Die Antifa-Bücherliste 12/2020

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So wie jedes Jahr gibt es auch heu­er eine fei­ne Bücher­lis­te für die Fei­er­ta­ge und gleich auch für den nächs­ten Lock­down. So ziem­lich aus allen Berei­chen des geschrie­be­nen Wor­tes haben wir Buch­emp­feh­lun­gen zusammengetragen.

 

M. Der Sohn des Jahrhunderts

Fan­gen wir mit dem umfang­reichs­ten Opus an. Was Scu­ra­ti in sei­nem Roman ver­sucht, ist eine lite­ra­ri­sche Bewäl­ti­gung der Per­son Mus­so­li­ni sowie des ita­lie­ni­schen Faschis­mus. Mit den über 800 Sei­ten des Buches schafft er gera­de ein­mal fünf Jah­re. Das Werk von Scu­ra­ti, der gera­de der „Pres­se“ ein hin­ter der Bezahl­schran­ke ver­steck­tes Inter­view gege­ben hat, soll sich näm­lich über drei Bän­de erstre­cken. Da kommt also noch eini­ges an Lese­stoff auf uns zu!

Im deutsch­spra­chi­gen Raum sind wir ja nicht gera­de geseg­net mit his­to­ri­schen Wer­ken, in denen eine Auf­ar­bei­tung des obers­ten Faschis­ten ver­sucht wird. Und dann kommt der Autor aus­ge­rech­net mit einer monu­men­ta­len Roman-Tri­lo­gie! Bringt’s das? Um ehr­lich zu sein: Wir wis­sen es (noch) nicht. Etli­che Jah­re aus dem Leben Mus­so­li­nis ste­hen uns ja noch bevor. Aber das, was bis­her zu lesen war, passt. Ob es ein „Meis­ter­werk“ ist, wie Rober­to Savia­no meint, wird sich wohl erst nach dem drit­ten Band beur­tei­len lassen.

Anto­nio Scu­ra­ti, M. Der Sohn des Jahr­hun­derts. Klett-Cot­ta, Stutt­gart 2020

Cover A. Scurati, M. Sohn des Jahrhunderts

Cover A. Scu­ra­ti, M. Sohn des Jahrhunderts

Völ­ki­sche Landnahme

Über die ver­nach­läs­sig­ten länd­li­chen Regio­nen wol­len die Rechts­extre­men kul­tu­rel­le und poli­ti­sche Hege­mo­nie gewinnen:

Sie kau­fen Guts­hö­fe, sie­deln sich mit Fami­li­en und Gleich­ge­sinn­ten in ent­le­ge­nen Regio­nen an. Sie bewirt­schaf­ten Bau­ern­hö­fe, pfle­gen Land und Vieh, öko­lo­gisch und art­ge­recht, brin­gen sich in Ver­eins­le­ben, Eltern- und Umwelt­in­itia­ti­ven ein, bemü­hen sich um Gemein­wohl, Kul­tur, Naturschutz.

So beginnt das Buch von Andrea Röp­ke und Andre­as Speit, das schon 2019 erschie­nen ist, seit­dem aber mit einer Flut von Abmah­nun­gen kon­fron­tiert ist, durch die Rechts­extre­me ihre nament­li­che Erwäh­nung ver­hin­dern woll­ten – aber bis­lang nicht konn­ten. Allein das ist eigent­lich schon Grund genug, sich das Buch zu besorgen.

Röp­ke und Speit sind aber nicht nur Rechtsextremismusexpert*innen ers­ten Ran­ges, son­dern kön­nen auch schrei­ben, haben – oft in Koope­ra­ti­on – in den letz­ten Jah­ren immer wie­der aktu­el­le The­men des Rechts­extre­mis­mus auf­ge­grif­fen. Sie waren unter den ers­ten, die auf die völ­kisch-anti­se­mi­ti­sche Ana­sta­sia-Bewe­gung auf­merk­sam gemacht haben, die sich auch in Öster­reich ange­sie­delt hat. Auf rund 200 Sei­ten wird ein guter Über­blick über die rech­ten Sied­ler­be­we­gun­gen in Deutsch­land gege­ben, der durch ein peni­bles Per­so­nen- und Orga­ni­sa­ti­ons­re­gis­ter ergänzt wird.

