Alice Urbach wurde 1886 als Tochter aus einer sehr wohlhabenden jüdischen Textilhändlerfamilie in Wien geboren, heiratete 1912 einen Arzt, der ihre Mitgift beim Glücksspiel verlor und nach wenigen Jahren Ehe, in denen Alice zwei Söhne gebar, verstarb. Soweit die Vorgeschichte zur beeindruckenden Selbstermächtigung dieser Frau. Alice Urbach hielt in den nächsten Jahren nämlich mit Kochkursen in ganz Wien sich und ihre Familie über Wasser. Später dann mietete sie sich in der Goldegggasse im vierten Bezirk ein, bewarb ihre Kurse auch über Zeitungen und stieg so zu einer der frühesten „Starköchinnen“ auf.

Den Kochkursen folgten – sensationell für die 30er Jahre! – ein Lieferservice für Fertigessen und Kochbücher, darunter der Bestseller „So kocht man in Wien! Ein Koch- und Haushaltungsbuch der gut bürgerlichen Küche“.

Darum geht es in dem Buch von Karina Urbach „Das Buch Alice. Wie die Nazis das Kochbuch meiner Großmutter raubten“, das 2020 im Propyläen-Verlag erschienen ist. 1935 war das 500 Seiten starke Kochbuch ihrer Großmutter Alice zum ersten Mal im Münchener Ernst Reinhardt-Verlag erschienen. Rechtzeitig zum Weihnachtsgeschäft, aber, wie ihre Enkelin Karina 2020 dann festhielt, ohne das übliche AutorInnen-Foto. Selbst in den Illustrationen des Buches werden zwar junge Kochschülerinnen gezeigt, aber von Alice „werden jedoch nur die Hände gezeigt – wie sie Teig knetet oder Zutaten schneidet“.
Der Grund – wir ahnen es schon – lag wohl darin, dass das Buch in einem „reichsdeutschen“ Verlag publiziert wurde. Die Aufmerksamkeit der Nazis galt zunächst zwar in erster Linie der Belletristik (Stichwort: Bücherverbrennungen), aber auch von Sachbuchverlagen wurde natürlich erwartet, dass sie alles „Jüdische“ aus ihren Programmen tilgten. Wie macht man das am einfachsten, ohne dass die Verlage auf die teilweise sehr lukrativen Erlöse von Sachbüchern jüdischer AutorInnen verzichten mussten? Indem man statt der jüdischen VerfasserInnen echt „germanische“ einsetzte und – sofern notwendig – die Bücher von „jüdischen Elementen“ reinigte. Bei Alice Urbach waren es zunächst nur die Fotos der Autorin, 1938 aber erfolgte die eigentliche „Arisierung“. Das betraf das Vorwort, in dem Alice Urbach noch von der Internationalität der Wiener Küche (böhmische Knödel, ungarische Strudel) geschwärmt hatte, und natürlich – so lächerlich wie bezeichnend – Rezepte wie die „Rothschild-Omelette“ oder die „Jaffa-Torte“, die einem strammen Nazi natürlich gar nicht schmecken konnte. Karina Urbach schätzt, dass so mehr als 60 Prozent des ursprünglichen Werkes enteignet wurden.
Die eigentliche Arisierung war jedoch, dass der Name der Verfasserin Alice Urbach einfach getilgt und durch einen Rudolf Rösch, „langjähriger Küchenmeister in Wien und Mitarbeiter des Reichsnährstandes“ ersetzt wurde. Der durfte dann auch noch ein Kapitel über „Eintopfgerichte aller Art“ hinzufügen, die bei den Nazis sehr hoch im Kurs standen.

Aber gab es den Rudolf Rösch wirklich? Karina Urbach, die Enkelin und Historikerin, suchte nach dem „langjährigen Wiener Küchenmeister“ in allen möglichen österreichischen Archiven und konnte ihn nicht finden. Allerdings gab es einen Rudolf Rösch, der für den gleichgeschalteten Bayerischen Rundfunk in der „Stunde der Hausfrau“ zeitweise Rezepte präsentieren durfte. Ob dieser Rösch auch der Ariseur des Kochbuchs von Alice Urbach war oder sich der Verlag einfach eines Namens bemächtigt hat? Der Reinhardt-Verlag gibt an, alle Dokumente verloren zu haben.

Für Alice Urbach, die – so wie ihre beiden Söhne – noch vor den Nazis fliehen konnten, blieb der Diebstahl ihres Buches eine der wichtigsten Demütigungen in ihrem Leben. Als sie Jahre nach der Niederlage erfahren musste, dass ihr Buch auch nach 1945 unter dem Namen ihres Ariseurs weiterverkauft wurde, versuchte sie zwar noch den Verlag zur Anerkennung ihrer Rechte zu bewegen, prallte aber damit an der Verlagsführung völlig ab, die ihre Ansprüche ins Lächerliche zog: „… und schließlich zog sie mit Worten der Entrüstung ab“.
1983 starb Alice Urbach in den USA im Alter von 97 Jahren und bis zuletzt Botschafterin der Wiener Küche. „Das Buch Alice“ ist aber nicht nur eine Hommage an eine starke Frau, sondern auch eine überaus spannende und bewegende Familiengeschichte, in der über Flucht, KZ, Vertreibung und Widerstand erzählt wird. Und so nebenbei auch noch über die Arisierung von Büchern, deren Aufarbeitung zwar von einzelnen Verlagen in Angriff genommen wurde (siehe etwa Angelika Königseder, Walter de Gruyter. Ein Wissenschaftsverlag im Nationalsozialismus), im Großen und Ganzen aber noch nicht geleistet wurde. Karina Urbach, die in ihrem Buch einige Beispiele für weitere arisierte Bücher anführt, hat einen wichtigen Anstoß dafür geleistet. Der Reinhardt-Verlag hat übrigens laut „Tagesspiegel“ vom 28.10.2020 der Familie Urbach jetzt endlich – nach über 80 Jahren! – die Rechte an dem Buch „So kocht man in Wien“ zurückgegeben.
Karina Urbach, Das Buch Alice. Wie die Nazis das Kochbuch meiner Großmutter raubten. Propyläen-Ullstein-Verlag, Berlin 2020