Abrechnung unter Weißen

Vor weni­gen Tagen ist mit dem Freis­pruch des Teenagers Kyle Rit­ten­house in Kenosha (Wis­con­sin) ein Prozess zu Ende gegan­gen, der in den öster­re­ichis­chen Medi­en lei­der nur wenig Aufmerk­samkeit erhal­ten hat. Zwar gab es Berichte, aber zen­trale Aspek­te wie die Ver­hand­lungs­führung des Richters oder auch die Instru­men­tal­isierung des Täters für rechte und ras­sis­tis­che Pro­pa­gan­da kamen dabei ein­deutig zu kurz bzw. wur­den gar nicht ausgeführt.

Ein Schwarz­er ist das Opfer

Aus­gangspunkt der Proteste in Kenosha waren die Schüsse auf den Afroamerikan­er Jacob Blake, die ein Polizist im Rah­men eines Polizeiein­satzes am 23. August 2020 abge­feuert hat. Es waren sieben Schüsse, die Blake im Rück­en trafen und zu ein­er Quer­schnit­tläh­mung führten. In der Folge kam es zu Protesten, die teil­weise auch gewalt­tätig waren, zur Verkün­dung ein­er Aus­gangssperre in Kenosha und am 25. August auch zum Aus­nah­mezu­s­tand für ganz Wis­con­sin führten.

Von den am Polizeiein­satz beteiligten weißen Polizis­ten gab nur ein­er die Schüsse ab, die Wirbel­säule, Magen und Leber sowie einen Arm von Blake durch­schlu­gen. Die am Polizeiein­satz beteiligten Polizis­ten wur­den zunächst in einen bezahlten Urlaub geschickt, alle Ermit­tlun­gen und auch die Diszi­pli­narver­fahren gegen sie bzw. den Schützen wur­den Anfang 2021 unter Beru­fung auf das Notwehr-Recht (“Self-defense“) eingestellt.

Das weiße „Milch­gesicht“

Als die ersten Proteste wegen der beina­he tödlichen Schüsse auf Blake in Kenosha los­gin­gen, rief eine eher spon­tan organ­isierte rechte Miliz, die „Kenosha Guard“, trotz Aus­gangssperre zur bewaffneten „Vertei­di­gung“ der Stadt auf (eine weit­ere, deut­lich recht­sex­treme Miliz, die „Booga­loo bois“, war eben­falls vor Ort). Der 17-jährige Kyle Rit­ten­house, der über Face­book vom Aufruf erfahren hat­te, fuhr mit ein­er hal­bau­toma­tis­chen Lang­waffe und Ver­band­szeug vom Nach­barstaat Illi­nois nach Kenosha:

Ich schütze die Geschäfte und die Men­schen”, sagte Rit­ten­house an jen­em Dien­stag in Kenosha zu dem recht­en Online-Medi­um Dai­ly Caller. Vor sein­er Brust kreuzten sich die Trage­bän­der ein­er San­ität­stasche und seines hal­bau­toma­tis­chen Gewehrs. „Nicht­tödliche Waf­fen haben wir nicht”, fügte er hinzu. Stun­den später erschoss er den 36-jähri­gen Joseph Rosen­baum auf einem Park­platz im Stadtzen­trum. In einem anschließen­den Handge­menge ver­sucht­en mehrere Demon­stran­ten, Rit­ten­house zu stop­pen. Der stolperte und schoss erneut. Sein zweites Opfer war der 26-jährige Roller­skater Antho­ny Huber. Sein drittes Opfer war der 21-jährige Gaige Grosskreutz. Ihn traf eine Kugel im Arm. Alle drei Opfer waren weiß. Alle drei hat­ten ver­sucht, Rit­ten­house zu ent­waffnen. Die bei­den Toten waren unbe­waffnet. Der über­lebende Grosskreutz trug eine Pis­tole, set­zte sie aber nicht ein. (taz.de, 1.11.21)