Andrea Röp­ke, Andre­as Speit, Völ­ki­sche Land­nah­me. Alte Sip­pen, jun­ge Sied­ler, rech­te Ökos. Ch. Links Ver­lag, Ber­lin 2019

Cover Röpke, Speit, Völkische Landnahme

Cover Röp­ke, Speit, Völ­ki­sche Landnahme

Mein The­re­si­en­städ­ter Tage­buch 1943–1944

Hel­ga Poll­ak-Kin­sky (1930–2020) hat die KZ The­re­si­en­stadt, Ausch­witz und Flos­sen­burg über­lebt und einen Gut­teil ihres Lebens danach der Auf­klä­rung über die Mord­po­li­tik des Natio­nal­so­zia­lis­mus gewid­met: in Fil­men, als Zeit­zeu­gin und als Autorin des Tage­buchs über ihre bei­den Jah­re 1943/44 im KZ. The­re­si­en­stadt, wo sie auch an dem Nazi-Pro­pa­gan­da­film „Der Füh­rer schenkt den Juden eine Stadt“ mit­wir­ken muss­te. Von den 15.000 in The­re­si­en­stadt inhaf­tier­ten Kin­dern über­leb­ten nur rund 1.000 – Hel­ga war eines der weni­gen. Von den 50 bis 60 Mäd­chen, die in ihrem Zim­mer Nr. 28 zeit­wei­se unter­ge­bracht waren, über­leb­ten nur 15.

Die „Edi­ti­on Room 28“ von Han­ne­lo­re Bren­ner hat aber nicht nur das Tage­buch von Hel­ga Polak-Kin­sky her­aus­ge­ge­ben, son­dern betreut auch wei­te­re Pro­jek­te, die sich mit dem Zim­mer Nr. 28 beschäftigen.

Vor weni­gen Wochen, am 14. Novem­ber 2020, ist Hel­ga Poll­ak-Kin­sky gestor­ben – als eine der letz­ten Über­le­ben­den des Holo­caust. Gemein­sam mit ihrem Vater Otto, der das Kon­zert­ca­fe Palm­hof in der Maria­hil­fer Stra­ße 135 bewirt­schaf­tet hat­te, bis es nach der Macht­er­grei­fung der Nazis „ari­siert“ wur­de, war Hel­ga im Jän­ner 1943 nach The­re­si­en­stadt depor­tiert wor­den. „Hier in The­re­si­en­stadt lei­det näm­lich das Hirn genau­so wie der Kör­per“, schreibt sie in ihrem Ein­trag vom 15. Okto­ber 1943. Auch ihr Vater führt Tage­buch. Aus sei­nen Ein­trä­gen wird klar, wie sehr das Leben in dem KZ um Krank­heit und Tod und Essen kreist. Dann die Tren­nung – Hel­ga wird im Okto­ber 1944 nach Ausch­witz depor­tiert. Nur weil sie sich um vier Jah­re älter macht, kommt sie in ein dor­ti­ges Arbeits­la­ger und nicht ins Gas. Ausch­witz – „das ist ein ein­zi­ger Alb­traum“. Im April 1945 kommt sie noch ein­mal zurück nach The­re­si­en­stadt zu ihrem Vater. Am 5. Mai über­gibt die SS dem Inter­na­tio­na­len Komi­tee vom Roten Kreuz die Ver­ant­wor­tung für Theresienstadt.

Im Unter­schied zu vie­len ande­ren Län­dern war Hel­ga Poll­ak-Kin­sky in Öster­reich wenig bekannt. Auch nach ihrem Tod gab es nur weni­ge Wür­di­gun­gen und Nach­ru­fe. Zwei sei­en hier erwähnt: Edith Mein­hart auf profil.at und Isa­bel­la Mar­tens auf heute.at.

Hel­ga Poll­ak-Kin­sky, Mein The­re­si­en­städ­ter Tage­buch 1943–1944 und die Auf­zeich­nun­gen mei­nes Vaters Otto Poll­ak. Edi­ti­on Room 28, Ber­lin 2014.

Cover Pollak-Kinsky, Theresienstädter Tagebuch

Cover Poll­ak-Kin­sky, The­re­si­en­städ­ter Tagebuch