge­blieben waren, wur­den von der SS in ihren Bet­ten exeku­tiert oder bei lebendi­gem Leib ver­bran­nt und sow­jetis­che Kriegs­ge­fan­gene öffentlich gekreuzigt und ver­stüm­melt.
(S. 124 f.)

Manstein, der preußis­che Mil­i­tarist nach Mölz­er­schem Maß, war zwar kein Nazi, aber ein übler Pflichter­füller, der im Herb­st 1941, als er Hunger­auf­stände in der Ukraine befürchtete, in einem Befehl an seine Truppe forderte, das „jüdisch-bolschewis­tis­che Sys­tem“ auszurotten:

Deshalb drängte er die Ein­satz­gruppe D mit deren zuständi­gem Son­derkom­man­do 11b die erst für den März 1942 vorge­se­hene Liq­ui­dierung der in Sim­fer­opol leben­den Juden und Roma noch vor Wei­h­nacht­en durchzuführen. So fiel am 6. Dezem­ber der Entschluss zur umge­hen­den Ermor­dung dieser nicht zulet­zt auch als „unnütze Ess­er“ ange­se­henen Men­schen im Sim­fer­opol-Mas­sak­er. (Wikipedia)

Hat ihm nicht wirk­lich geschadet, seine aktive Rolle bei der Ermor­dung von Juden und Roma! Eigentlich 18 Jahre Haft, die dann auf ca. sieben Jahre gekürzt wur­den, Haftver­scho­nung wegen eines „Augen­lei­dens“ und dann mehrere Jahre Berater beim Auf­bau der Bun­deswehr. In „Zur Zeit“ ist dazu ver­harm­losend zu lesen: „Neuere His­torik­er ver­suchen Manstein eine Beteili­gung an Kriegsver­brechen anzuhän­gen.“

Der höch­strangige SS-Mann Hauss­er, der 1945 in Zell am See festgenom­men wurde, musste sich für seine Ver­brechen nie vor einem Gericht ver­ant­worten, son­dern betätigte sich als Nazi weit­er und wieder. Auch dazu find­et sich in „Zur Zeit“ keine Silbe.

Manstein-Befehl 1941 (ns-archiv.de)

Manstein-Befehl 1941 (ns-archiv.de)