Knödel, Jaffa-Torte oder deutscher Eintopf

Dass die Nazis jüdis­che Men­schen um Immo­bilien, Ver­mö­gen, Schmuck und Kun­st­ge­gen­stände gebracht haben, wird unter der Beze­ich­nung Arisierung zusam­menge­fasst. Aber wie funk­tion­ierte die Arisierung eines Buch­es? Damit ist hier nicht die Aneig­nung, der Raub von Buchbestän­den, von Bib­lio­theken jüdis­ch­er Men­schen gemeint, son­dern der geistige Dieb­stahl eines lit­er­arischen Werkes, dem dann natür­lich auch die Ver­w­er­tungser­löse fol­gten. Die His­torik­erin Kari­na Urbach beschreibt eine solche Arisierung am Beispiel des Kochbuchs ihrer Groß­mut­ter Alice.

Alice Urbach wurde 1886 als Tochter aus ein­er sehr wohlhaben­den jüdis­chen Tex­til­händler­fam­i­lie in Wien geboren, heiratete 1912 einen Arzt, der ihre Mit­gift beim Glücksspiel ver­lor und nach weni­gen Jahren Ehe, in denen Alice zwei Söhne gebar, ver­starb. Soweit die Vorgeschichte zur beein­druck­enden Selb­ster­mäch­ti­gung dieser Frau. Alice Urbach hielt in den näch­sten Jahren näm­lich mit Kochkursen in ganz Wien sich und ihre Fam­i­lie über Wass­er. Später dann mietete sie sich in der Gold­egggasse im vierten Bezirk ein, bewarb ihre Kurse auch über Zeitun­gen und stieg so zu ein­er der früh­esten „Starköchin­nen“ auf.

Haus Goldeggasse 7 heute mit Inserat Kochkurse Urbach (Neue Freie Presse 1.10.1932)

Haus Gold­eg­gasse 7 heute mit Inser­at Kochkurse Urbach (Neue Freie Presse 1.10.1932)

Den Kochkursen fol­gten – sen­sa­tionell für die 30er Jahre! – ein Lieferser­vice für Fer­tigessen und Kochbüch­er, darunter der Best­seller „So kocht man in Wien! Ein Koch- und Haushal­tungs­buch der gut bürg­er­lichen Küche“.

Urbach-Menü ins Haus (Neues Wiener Journal 31.1.1932)

Urbach-Menü ins Haus (Neues Wiener Jour­nal 31.1.1932)

Darum geht es in dem Buch von Kari­na Urbach „Das Buch Alice. Wie die Nazis das Kochbuch mein­er Groß­mut­ter raubten“, das 2020 im Propy­läen-Ver­lag erschienen ist. 1935 war das 500 Seit­en starke Kochbuch ihrer Groß­mut­ter Alice zum ersten Mal im Münch­en­er Ernst Rein­hardt-Ver­lag erschienen. Rechtzeit­ig zum Wei­h­nachts­geschäft, aber, wie ihre Enke­lin Kari­na 2020 dann fes­thielt, ohne das übliche AutorIn­nen-Foto. Selb­st in den Illus­tra­tio­nen des Buch­es wer­den zwar junge Kochschü­lerin­nen gezeigt, aber von Alice „wer­den jedoch nur die Hände gezeigt – wie sie Teig knetet oder Zutat­en schnei­det“.

Der Grund – wir ahnen es schon – lag wohl darin, dass das Buch in einem „reichs­deutschen“ Ver­lag pub­liziert wurde. Die Aufmerk­samkeit der Nazis galt zunächst zwar in erster Lin­ie der Bel­letris­tik (Stich­wort: Bücherver­bren­nun­gen), aber auch von Sach­buchver­la­gen wurde natür­lich erwartet, dass sie alles „Jüdis­che“ aus ihren Pro­gram­men tilgten. Wie macht man das am ein­fach­sten, ohne dass die Ver­lage auf die teil­weise sehr lukra­tiv­en Erlöse von Sach­büch­ern jüdis­ch­er AutorIn­nen verzicht­en mussten? Indem man statt der jüdis­chen Ver­fasserIn­nen echt „ger­man­is­che“ ein­set­zte und – sofern notwendig – die Büch­er von „jüdis­chen Ele­menten“ reinigte. Bei Alice Urbach waren es zunächst nur die Fotos der Autorin, 1938 aber erfol­gte die eigentliche „Arisierung“. Das betraf das Vor­wort, in dem Alice Urbach noch von der Inter­na­tion­al­ität der Wiener Küche (böh­mis­che Knödel, ungarische Strudel) geschwärmt hat­te, und natür­lich – so lächer­lich wie beze­ich­nend – Rezepte wie die „Roth­schild-Omelette“ oder die „Jaf­fa-Torte“, die einem stram­men Nazi natür­lich gar nicht schmeck­en kon­nte. Kari­na Urbach schätzt, dass so mehr als 60 Prozent des ursprünglichen Werkes enteignet wurden.

