Empörung reicht nicht!
Mehr als ein Jahr liegt der Prozess gegen Beate Zschäpe vom NSU und einige ihrer Helfer zurück. Im Juli 2018 wurden nach dem Monsterprozess, der fünf Jahre dauerte, die Urteile gesprochen. Mehmet Daimagüler war einer der 60 Anwälte, die die Nebenkläger und Opfer vertreten haben. Daimagülers abschließendes Plädoyer war das längste von allen – es dauerte fünf Stunden. Es ist der zentrale Inhalt seines Buches „Empörung reicht nicht“, das schon 2017 erschienen ist. Es ist ein gründliches Buch – das belegt der Zitatenanhang mit mehr als 250 Anmerkungen. Wer nach Indizien sucht, warum mit dem NSU-Prozess die Causa NSU nicht abgeschlossen sein kann, warum es ziemlich offensichtlich ist, dass wesentlich mehr Personen als die im Prozess Angeklagten an Vorbereitung, Planung und möglicherweise auch Durchführung der NSU-Morde und anderer Straftaten beteiligt gewesen sein müssen, warum die Mitschuld des Verfassungsschutzes nicht ausreichend geklärt ist (trotz mehrerer parlamentarischer Untersuchungsausschüsse!), der sollte dieses Buch lesen. Auch wenn es nicht mehr ganz neu ist. Auch, weil hier einer ganz klar und sehr beschämend für die BRD, die sich als Gegenentwurf zum NS-Unrechtsstaat definiert, den Rassismus benennt, der sich nicht nur durch die verpfuschten Ermittlungen zum NSU zieht, sondern auch durch die Mitte der Gesellschaft. Daimagüler weiß, wovon er spricht. Er ist das Kind türkischer Arbeiter und war etliche Jahre Mitglied der FDP, aus der er 2007 ausgetreten ist.
Mehmet Daimagüler, Empörung reicht nicht! Lübbe Verlag , Köln.
Hitlers Hofstaat
Das Werk der Historikerin Görtemaker kann man durchaus auch als Antithese zu Ian Kershaws Arbeiten über Hitler und seine These von der charismatischen Herrschaft verstehen. Während bei Kershaw selbst die vier mächtigsten Paladine – Bormann, Himmler, Goebbels und Speer – vollkommen von der Gunst ihres „Führers“ abhängig blieben, zieht Görtemaker die Kreise weiter und billigt vor allem dem privaten Umfeld Hitlers bedeutend mehr Einfluss zu. Es ist zweifellos das Verdienst der Historikerin Görtemaker, durch den Blick hinter die Kulissen von Hitlers Selbstinszenierung zu sprengen, die ihn als einen ausschließlich für „sein“ Volk dienenden, selbstlosen und sich aufopfernden Führer beschreibt. Das Leben am Berghof hoch über Berchtesgaden, wohin sich Hitler allmählich immer häufiger und länger zurückzog, um dort seine Krankheiten und Depressionen auszuleben, aber auch, um sich von dem dort versammelten innersten Kreis immer wieder aufbauen zu lassen, während Millionen auf den Schachtfeldern und in den KZ krepierten, dieses nach außen hin streng abgeschirmte Leben verlief völlig anders als es Hitlers Propagandaapparat verkündete. Einen „menschenleeren Raum“ wollte der Hitler-Biograph Joachim Fest am Obersalzberg gesichtet haben, fiel damit aber nur auf die Darstellung von Albert Speer hinein, der genügend schlechte Gründe hatte, seine Rolle im innersten Kreis möglichst unsichtbar zu machen. Zu Hitlers geschlossener Gesellschaft am Berghof hatten die Spitzen des NS-Regimes mit ganz wenigen Ausnahmen nur sehr beschränkt Zugang; in ihr spielten Frauen eine wesentlich größere Rolle als in Ideologie und Realität des NS.
Zu kurz kommt das, was im Untertitel für die Zeit „danach“, also zum Fortleben des inneren Kreises nach Hitlers Suizid und der Niederlage des NS-Regimes, angekündigt wurde. Da beschränkt sich die Autorin weitgehend darauf , die Lebenslügen vorzuführen, die NS-Schranzen wie Albert Speer, Heinrich Hoffmann (Hitlers Leibfotograf) oder Otto Dietrich (Reichspressechef), aber auch die Frauen der NS–Größen wie Emmy Göring und Henriette von Schirach über sich und andere lange Zeit sehr erfolgreich verbreiten konnten.
Heike B. Görtemaker, Hitlers Hofstaat. Der innere Kreis im Dritten Reich und danach. C.H.Beck Verlag, München 2019.
