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Olivier Guez: Das Verschwinden des Josef Mengele

Mit sei­nem Roman „Das Ver­schwin­den des Josef Men­ge­le“ hat Oli­ver Guez die Kri­­ti­ke­rIn­­nen-Sze­­ne gespal­ten, auch rat­los gemacht. Darf eine Geschich­te, die so nahe an der Wirk­lich­keit erzählt wird, noch Roman genannt wer­den? Als ob das ein Pro­blem wäre! Guez gelingt es, die Jahr­zehn­te nach der Flucht des lei­ten­den Lager­arz­tes des KZ Ausch­witz aus Deutsch­land so […]

17. Jul 2020

Nur kurz streift Guez Men­ge­les ers­te Jah­re nach dem Ende des Nazi-Regimes. Mit gefälsch­ten Papie­ren auf den Namen Fritz Holl­mann und der Unter­stüt­zung durch sei­ne Fami­lie gelang es Men­ge­le, als Knecht auf einem Bau­ern­hof in Bay­ern unter­zu­tau­chen, bis er 1949 als Hel­mut Gre­gor mit Hil­fe einer gut geöl­ten Nazi-Flucht­or­ga­ni­sa­ti­on auf der Rat­ten­li­nie nach Argen­ti­ni­en über­set­zen und sich dort unter wohl­wol­len­der Dul­dung des Peron-Regimes auch etli­che Jah­re nie­der­las­sen kann.

Reisedokument des Roten Kreuzes für Josef Mengele unter dem falsche Namen Helmut Gregor (1949: © avarchives.icrc.org)
Rei­se­do­ku­ment des Roten Kreu­zes für Josef Men­ge­le unter dem fal­schen Namen Hel­mut Gre­gor (1949: © avarchives.icrc.org)

Er bean­tragt und erhält spä­ter sogar einen Rei­se­pass mit sei­nem rich­ti­gen Namen, lernt dort die loka­len Nazi-Grö­ßen und ande­re geflüch­te­te Nazi-Ver­bre­cher wie Josef Schwamm­ber­ger und Edu­ard Rosch­mann aus Graz, den Schläch­ter von Riga, ken­nen. Sei­ne wich­tigs­te Bezugs­per­son war aber in den ers­ten Jah­ren Hans-Ulrich Rudel, zen­tra­le Figur der Nazi-Flucht­hil­fe in Argentinien.

Mate­ri­el­le Sor­gen hat Men­ge­le in Argen­ti­ni­en nicht. Die Fami­lie in Deutsch­land finan­ziert ihn ver­läss­lich, besucht ihn, wickelt ihre Süd­ame­ri­ka-Geschäf­te mit ihm ab, arran­giert sogar eine Hoch­zeit mit der Frau sei­nes ver­stor­be­nen Bru­ders. Karl Men­ge­le seni­or, der skru­pel­lo­se Fami­li­en­pa­tri­arch, schlägt sei­nem Sohn Josef vor, „sei­ne Schwä­ge­rin zu hei­ra­ten, damit das Unter­neh­men in der Men­ge­le-Sip­pe bleibt“. Schwä­ge­rin Mar­tha hat sich näm­lich in einen ande­ren ver­liebt und wenn die bei­den hei­ra­ten wür­den, dann wäre der Neue wohl auch im Ver­wal­tungs­rat der Fir­ma ver­tre­ten. Der Roman ent­hält somit ganz bei­läu­fig auch eine Erzäh­lung über die Men­ge­les im schwä­bi­schen Günz­burg und ihre Landmaschinenfirma.

