M. Der Sohn des Jahrhunderts
Fangen wir mit dem umfangreichsten Opus an. Was Scurati in seinem Roman versucht, ist eine literarische Bewältigung der Person Mussolini sowie des italienischen Faschismus. Mit den über 800 Seiten des Buches schafft er gerade einmal fünf Jahre. Das Werk von Scurati, der gerade der „Presse“ ein hinter der Bezahlschranke verstecktes Interview gegeben hat, soll sich nämlich über drei Bände erstrecken. Da kommt also noch einiges an Lesestoff auf uns zu!
Im deutschsprachigen Raum sind wir ja nicht gerade gesegnet mit historischen Werken, in denen eine Aufarbeitung des obersten Faschisten versucht wird. Und dann kommt der Autor ausgerechnet mit einer monumentalen Roman-Trilogie! Bringt’s das? Um ehrlich zu sein: Wir wissen es (noch) nicht. Etliche Jahre aus dem Leben Mussolinis stehen uns ja noch bevor. Aber das, was bisher zu lesen war, passt. Ob es ein „Meisterwerk“ ist, wie Roberto Saviano meint, wird sich wohl erst nach dem dritten Band beurteilen lassen.
Antonio Scurati, M. Der Sohn des Jahrhunderts. Klett-Cotta, Stuttgart 2020
Völkische Landnahme
Über die vernachlässigten ländlichen Regionen wollen die Rechtsextremen kulturelle und politische Hegemonie gewinnen:
Sie kaufen Gutshöfe, siedeln sich mit Familien und Gleichgesinnten in entlegenen Regionen an. Sie bewirtschaften Bauernhöfe, pflegen Land und Vieh, ökologisch und artgerecht, bringen sich in Vereinsleben, Eltern- und Umweltinitiativen ein, bemühen sich um Gemeinwohl, Kultur, Naturschutz.
So beginnt das Buch von Andrea Röpke und Andreas Speit, das schon 2019 erschienen ist, seitdem aber mit einer Flut von Abmahnungen konfrontiert ist, durch die Rechtsextreme ihre namentliche Erwähnung verhindern wollten – aber bislang nicht konnten. Allein das ist eigentlich schon Grund genug, sich das Buch zu besorgen.
Röpke und Speit sind aber nicht nur Rechtsextremismusexpert*innen ersten Ranges, sondern können auch schreiben, haben – oft in Kooperation – in den letzten Jahren immer wieder aktuelle Themen des Rechtsextremismus aufgegriffen. Sie waren unter den ersten, die auf die völkisch-antisemitische Anastasia-Bewegung aufmerksam gemacht haben, die sich auch in Österreich angesiedelt hat. Auf rund 200 Seiten wird ein guter Überblick über die rechten Siedlerbewegungen in Deutschland gegeben, der durch ein penibles Personen- und Organisationsregister ergänzt wird.
Andrea Röpke, Andreas Speit, Völkische Landnahme. Alte Sippen, junge Siedler, rechte Ökos. Ch. Links Verlag, Berlin 2019
Mein Theresienstädter Tagebuch 1943–1944
Helga Pollak-Kinsky (1930–2020) hat die KZ Theresienstadt, Auschwitz und Flossenburg überlebt und einen Gutteil ihres Lebens danach der Aufklärung über die Mordpolitik des Nationalsozialismus gewidmet: in Filmen, als Zeitzeugin und als Autorin des Tagebuchs über ihre beiden Jahre 1943/44 im KZ. Theresienstadt, wo sie auch an dem Nazi-Propagandafilm „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“ mitwirken musste. Von den 15.000 in Theresienstadt inhaftierten Kindern überlebten nur rund 1.000 – Helga war eines der wenigen. Von den 50 bis 60 Mädchen, die in ihrem Zimmer Nr. 28 zeitweise untergebracht waren, überlebten nur 15.
Die „Edition Room 28“ von Hannelore Brenner hat aber nicht nur das Tagebuch von Helga Polak-Kinsky herausgegeben, sondern betreut auch weitere Projekte, die sich mit dem Zimmer Nr. 28 beschäftigen.
Vor wenigen Wochen, am 14. November 2020, ist Helga Pollak-Kinsky gestorben – als eine der letzten Überlebenden des Holocaust. Gemeinsam mit ihrem Vater Otto, der das Konzertcafe Palmhof in der Mariahilfer Straße 135 bewirtschaftet hatte, bis es nach der Machtergreifung der Nazis „arisiert“ wurde, war Helga im Jänner 1943 nach Theresienstadt deportiert worden. „Hier in Theresienstadt leidet nämlich das Hirn genauso wie der Körper“, schreibt sie in ihrem Eintrag vom 15. Oktober 1943. Auch ihr Vater führt Tagebuch. Aus seinen Einträgen wird klar, wie sehr das Leben in dem KZ um Krankheit und Tod und Essen kreist. Dann die Trennung – Helga wird im Oktober 1944 nach Auschwitz deportiert. Nur weil sie sich um vier Jahre älter macht, kommt sie in ein dortiges Arbeitslager und nicht ins Gas. Auschwitz – „das ist ein einziger Albtraum“. Im April 1945 kommt sie noch einmal zurück nach Theresienstadt zu ihrem Vater. Am 5. Mai übergibt die SS dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz die Verantwortung für Theresienstadt.
Im Unterschied zu vielen anderen Ländern war Helga Pollak-Kinsky in Österreich wenig bekannt. Auch nach ihrem Tod gab es nur wenige Würdigungen und Nachrufe. Zwei seien hier erwähnt: Edith Meinhart auf profil.at und Isabella Martens auf heute.at.
Helga Pollak-Kinsky, Mein Theresienstädter Tagebuch 1943–1944 und die Aufzeichnungen meines Vaters Otto Pollak. Edition Room 28, Berlin 2014.