Vor seinen Todess­chüssen wur­den Rit­ten­house und andere (weiße) Bewaffnete von der Polizei mit Wass­er ver­sorgt und trotz Aus­gangssperre für ihren Auf­marsch bedankt („Wir schätzen euch Jungs wirk­lich!“ NZZ, 3.11.21) Nach seinen ersten Schüssen „zück­te Rit­ten­house nicht seine San­ität­stasche, um dem ster­ben­den Rosen­baum zu helfen, son­dern sein Handy. Videos zeigen, dass er in sein Tele­fon sprach: ‚Ich habe ger­ade auf jeman­den geschossen.‘“ (taz.de, 1.11.21)

Rittenhouse auf Facebook

Rit­ten­house auf Facebook

Obwohl er nach sein­er Schießerei mit erhobe­nen Armen auf die anfahren­den Polizei­wa­gen zug­ing und Zurufe zu hören waren, die ihn als Täter beschuldigen, kon­nte er den Schau­platz sein­er Blut­tat­en unbe­hel­ligt ver­lassen und nach Hause fahren. Erst Stun­den später stellte sich der beken­nende Trump-Fan und wurde in U‑Haft genom­men. Trump, der kurz darauf einen Blitzbe­such in Kenosha für seinen Wahlkampf nutzen wollte, vertei­digte ihn mit den Worten: „Er wäre ver­mut­lich tot, wenn er nicht geschossen hätte.“ Den schw­er ver­let­zten Jacob Blake erwäh­nt er nicht ein­mal mit einem Wort.

Kenosha 25.8.2020

Kenosha 25.8.2020

Rit­ten­house wird der Hero der Recht­en, die für ihn zwei Mil­lio­nen Dol­lar an Spenden sam­melt. Das weiße „Milch­gesicht“ (taz) Rit­ten­house gefällt sich in dieser Rolle, trifft sich mit den „Proud Boys“, lässt sich von den recht­en Medi­en abfeiern. Erst in den 14 Tagen des Prozess­es zeigt sich wieder, dass der Teenag­er ähn­lich wie in Kenosha sichtlich über­fordert ist. Er weint mehrmals, bricht zusam­men, zit­tert bei der Urteilsverkün­dung. Danach führt er wieder große Klappe, gibt „Fox News“ sein erstes großes Inter­view. Trump gratuliert.

Der Identitäre Sellner huldigt Rittenhouse: "Ein mitiger, starker junger Mensch." (Screenshot TG)

Der Iden­titäre Sell­ner huldigt Rit­ten­house: „Ein mit­iger, stark­er junger Men­sch.” (Screen­shot TG)

Der weiße Richter

Die Geschwore­nen befan­den über die Schuld des Angeklagten, aber der Vor­sitzende Richter steuerte den Prozess. Und wie!

In Richter Bruce Schroed­er scheint der Angeklagte jeman­den gefun­den zu haben, auf den er hof­fen kann. Schroed­er hat schon vor Prozess­be­ginn ver­boten, dass die Staat­san­waltschaft das Wort „Opfer” für die Toten und den Ver­let­zten benutzt. Hinge­gen ges­tat­tet er den Vertei­di­gern, dass sie die Opfer als „Plün­der­er”, Brand­schätzer und „Krawall­mach­er” beze­ich­nen“, schreibt die taz zu Prozess­be­ginn. (taz, 1.11.21)

Das set­zte sich dann auch während der Hauptver­hand­lung fort. Richter Schroed­er unter­sagte etwa der Staat­san­waltschaft, das gemein­same Bier­trinken und Posen mit den recht­sex­tremen Proud Boys zu the­ma­tisieren, forderte ander­er­seits die Anwe­senden im Gerichtssaal auf, einem Zeu­gen der Vertei­di­gung zu applaudieren, weil der seinem Land im Krieg gedi­ent habe (taz, 20.11.21).

Seine eigentliche Parteinahme für den Angeklagten lief aber über ein juris­tis­ches Manöver: Das Wis­con­sin-Strafrecht erlaubt die Beru­fung auf Notwehr dann nicht, wenn ihr ein krim­inelles Delikt voraus­ge­ht („The actor was engaged in a crim­i­nal activ­i­ty.“) Nun hat Rit­ten­house zunächst ein­mal die Aus­gangssperre ver­let­zt, ein Delikt, das allerd­ings weniger prob­lema­tisch war als das Tra­gen ein­er gefährlichen Waffe durch einen Minderjährigen.