Die Fami­lie ist es auch, die 1956 ein Tref­fen in Genf arran­giert – mit Abste­cher nach Günz­burg. Nach eini­gen sorg­lo­sen Jah­ren wer­den die Ein­schlä­ge aber dich­ter. In Deutsch­land nimmt die Staats­an­walt­schaft 1958 Ermitt­lun­gen gegen Men­ge­le auf, in Öster­reich hat Her­mann Lang­bein ein Dos­sier zu Men­ge­le erstellt. Er über­gibt es dem Jus­tiz­mi­nis­te­ri­um in Wien, „das sich für nicht zustän­dig erklärt“ (S. 90). Lang­bein ist sich sicher, dass Men­ge­le in Bue­nos Aires lebt, die Staats­an­walt­schaft Frei­burg erlässt im Febru­ar 1959 einen Haft­be­fehl. Men­ge­le wird über Günz­burg infor­miert und flüch­tet wei­ter nach Para­gu­ay. Dort regiert der Faschist Stroess­ner – alles bes­tens für Men­ge­le, der gleich ein­mal die Staats­bür­ger­schaft erhält. Alles bes­tens? 1960 wird Adolf Eich­mann ver­haf­tet und von Agen­ten des Mos­sad nach Isra­el ver­frach­tet – ein Schock für die Nazi-Com­mu­ni­ties in Süd­ame­ri­ka, beson­ders aber für Men­ge­le, den die Israe­lis eigent­lich auch noch schnap­pen wollten.

Nach Para­gu­ay ver­steckt sich Men­ge­le in Bra­si­li­en. Guez beschreibt einen rast­lo­sen, getrie­be­nen Men­ge­le, dem die israe­li­schen Agen­ten immer näher rücken, der sich immer häu­fi­ger in Krank­hei­ten flüch­tet. In Bra­si­li­en wird der Nazi Wolf­gang Ger­hard Men­ge­les Betreu­er vom „Kame­ra­den­werk“ Rudels. Ger­hard wird ihn bis in den Tod beglei­ten, obwohl er zuvor schon wie­der in sein Hei­mat­land Öster­reich zurück­ge­kehrt ist. Als Men­ge­le 1979 bei einem Bade­aus­flug in Ber­tio­ga (Bra­si­li­en) an einem Schlag­an­fall stirbt, wird er näm­lich als „Wolf­gang Ger­hard“ bestat­tet. Erst 1985 wird ent­deckt, dass sich die Gebei­ne des Todes­arz­tes von Ausch­witz in dem Sarg befinden.

Zwi­schen die Pas­sa­gen, in denen Guez von einem sich selbst bemit­lei­den­den Men­ge­le erzählt, streut er Schil­de­run­gen aus Ausch­witz. Damit die Lese­rIn­nen wis­sen, wer sich da um sich selbst Sor­gen macht. Die Ausch­witz-Epi­so­den sind knapp gehal­ten, der Ein­trag auf Wiki­pe­dia zu Men­ge­les furcht­ba­ren Ver­bre­chen ist wesent­lich umfangreicher.

Men­ge­le hat Tage­buch über sei­ne Jah­re in Para­gu­ay und Bra­si­li­en geführt. Dar­aus geht her­vor, dass er an sei­ner ras­sis­ti­schen Ideo­lo­gie unge­bro­chen fest­hielt, kei­ner­lei Reue­ge­füh­le hat­te, sich im Gegen­teil über jene Nazis echauf­fier­te, die ihr Ver­hal­ten bedau­er­ten. In den Tage­buch­auf­zeich­nun­gen bejam­mert sich Men­ge­le, weil die Zah­lun­gen der Fami­lie in den letz­ten Jah­ren sei­nes Lebens immer knap­per wur­den. Auch der Ein­trag, in dem Men­ge­le über sei­ne Gewohn­heit, aus Ner­vo­si­tät an sei­nem Schnurr­bart zu kau­en und dabei Haa­re zu ver­schlu­cken, die sich dann zu einem lebens­ge­fähr­den­den Haar­knäu­el in sei­nen Ein­ge­wei­den ansam­meln, wird von Guez ver­ar­bei­tet. Ob die ver­ein­zel­ten Sex­sze­nen auch den Tage­bü­chern ent­nom­men sind oder – wie „Die Zeit“ in einer Rezen­si­on ver­mu­tet – „Alt­her­ren­phan­ta­sien“ des Autors ent­sprun­gen sind, kön­nen wir man­gels Ein­sicht in die Tage­bü­cher nicht beur­tei­len. Die Lek­tü­re des Romans ist jeden­falls empfehlenswert!

Oli­vi­er Guez, Das Ver­schwin­den des Josef Men­ge­le. Auf­bau-Ver­lag, Ber­lin 2018 (als Hard­co­ver, Taschen­buch und ebook erhältlich)

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