David Schalko: Rede zum Novemberpogrom

Bei der heuer sehr gut besucht­en Gedenkver­anstal­tung zu den Novem­ber­pogromen am ehe­ma­li­gen Aspang­bahn­hof, von dem ab 1939 Zig­tausende Wiener Jüdin­nen und Juden und Roma in die pol­nis­chen Ghet­tos und von dort dann in die Ver­nich­tungslager deportiert wur­den, hielt auch David Schalko eine Rede, die wir – mit seinem Ein­ver­ständ­nis — hier veröf­fentlichen (danke, David Schalko!).

Gedenkveranstaltung am Wiener Aspangbahnhof, 2016 - Bildquelle: Christian Volek

Gedenkver­anstal­tung am Wiener Aspang­bahn­hof, 2016 — Bildquelle: Chris­t­ian Volek

„Albert Camus sagte: Es gibt keine Welt mit Ver­nich­tungslagern, son­dern nur eine Welt als Ver­nich­tungslager. Wenn andere in die Knechtschaft getrieben wer­den, so bet­rifft uns das auch.

Heute leben wir in ein­er Welt mit Ver­nich­tungslagern. Was uns 1945 aufs Tief­ste erschüt­terte, lässt uns heute kalt. Denn Ver­nich­tung von Men­schen gibt es weltweit. Aber wirk­lich nahezuge­hen ver­mag es uns nicht. Sind wir an den Hor­ror gewöh­nt? Sind wir abges­tumpft? Oder hal­ten uns die ständig vor Augen gehal­te­nen Bilder vom Geschehen fern? Weil sie nicht riechen. Weil man die Schreie und das Leid auf laut­los stellen kann. Weil wir tat­säch­lich glauben, dass ein Inter­net­post­ing ein­er Tat gle­ichkommt. Dass es Wider­stand auf der Straße erset­zt. Gesagt getan im per­vertierten Sinn. Weil wir in ein­er Welt leben, in der die eigene Erle­ichterung und Ent­ladung wichtiger sind als wirk­liche Empathie. Und weil der Indi­vid­u­al­is­mus zur Aus­blendung des anderen geführt hat. Let­z­tendlich wis­chen wir in der Real­ität die anderen genau­so weg wie auf unseren Tablets.

Redbeitrag von David Schalko bei der Gedenkfeier am Wiener Aspangbahnhof, 2016 - Bildquelle: Christian Volek

Red­beitrag von David Schalko bei der Gedenk­feier am Wiener Aspang­bahn­hof, 2016 — Bildquelle: Chris­t­ian Volek

Deshalb wählen wir die Trumps und Hofers und Putins und Le Pens. Nicht weil wir glauben, dass sie etwas richt­en oder rev­i­dieren. Son­dern weil wir wählen wie wir posten. Es ist mit der Artiku­la­tion bere­its erledigt und vergessen, dass all dies auch reale Kon­se­quen­zen haben kön­nte, die man vielle­icht so gar nicht wollte. Selb­st wenn es uns die Demokratie kostet. Das Prob­lem ist nicht die Vergesslichkeit des Wäh­lers, son­dern seine Selb­stvergessen­heit. Insofern geht es auch hier um Nichtvergessen.
Zunächst wollte ich heute einen Text lesen, der das nachempfind­en lässt, was let­ztlich nicht nachempfind­bar ist. Nicht für uns, für keinen, der das nicht durch­lebt hat. Ja, vielle­icht nicht ein­mal für jene, die das Ver­nich­tungslager über­lebten. Selb­st sie mussten ver­drän­gen, vergessen kann man nicht, um über­haupt weit­er­leben zu kön­nen. Nachempfind­bar hal­ten, weil es vielle­icht die einzige Form des Nichtvergessens ist. Damit diese Schreck­en­stat­en nicht aus unseren Genen ver­schwinden. Damit es eine emo­tionale Abruf­barkeit gibt. Wobei das ist ver­mut­lich illu­sorisch. Denn die Erschüt­terung lässt erschüt­tern­der Weise nach. Insofern heißt Nichtvergessen auch, die Entsprechung im heute zu find­en. Und diese find­en wir nicht nur in der Ver­höh­nungsäs­thetik der gegen­wär­ti­gen Faschis­ten, die men­schen­ver­ach­t­end sind, weil sie dem Men­schen nichts zutrauen, den Makel als Makel denun­zieren, sich vor der Ungle­ich­heit ekeln und sich selb­st ver­acht­en für ihre Unvol­lkom­men­heit, wobei sich die Fan­tasie der Vol­lkom­men­heit aus der Abtö­tung speist. Und auch die Wäh­ler trauen sich selb­st nichts zu, son­st gäbe es die Sehn­sucht nach den Erlösern, Repara­teuren und Führern nicht. Stellt sich umgekehrt die Frage: Was kann man dem Men­schen zutrauen? Ist es nicht das aller­höch­ste Gut des Men­schen ganz Men­sch zu sein? Wann ist der Men­sch am meis­ten Men­sch? Ver­mut­lich wenn er sich zu seinen Fehlern beken­nt, sie zulässt, sie ins Men­sch­sein mitein­bezieht, wenn er nicht ver­sucht, ein Robot­er zu sein.

