Die Angriffe von Rechts richteten sich gegen eine Passage in ihrer Rede, in der das Wort Juden vorkam. Zuvor hatte Emcke noch festgestellt, dass das Objekt, auf das sich der empörte Protest richten würde, so austauschbar wie mutwillig sei. Dann konkretisierte sie:
Die radikale Wissenschaftsfeindlichkeit, die zynische Ausbeutung sozialer Unsicherheit, die populistische Mobilisierung und die Bereitschaft zu Ressentiment und Gewalt werden bleiben. Es wird sicher wieder von Elite gesprochen werden und vermutlich werden es dann nicht die Juden und Kosmopoliten, nicht die Feminist:innen oder die Virolog:innen sein, vor denen gewarnt wird, sondern die Klimaforscher:innen.
#dBDK21 #BTW21 | Gastrednerin @C_Emcke über #Desinformation im #Wahlkampf: „Es wird keine Rolle spielen, welche Personen oder welche Parteien es trifft, denn es trifft alle in unserer #Demokratie.” Sie fordert eine selbstkritische & inklusive neue #Aufklärung. 🌻 @Die_Gruenen pic.twitter.com/C8KMtkt3X8
— phoenix (@phoenix_de) June 11, 2021
In dieser Passage gibt es keinen Vergleich, schon gar nicht zwischen jüdischen Menschen, die durch den Nazi-Holocaust ermordet wurden, und Klimaforschern, sondern nur die Vermutung, dass über eine bewusst emotional aufgeladene Debatte neue Feindbilder wie etwa Virolog*innen oder Klimaforscher*innen konstruiert werden. Dann folgt noch der Warnhinweis: „Eine in sozialen Medien fragmentierte und durch Desinformation und Ressentiments aufgeladene Öffentlichkeit rührt an den legitimatorischen Kern einer Demokratie. Wir werden das im Wahlkampf sehen. Wir werden Manipulationen und Lügen sehen.”
An den ersten Reaktionen gemessen, war das eine self fulfilling prophecy: „Bild“ wetterte gegen die angebliche „Entgleisung“, die konservative „Welt am Sonntag“ verfeinerte die Desinformation, indem sie unterstellte: „Die Aufzählung der Gruppen in einem Satz wird umso absurder, wenn man sich konkret erinnert, um was es geht: Vernichtungslager, Todesmärsche, Massenmorde vor knapp 80 Jahren.“ (Weit am Sonntag, 13.6.21)
Um was ging es wirklich? Um die Warnung vor Manipulation, Lügen und neuen Feindbildern, die durch Wissenschaftsfeindlichkeit, Ressentiment und populistische Mobilisierung befördert werden und so den demokratischen Diskurs zerstören können. Aber genau darüber wollten „Bild“, „Welt“, der CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak, der sich zunächst der Empörung der Springer-Presse angeschlossen hatte („geschichtsvergessene Entgleisung“) und, wie die „Zeit“ in einem Kommentar festhielt, „Kommentatoren, die sich immer zu Wort melden, wenn sie eine Gelegenheit finden, gegen Grüne, Frauen, Gendern, Klimaschutz oder verwandte Themen zu schreiben“, sicher nicht debattieren. Nicht unbeabsichtigt war der scheinbar neutrale Hinweis der „Bild“: „Die Partei-Chefs Annalena Baerbock (40) und Robert Habeck (51) hörten der Rede von der Bühne aus zu.“
Den Rest muss man sich bei „Bild“ dazu denken, während die „Welt am Sonntag“ für ihr bildungsbürgerliches Publikum schon die Phantasie blühen lässt: „Man stelle sich vor, ein konservativer oder rechter Publizist hätte das Leid der Juden in einer solchen Aufzählung bagatellisiert, eine konservative oder rechte Parteispitze hätte ergriffen gelauscht, der oder die Fraktionsvorsitzende applaudiert.“
War da etwas? Ach ja, tatsächlich fällt der „Welt am Sonntag“ ein:
Vor ein paar Wochen wurden Hans-Georg Maaßens Äußerungen über „Globalisten” zu Recht sehr kritisch diskutiert, vor wenigen Monaten hagelte es ebenfalls zu Recht Häme für „Jana aus Kassel”, die junge Frau, die sich auf einer „Querdenker”-Demonstration unerträglicherweise in der Tradition von Sophie Scholl sehen wollte. Eine solche Debatte ist nun notwendig über die Worte von Frau Emcke, den Applaus von Frau Göring-Eckardt, das ergriffene Lauschen von Annalena Baerbock und Robert Habeck.
Haben Baerbock und Habeck „ergriffen“ gelauscht, als „das Leid der Juden“ bagatellisiert wurde? Natürlich nicht, weil es in der Rede nirgendwo um den Holocaust oder die Verfolgung der Juden ging. Das ist üble Demagogie oder, wie Emcke schon in ihrer Rede mutmaßte: „Wir werden das im Wahlkampf sehen. Wir werden Manipulationen und Lügen sehen.”
Immerhin: CDU-Generalsekretär Ziemiak hat seine Vorwürfe gegen Emcke mittlerweile zurückgenommen: „Im Kontext ganzer Rede wird deutlich, dass sie Hass & Lügen gg. Juden nicht vergleicht od. verharmlost“, erklärte er auf Twitter.
Entschuldigung ist das trotzdem noch keine. Ganz abgesehen davon, dass es dabei nicht nur um eine persönliche Entschuldigung geht, sondern um die Zerstörung des politischen Diskurses, indem das Wort im Mund verdreht wird:
Das absichtliche (und wiederholte) Missverstehen, die Verzerrung und Verdrehung von Tatsachen und die Lüge als mediale Methoden untergraben jeden sachlichen Diskurs und gefährden die Demokratie in diesem Land. Dass dies jüdische Menschen ebenso wie andere Minoritäten bedroht, ist eine der historischen Lehren, denen wir verpflichtet sind“, heißt es in der Erklärung „Gegen die Lügen“, die von 44 jüdischen Persönlichkeiten unterzeichnet wurde und der wir uns anschließen.
Beiträge zur Debatte:
➡️ Merkur 14.6.21: „Gegen die Lügen“
➡️ Aleida Assmann in der „Frankfurter Rundschau“, 15.6.21: Anfeindungen gegen Carolin Emcke: Der neue deutsche Katechismus
➡️ Regina Ammicht Quinn in der „Frankfurter Rundschau“, 15.6.21: Kampagne gegen Baerbock und Emcke: „Das ist Populismus pur“
➡️ Volksverpetzer, 13.6.21: Emcke: Wie dich Bild über ihre Rede belügt – und viele Medien die Lüge abschreiben