Wäre das AK-15 von Rit­ten­house, bekan­nt auch als das M‑16-Stur­mgewehr der US-Armee, mit dem etwa das Mas­sak­er von Orlan­do aus­ge­führt wurde, als „gefährliche“ und damit für einen Min­der­jähri­gen ver­botene und unter Strafe gestellte Waffe eingestuft wor­den, dann hätte Rit­ten­house seine tödlichen Schüsse im Sta­tus der krim­inellen Aktiv­ität aus­ge­führt, hätte sich also nicht auf „Self-defense“ berufen können.

Richter Schroed­er hat in der Hauptver­hand­lung entsch­ieden, das AK-15 auf­grund sein­er Länge nicht als „gefährliche Waffe“ einzustufen – der entsprechende Anklagepunkt wurde daher fal­l­en­ge­lassen und hat so die erfol­gre­iche Beru­fung auf Selb­stvertei­di­gung erst möglich gemacht. Nachzule­sen ist das aus­gerech­net in einem Kom­men­tar des deut­lich recht­en Online-Medi­ums „Dai­ly Caller“ („Here Is Why The Judge Drop­ping The Gun Charge Was Impor­tant And Kept Rit­ten­house Out Of Jail.“)

Daily Caller: Why The Judge Dropping The Gun Charge

Dai­ly Caller: Why The Judge Drop­ping The Gun Charge

Die weißen Geschworenen

Die Auswahl der Geschwore­nen ist ein Kapi­tel für sich. Eine Kan­di­datin, die sich die Frage erlaubte, „Warum ist er nicht zuhause geblieben?“, wurde wieder nach Hause geschickt (NZZ, 3.11.21). Zwanzig Per­so­n­en wer­den für den Prozess aus­gewählt, nur eine einzige von ihnen ist eine „per­son of col­or“, alle anderen sind weiß. Richter Schroed­er spricht Rit­ten­house dann auch noch ein seltenes und selt­sames Priv­i­leg zu: Aus den 20 Per­so­n­en darf sich der Angeklagte am Ende „seine“ zwölf Geschwore­nen mit­tels Zahlen auf Zetteln selb­st auswählen. Das machen son­st Gerichts­beamte. „Wis­con­sin wird regelmäßig als der Bun­desstaat erfasst, in dem Afroamerikan­er am schlecht­esten leben“, schreibt Wikipedia.

NBC zu den Geschworenen: "The nearly all-white panel"

NBC zu den Geschwore­nen: „The near­ly all-white panel”

Das gilt offen­sichtlich für Gerichte und auch für Geschworene. Die sprechen Rit­ten­house nach mehrtägiger Beratung von allen Anklagepunk­ten in allen vorgelegten Schuld­fra­gen ein­stim­mig frei: erlaubte Notwehr. Präsi­dent Biden, der Rit­ten­house im Wahlkampf noch einen „White Suprema­cist“, einen weißen Ras­sis­ten, genan­nt hat, zeigte sich zwar verärg­ert und ent­täuscht über das Urteil, ersuchte aber es zu akzep­tieren, während der Chef des Jus­ti­zauss­chuss­es im Repräsen­tan­ten­haus von einem „Jus­tizir­rtum“ sprach.

Alles weiß – kein Rassismus?

Obwohl im Fall Rit­ten­house fak­tisch alles weiß ist, Täter, Opfer, Richter, Geschworene, lässt sich der Ras­sis­mus auch durch ein kleines Gedanken­ex­per­i­ment schnell nachvol­lziehen: Man stelle sich anstelle des 17-jähri­gen Kyle Rit­ten­house einen schwarzen Teenag­er vor, der nach Kenosha eilt, um mit ein­er Lang­waffe vor der Brust protestierende Afroamerikan­er zu unter­stützen. Wäre er von den Polizis­ten mit Wass­er ver­sorgt und für seinen Ein­satz bedankt wor­den? Wie viele Minuten hätte er wohl überlebt?