Ein Robot­er will per­fek­te Abläufe, Effizienz, Leis­tung, mess­bare Maßstäbe, Bew­er­tung und Erfolg. Robot­er haben kein Mit­ge­fühl für andere. Sie kreisen um sich selb­st und ihre Pro­gram­mierung. Robot­er ver­gasen auch Men­schen, weil sie diese nur als Zahlen sehen. So wie die Nazis keine Men­schenkolon­nen, son­dern Zahlenkolon­nen vor Augen hatten.

Redbeitrag von David Schalko bei der Gedenkfeier am Wiener Aspangbahnhof, 2016 - Bildquelle: Christian Volek

Red­beitrag von David Schalko bei der Gedenk­feier am Wiener Aspang­bahn­hof, 2016 — Bildquelle: Chris­t­ian Volek

Steckt hin­ter der momen­ta­nen Wut und dem Hass nicht vielle­icht die Angst, nur noch als Robot­er emp­fun­den zu wer­den? Überse­hen zu wer­den. Speist sich daraus der Neid auf die anderen? Let­z­tendlich auch der Neid auf den Flüchtling, der sein Leben zum Besseren verän­dern kon­nte. In sozialen Medi­en wird genau diese Mechanik aufge­baut. Man sollte also eher von asozialen Medi­en sprechen. Sie pro­gram­mieren uns mit rotieren­den, gle­ichen Impulsen. Unsere Gefühlswel­ten chang­ieren mech­a­nisch zwis­chen den großen Antipo­den Neid/Hass/Wut und Pathos. Die Nuan­cen dazwis­chen sind erkaltet. Für diese haben wir keine Zeit. Alles muss sofort passieren. Und ver­füg­bar sein. Nicht nur Ursache. Auch Wirkung. Und Lösung. Zumin­d­est Entsprechung. Dieses Ver­hal­ten ist jet­zt auch in der Poli­tik angekom­men, wo Zusam­men­hänge und Beson­nen­heit ein­mal Tugen­den waren. Aber für diese braucht man eben Zeit. In der Hast hat vieles, was uns zum Men­schen macht, keinen Platz.

Gedenkveranstaltung am Wiener Aspangbahnhof, 2016 - Bildquelle: Christian Volek

Gedenkver­anstal­tung am Wiener Aspang­bahn­hof, 2016 — Bildquelle: Chris­t­ian Volek