Das braune Netz
Willi Winkler war Redakteur der „Zeit“, des „Spiegel“ und schreibt jetzt für die „Süddeutsche Zeitung“. Dazwischen auch Bücher wie dieses, wo der Titel „Das braune Netz“ schon die Anklage formuliert, die der Untertitel „Wie die Bundesrepublik von früheren Nazis zum Erfolg geführt wurde“ dann noch unterstreicht. Da geht es nicht primär um alte weiße Männer, sondern um die alten Braunen, die nahtlos ihre berufliche Existenzen und Karrieren vom „Deutschen Reich“ der Nazis in die Bundesrepublik Deutschland überführten und dafür über die längste Zeit auch noch Dank und Anerkennung erfahren durften. Etwa der TV-Moderator Werner Höfer, der über Jahrzehnte jeden Sonntag die journalistische Diskussionsrunde „Frühschoppen“ leitete und damit die Bundesrepublik die längste Zeit mit diesem „Ersatzgottesdienst“ begleitete. Dafür gab’s auch das Bundesverdienstkreuz und erst nach seinem Rücktritt als Fernsehdirektor 1987 die Enthüllungen über seine Nazi-Vergangenheit, über die natürlich so ziemlich alle seiner ebenfalls arrivierten Journalisten-Kollegen Bescheid wussten, weil sie – naja –ebenfalls dem NS-Regime schon eifrig und zumeist propagandistisch gedient hatten. In Höfers „Frühschoppen“ wurde vornehm, aber doch der österreichische Widerstandskämpfer Jean Amery noch einmal ausgegrenzt, indem er als „Publizist mit Wohnsitz Brüssel“ ohne Erwähnung seiner Biografie vorgestellt wurde. Beispiele wie Höfer liefert Winkler in Hülle und Fülle, allesamt gut belegt. Vor Jahrzehnten hat man das noch als Propaganda von drüben, aus der DDR, abgetan. Mittlerweile funktioniert das auch nicht mehr – mangels DDR. Aber das Buch macht auch klar, dass der Antikommunismus und die „kommunistische Gefahr“ lange Zeit den Kitt bildeten, der die alten Nazis fest mit dieser Nachkriegsrepublik verband. Die 68er-Generation war dann die erste, die diesen unappetitlichen Konsens und das braune Netz in der BRD sprengte.
„Die Herrschaft der alten Männer geht zu Ende“, übertitelte Winkler das letzte Kapitel in seinem Buch und meint damit die Generation um Konrad Adenauer, Franz Josef Strauß, ihre reaktionären Adjutanten in den Medien und Bürokratie wie etwa Hans Globke und last not least die mächtigen Großkapitalisten wie Friedrich Flick, die noch die alte Ordnung fortschreiben wollten: „Aber damit, mit der alten Ordnung, war es 1969 endgültig vorbei“, schließt ‚Winkler sein Buch. Das mag sein, aber alte Braune gibt es noch immer bzw. schon wieder.
Willi Winkler, Das braune Netz. Wie die Bundesrepublik von früheren Nazis zum Erfolg geführt wurde. Rowohlt, Berlin 2019.
Wolfszeit
Schon wieder ein bücherschreibender Journalist! Harald Jähner war Redakteur der „Berliner Zeitung“ und hat mit der „Wolfszeit“ so etwas wie eine Kulturgeschichte, eine Mentalitätsgeschichte, ein Panorama oder einfach ein Stimmungsbild der Nachkriegszeit geschaffen. Die RezensentInnen sind sich nicht einig, wie sie das Buch kategorisieren sollen, aber sie stimmen mit der Jury der Leipziger Buchmesse darin überein, dass es ein absolut gelungener Versuch ist, Interessantes über diese Nachkriegsjahre zu erzählen. Es ist auch eine Ergänzung zu Winklers Buch über das braune Netz, obwohl oder weil Politik und Ökonomie weitgehend ausgespart bleiben.
Das Buch erzählt etwa über die Trümmer, die der Krieg hinterlassen hatte: 500 Millionen Kubikmeter Trümmer, eine unfassbare Menge, die irgendwie beseitigt werden musste. In den ersten Wochen nach Kriegsende, in manchen deutschen Städten auch länger, wurden Nationalsozialisten dafür herangezogen, später dann auch (deutsche) Kriegsgefangene. Weil in Berlin Männer eine Mangelware waren, gab es dort bei den Räumarbeiten einen gewaltigen Frauenüberhang bei den Räumarbeiten.
„Dass sich die Trümmerfrau (dennoch) zur mythischen Heroine des Wiederaufbaus entwickeln konnte, liegt an dem unvergesslichen Anblick, den ihr Einsatz in den Ruinenfeldern bot“, folgert Jähner aus den Bildern mit den Frauen, die „in langen Reihen hügelan stehen“, mit Kopftüchern und in Eimerketten: „Diese Bilder brannten sich ein, weil die Eimerketten eine großartige visuelle Metapher für den Gemeinsinn boten, den die Zusammenbruchsgesellschaft bitter nötig hatte“. (S. 39) Vielleicht auch, weil die Metapher für den neuen Gemeinsinn nicht weit weg war von der braunen Lüge der Volksgemeinschaft, die ja noch in den Menschen steckte, auch wenn sie verdrängt wurde?