Die eigentliche Arisierung war jedoch, dass der Name der Ver­fasserin Alice Urbach ein­fach getil­gt und durch einen Rudolf Rösch, „langjähriger Küchen­meis­ter in Wien und Mitar­beit­er des Reich­snähr­standes“ erset­zt wurde. Der durfte dann auch noch ein Kapi­tel über „Ein­topfgerichte aller Art“ hinzufü­gen, die bei den Nazis sehr hoch im Kurs standen.

Kochbuch Urbach und arisierte Auflage mit Rösch als Autor

Kochbuch Urbach und arisierte Auflage mit Rösch als Autor

Aber gab es den Rudolf Rösch wirk­lich? Kari­na Urbach, die Enke­lin und His­torik­erin, suchte nach dem „langjähri­gen Wiener Küchen­meis­ter“ in allen möglichen öster­re­ichis­chen Archiv­en und kon­nte ihn nicht find­en. Allerd­ings gab es einen Rudolf Rösch, der für den gle­ichgeschal­teten Bay­erischen Rund­funk in der „Stunde der Haus­frau“ zeitweise Rezepte präsen­tieren durfte. Ob dieser Rösch auch der Ariseur des Kochbuchs von Alice Urbach war oder sich der Ver­lag ein­fach eines Namens bemächtigt hat? Der Rein­hardt-Ver­lag gibt an, alle Doku­mente ver­loren zu haben.

Rudolf Rösch in den Agrarischen Nachrichten

Rudolf Rösch in den Agrarischen Nachrichten

Für Alice Urbach, die – so wie ihre bei­den Söhne – noch vor den Nazis fliehen kon­nten, blieb der Dieb­stahl ihres Buch­es eine der wichtig­sten Demü­ti­gun­gen in ihrem Leben. Als sie Jahre nach der Nieder­lage erfahren musste, dass ihr Buch auch nach 1945 unter dem Namen ihres Ariseurs weit­er­verkauft wurde, ver­suchte sie zwar noch den Ver­lag zur Anerken­nung ihrer Rechte zu bewe­gen, prallte aber damit an der Ver­lags­führung völ­lig ab, die ihre Ansprüche ins Lächer­liche zog: „… und schließlich zog sie mit Worten der Entrüs­tung ab“.

1983 starb Alice Urbach in den USA im Alter von 97 Jahren und bis zulet­zt Botschaf­terin der Wiener Küche. „Das Buch Alice“ ist aber nicht nur eine Hom­mage an eine starke Frau, son­dern auch eine über­aus span­nende und bewe­gende Fam­i­liengeschichte, in der über Flucht, KZ, Vertrei­bung und Wider­stand erzählt wird. Und so neben­bei auch noch über die Arisierung von Büch­ern, deren Aufar­beitung zwar von einzel­nen Ver­la­gen in Angriff genom­men wurde (siehe etwa Ange­li­ka Königseder, Wal­ter de Gruyter. Ein Wis­senschaftsver­lag im Nation­al­sozial­is­mus), im Großen und Ganzen aber noch nicht geleis­tet wurde. Kari­na Urbach, die in ihrem Buch einige Beispiele für weit­ere arisierte Büch­er anführt, hat einen wichti­gen Anstoß dafür geleis­tet. Der Rein­hardt-Ver­lag hat übri­gens laut „Tagesspiegel“ vom 28.10.2020 der Fam­i­lie Urbach jet­zt endlich – nach über 80 Jahren! – die Rechte an dem Buch „So kocht man in Wien“ zurückgegeben.

Kari­na Urbach, Das Buch Alice. Wie die Nazis das Kochbuch mein­er Groß­mut­ter raubten. Propy­läen-Ull­stein-Ver­lag, Berlin 2020