Das Wort im Mund verdrehen

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Die Publi­zis­tin Caro­lin Emcke ver­fass­te für den Par­tei­tag der deut­schen Grü­nen eine kur­ze Gast­re­de, in der sie vor der Gefähr­dung der Demo­kra­tie durch sys­te­ma­ti­sche Des­in­for­ma­ti­on, Popu­lis­mus und Res­sen­ti­ments war­nen woll­te. Die Bestä­ti­gung ihrer War­nung erfolg­te durch die Reak­tio­nen von Rechts auf ihre Rede. „Bild“ warf Emcke eine „Ent­glei­sung“ vor, weil sie die „Kri­tik an Kli­ma­for­schern“ mit der „Ver­fol­gung von Juden“ ver­gli­chen habe. Hat sie das?

Die Angrif­fe von Rechts rich­te­ten sich gegen eine Pas­sa­ge in ihrer Rede, in der das Wort Juden vor­kam. Zuvor hat­te Emcke noch fest­ge­stellt, dass das Objekt, auf das sich der empör­te Pro­test rich­ten wür­de, so aus­tausch­bar wie mut­wil­lig sei. Dann kon­kre­ti­sier­te sie:

Die radi­ka­le Wis­sen­schafts­feind­lich­keit, die zyni­sche Aus­beu­tung sozia­ler Unsi­cher­heit, die popu­lis­ti­sche Mobi­li­sie­rung und die Bereit­schaft zu Res­sen­ti­ment und Gewalt wer­den blei­ben. Es wird sicher wie­der von Eli­te gespro­chen wer­den und ver­mut­lich wer­den es dann nicht die Juden und Kos­mo­po­li­ten, nicht die Feminist:innen oder die Virolog:innen sein, vor denen gewarnt wird, son­dern die Klimaforscher:innen.

In die­ser Pas­sa­ge gibt es kei­nen Ver­gleich, schon gar nicht zwi­schen jüdi­schen Men­schen, die durch den Nazi-Holo­caust ermor­det wur­den, und Kli­ma­for­schern, son­dern nur die Ver­mu­tung, dass über eine bewusst emo­tio­nal auf­ge­la­de­ne Debat­te neue Feind­bil­der wie etwa Virolog*innen oder Klimaforscher*innen kon­stru­iert wer­den. Dann folgt noch der Warn­hin­weis: „Eine in sozia­len Medi­en frag­men­tier­te und durch Des­in­for­ma­ti­on und Res­sen­ti­ments auf­ge­la­de­ne Öffent­lich­keit rührt an den legi­ti­ma­to­ri­schen Kern einer Demo­kra­tie. Wir wer­den das im Wahl­kampf sehen. Wir wer­den Mani­pu­la­tio­nen und Lügen sehen.”

An den ers­ten Reak­tio­nen gemes­sen, war das eine self ful­fil­ling pro­phe­cy: „Bild“ wet­ter­te gegen die angeb­li­che „Ent­glei­sung“, die kon­ser­va­ti­ve „Welt am Sonn­tag“ ver­fei­ner­te die Des­in­for­ma­ti­on, indem sie unter­stell­te: „Die Auf­zäh­lung der Grup­pen in einem Satz wird umso absur­der, wenn man sich kon­kret erin­nert, um was es geht: Ver­nich­tungs­la­ger, Todes­mär­sche, Mas­sen­mor­de vor knapp 80 Jah­ren.“ (Weit am Sonn­tag, 13.6.21)

"Welt am Sonntag" und Emcke: "Dieser Satz ist ungeheuerlich (...) weil er (...) das Leid der Juden (...) in eine Reihe stellt mit Kritik an und auch Zorn und Drohungen gegen Virologen und Klimaforscher."

„Welt am Sonn­tag” und Emcke: „Die­ser Satz ist unge­heu­er­lich (…) weil er (…) das Leid der Juden (…) in eine Rei­he stellt mit Kri­tik an und auch Zorn und Dro­hun­gen gegen Viro­lo­gen und Klimaforscher.”

Um was ging es wirk­lich? Um die War­nung vor Mani­pu­la­ti­on, Lügen und neu­en Feind­bil­dern, die durch Wis­sen­schafts­feind­lich­keit, Res­sen­ti­ment und popu­lis­ti­sche Mobi­li­sie­rung beför­dert wer­den und so den demo­kra­ti­schen Dis­kurs zer­stö­ren kön­nen. Aber genau dar­über woll­ten „Bild“, „Welt“, der CDU-Gene­ral­se­kre­tär Paul Zie­mi­ak, der sich zunächst der Empö­rung der Sprin­ger-Pres­se ange­schlos­sen hat­te („geschichts­ver­ges­se­ne Ent­glei­sung“) und, wie die „Zeit“ in einem Kom­men­tar fest­hielt, „Kom­men­ta­to­ren, die sich immer zu Wort mel­den, wenn sie eine Gele­gen­heit fin­den, gegen Grü­ne, Frau­en, Gen­dern, Kli­ma­schutz oder ver­wand­te The­men zu schrei­ben“, sicher nicht debat­tie­ren. Nicht unbe­ab­sich­tigt war der schein­bar neu­tra­le Hin­weis der „Bild“: „Die Par­tei-Chefs Anna­le­na Baer­bock (40) und Robert Habeck (51) hör­ten der Rede von der Büh­ne aus zu.