Einige dieser ikonographischen Fotos der Nachkriegszeit wie etwa Hermann Claasens „Fronleichnamprozession“ oder auch Richard Peters „Blick auf Dresden vom Rathausturm“ wurden montiert bzw. konstruiert, ja, es entwickelte sich eine regelrechte Trümmerfotografie: „Gut machten sich in Trümmern spielende Kinder, Liebespaare und natürlich Mode.“ (S. 52)
Wer weiß heute noch, dass das Lastenausgleichsgesetz aus 1952 eine für heutige Verhältnisse fast schon undenkbar heftige Vermögensumverteilung bedeutete? Vermutlich war sie damals nur deshalb umsetzbar, weil sie vor allem Gruppen begünstigte, die für die Konservativen interessant waren. Aber es war eben möglich und hat die wirtschaftlich aufstrebende BRD keineswegs geschädigt oder ins Elend getrieben.
In der „Wolfszeit“ findet man auch eine Geschichte über Beate Uhse, die mit ihrem „Versandgeschäft für Ehehygiene“ (in neutraler Verpackung!) die rigide Sexualmoral der Nachkriegszeit etwas lockern konnte. Auch die „Constanze“, die erste und größte Frauenzeitschrift der Nachkriegsjahre, wird präsentiert – fast die komplette Redaktion bestand zunächst einmal aus Männern.
Dann findet sich unter den vielen kleinen Perlen auch noch der zynische Satz von Adenauer über den Nazi-Juristen und Mitverfasser der Nürnberger Rassengesetze Hans Globke, den er als Kanzleramtschef beschäftigte und so verteidigte: „Man schüttet kein schmutziges Wasser weg, solange man kein sauberes hat.“Der könnte auch in dem Buch von Winkler stehen.
Harald Jähner, Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945–1955. Rowohlt, Berlin 2019.
Die Ehemaligen
Da die Historikerkommission von „Stoppt die Rechten“ ohnehin schon an einer umfassenden Rezension dieser gründlichen und spannenden Studie von Margit Reiter arbeitet, die sich leider wegen eines passenden Präsentationstermins immer wieder verzögert, sei hier nur angeregt: Dieses Buch sollte in keinem antifaschistischen Bücherregal fehlen. Lasst es Euch schenken oder kauft es selbst – lest es jedenfalls! Es zahlt sich aus. Die Studie behandelt zwar „nur“ die Anfänge der FPÖ, aber man wird trotz aller Häutungsversuche die heutige FPÖ wiedererkennen. Die Autorin regt auch immer wieder zu Vergleichen an und selbst dort, wo sie das nicht tut, wenn sie etwa den „double-speak“ der „Ehemaligen“ charakterisiert, blinkt die Haider-Strache-Hofer-FPÖ auf.
Margit Reiter, Die Ehemaligen. Der Nationalsozialismus und die Anfänge der FPÖ. Wallstein Verlag, Göttingen 2019.
„Umvolkung“ und „Volkstod“
Es ist ein schmales und kluges Büchlein, das das Leib- und Lebensthema der extremen Rechten abhandelt. Auf rund 40 Seiten nur – da wünscht man sich dann schon eine strengere Gliederung! Aber man sollte das Büchlein nicht unterschätzen! Vom „Untergang des Abendlandes“ des Antidemokraten Oswald Spengler über die bei den Nazis streng geahndete Rassenmischung bis hin zu den Überfremdungsphantasien der Altnazis in der Nachkriegszeit, die dann durch die „Umvolkung“, den „Großen Austausch“ und den „Volkstod“ abgelöst wurden, aber im Prinzip das Gleiche bezeichnen, kann man aufschlussreiche Zitate finden. Für Spengler, der schon sehr lange (1922) vor der Erfindung hormoneller Kontrazeptiva sein Opus Magnum verfasste, waren es genauso die Frauen, die für die fehlende Fruchtbarkeit verantwortlich waren wie Jahrzehnte später nach der Erfindung! Spengler machte das „Ibsen-Weib“ dafür verantwortlich, also eine selbstbewusste starke Frau. Diese Misogynie gilt auch für heutige Rechtsextreme, die zusätzlich die Antibabypille und andere Kontrazeptiva verantwortlich machen für den „Volkstod“ durch den „selbstmörderischen Geburtenrückgang“ der „Autochthonen“.
Da tut sich für die Rechtsextremen ein gewaltiges Dilemma auf. Dem „Volkstod“ stehen noch immer höhere (wenn auch rückläufige) Geburtenraten und Kinderzahlen bei MigrantInnen gegenüber: „Umvolkung“, „Großer Austausch“! Das schmale Büchlein regt an, die jetzt gekippte Sozialhilferegelung unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten. Da pure Repression, sprich Vertreibung, trotz Kickls „Ausreisezentren“ nicht so einfach möglich ist, versuchte man es eben mit plumper und verfassungswidriger Kürzung bei Mehrkindfamilien.
In der Schlusskurve werden die Identitären samt Sellner abgefertigt und ihr Antisemitismus benannt, der sich in den Zuschreibungen für die „Austauscher“, „klare Verantwortliche, Propagandisten und Vertuscher des Großen Austausches“ äußert.
Gideon Botsch, Christoph Kopke, „Umvolkung“ und „Volkstod“. Zur Kontinuität einer extrem rechten Paranoia. Edition Pyrrhus, Verlag Klemm+ Oelschläger, Ulm 2019.