Bevor man andere deportieren kann, muss man etwas in sich selb­st deportieren. Muss man gewisse Dinge erkalten lassen, muss man sich pro­gram­mieren, etwas abtöten. Im Inter­net dressieren wir uns täglich gegen­seit­ig indem wir nur noch mit Gle­ich­gesin­nten verkehren. So entste­hen keine Milieus, son­dern kon­di­tion­ierte Robot­er. Eine Sim­u­la­tion, wo jed­er Impuls eine zeit­gle­iche Entsprechung hat. Die wir mit Real­ität ver­wech­seln. Und plöt­zlich fühlt sich in diesem Gehen­lassen und diesem Raus­lassen und in diesem Reinkotzen die Ver­nun­ft wie ein Zöli­bat an. Wie ein Befehl zur Entsa­gung, als wür­den Bar­barei und Grausamkeit im Genge­hege des Men­schen schnaufend auf und ab gehen und nur darauf warten, endlich los­ge­lassen zu wer­den. Liegt nicht die kollek­tive Depres­sion darin, dass ein Foto ein echt­es Gesicht genau­so wenig erset­zen kann wie die Lüge die Wahrheit? Wie die Sim­u­la­tion das echte Leben. Ist es nicht das Beken­nt­nis zur Wahrheit, das den Respekt zum anderen schafft? Ist die Lüge nicht die Igno­ranz des anderen? Den anderen als Men­schen erken­nen, auch wenn er ander­er Mei­n­ung ist. Ja, selb­st wenn er Täter ist. Selb­st Hitler war ein Men­sch bevor er Robot­er wurde. Das Erken­nen, all das steckt in uns. Jed­er Gedanke kann sich in die Massen­ver­nich­tung per­vertieren. Nicht nur der nation­al­sozial­is­tis­che. Jed­er. Wenn er begin­nt, uns zu pro­gram­mieren und den anderen zu ent­men­schlichen. Was aber stets mit der Ent­men­schlichung von uns selb­st beginnt.

Deshalb ist Nichtvergessen keines­falls gle­ichzuset­zen mit dem Fin­gerdeut auf die Schuldigen. Oder die heuti­gen Wiedergänger. Ganz nach Camus: Alles Men­schliche bet­rifft uns alle. Es gibt eben nur eine Welt im Ver­nich­tungslager. Nicht mit Ver­nich­tungslagern. Wir sind jene, auf die wir als Schuldige deuten, genau­so wie jene, die ver­gast wer­den. Wie wenig es braucht, um dazu fähig zu sein, das ist es, was wir aus unser­er Geschichte ler­nen müssen. Es geht nicht darum, den anderen zu beschuldigen. Es geht darum, ihn davon abzuhal­ten. Es geht um Aufk­lärung im besten Sinn.

Gedenkveranstaltung am Wiener Aspangbahnhof, 2016 - Bildquelle: Christian Volek

Gedenkver­anstal­tung am Wiener Aspang­bahn­hof, 2016 — Bildquelle: Chris­t­ian Volek

Den Men­schen in sein­er Gesamtheit zu erfassen unter­liegt kein­er Zeit. Ist immer Gegen­wart. Die Gefahr, dass wir wieder Robot­er wer­den, war noch nie so groß wie jet­zt. In Zeit­en von blond gefärbten Män­nern, die mit Super­helden­ver­sprechen eine Super­re­al­ität kreieren, wirkt die Welt wie ein Mar­vel Com­ic. Kün­stlich und überze­ich­net. Es geht auch um Ästhetik. Um eine Ästhetik der Lebendigkeit. Die wieder Schmutz zulässt. Und im soge­nan­nten Makel wieder Schön­heit erken­nt. Die nicht auf Aus­löschung aus­gerichtet ist, in dem sie alles gle­ich­macht und in Monot­o­nie verschüttet.

Wir soll­ten vor allem nicht vergessen, wer wir sind. Und weniger danach eifern, wer wir sein wollen oder vorgeben zu sein. Das führt genau zu jen­er Selb­ster­he­bung und Demü­ti­gungsspi­rale, in der wir heute gefan­gen sind. Hier am Aspang­bahn­hof, wo man ein Mah­n­mal braucht, weil es keine Spuren des Schreck­ens mehr gibt, wur­den zehn­tausende Men­schen in Züge geprügelt, auch viele Kinder, die sich an ihre Pup­pen klam­merten, weil sie nicht ver­standen, wozu der Men­sch fähig ist. Irgend­wann wird soviel Zeit ver­gan­gen sein, dass wir keine emo­tionalen Spuren des Holo­causts mehr in uns tra­gen, ähn­lich wie sich nichts mehr regt, wenn wir an die 50 Mil­lio­nen Toten des Sklaven­han­dels denken oder an andere his­torische Genozide. Solche Abende sind dazu da, um uns daran zu erin­nern, dass wir all diese Spuren immer in uns tra­gen, weil wir selb­st diese Spuren sind. Es sitzt in uns. In jedem. Immer. In diesem Sinne: Wehret den Anfängen.”