"Bild" und Emcke: "Rednerin vergleicht Klimaforscher mit verfolgten Juden"

„Bild” und Emcke: „Red­ne­rin ver­gleicht Kli­ma­for­scher mit ver­folg­ten Juden”

Den Rest muss man sich bei „Bild“ dazu den­ken, wäh­rend die „Welt am Sonn­tag“ für ihr bil­dungs­bür­ger­li­ches Publi­kum schon die Phan­ta­sie blü­hen lässt: „Man stel­le sich vor, ein kon­ser­va­ti­ver oder rech­ter Publi­zist hät­te das Leid der Juden in einer sol­chen Auf­zäh­lung baga­tel­li­siert, eine kon­ser­va­ti­ve oder rech­te Par­tei­spit­ze hät­te ergrif­fen gelauscht, der oder die Frak­ti­ons­vor­sit­zen­de applau­diert.“

War da etwas? Ach ja, tat­säch­lich fällt der „Welt am Sonn­tag“ ein:

Vor ein paar Wochen wur­den Hans-Georg Maa­ßens Äuße­run­gen über „Glo­ba­lis­ten” zu Recht sehr kri­tisch dis­ku­tiert, vor weni­gen Mona­ten hagel­te es eben­falls zu Recht Häme für „Jana aus Kas­sel”, die jun­ge Frau, die sich auf einer „Querdenker”-Demonstration uner­träg­li­cher­wei­se in der Tra­di­ti­on von Sophie Scholl sehen woll­te. Eine sol­che Debat­te ist nun not­wen­dig über die Wor­te von Frau Emcke, den Applaus von Frau Göring-Eckardt, das ergrif­fe­ne Lau­schen von Anna­le­na Baer­bock und Robert Habeck.

Haben Baer­bock und Habeck „ergrif­fen“ gelauscht, als „das Leid der Juden“ baga­tel­li­siert wur­de? Natür­lich nicht, weil es in der Rede nir­gend­wo um den Holo­caust oder die Ver­fol­gung der Juden ging. Das ist üble Dem­ago­gie oder, wie Emcke schon in ihrer Rede mut­maß­te:  „Wir wer­den das im Wahl­kampf sehen. Wir wer­den Mani­pu­la­tio­nen und Lügen sehen.”

Immer­hin: CDU-Gene­ral­se­kre­tär Zie­mi­ak hat sei­ne Vor­wür­fe gegen Emcke mitt­ler­wei­le zurück­ge­nom­men: „Im Kon­text gan­zer Rede wird deut­lich, dass sie Hass & Lügen gg. Juden nicht ver­gleicht od. ver­harm­lost“, erklär­te er auf Twitter.

Ziemiak: "Eine differenzierte Auseinandersetzung erfordert bei diesem Thema meistens mehr Raum als einen Tweet - das nehme ich mir zu Herzen."

Zie­mi­ak auf Twit­ter: „Eine dif­fe­ren­zier­te Aus­ein­an­der­set­zung erfor­dert bei die­sem The­ma meis­tens mehr Raum als einen Tweet — das neh­me ich mir zu Herzen.”

Ent­schul­di­gung ist das trotz­dem noch kei­ne. Ganz abge­se­hen davon, dass es dabei nicht nur um eine per­sön­li­che Ent­schul­di­gung geht, son­dern um die Zer­stö­rung des poli­ti­schen Dis­kur­ses, indem das Wort im Mund ver­dreht wird:

Das absicht­li­che (und wie­der­hol­te) Miss­ver­ste­hen, die Ver­zer­rung und Ver­dre­hung von Tat­sa­chen und die Lüge als media­le Metho­den unter­gra­ben jeden sach­li­chen Dis­kurs und gefähr­den die Demo­kra­tie in die­sem Land. Dass dies jüdi­sche Men­schen eben­so wie ande­re Mino­ri­tä­ten bedroht, ist eine der his­to­ri­schen Leh­ren, denen wir ver­pflich­tet sind“, heißt es in der Erklä­rung „Gegen die Lügen“, die von 44 jüdi­schen Per­sön­lich­kei­ten unter­zeich­net wur­de und der wir uns anschließen.

Bei­trä­ge zur Debatte:

➡️ Mer­kur 14.6.21: „Gegen die Lügen“
➡️ Alei­da Ass­mann in der „Frank­fur­ter Rund­schau“, 15.6.21: Anfein­dun­gen gegen Caro­lin Emcke: Der neue deut­sche Katechismus
➡️ Regi­na Ammi­cht Quinn in der „Frank­fur­ter Rund­schau“, 15.6.21: Kam­pa­gne gegen Baer­bock und Emcke: „Das ist Popu­lis­mus pur“
➡️ Volks­ver­pet­zer, 13.6.21: Emcke: Wie dich Bild über ihre Rede belügt – und vie­le Medi­en die Lüge abschreiben