Gleich einmal die beiden Bücher vorgestellt: Das eine ist von Martin Sabrow, einem emeritierten Historiker der Humboldt-Universität, dem ausgewiesenen Experten für den Rathenau-Mord. „Der Rathenaumord und die deutsche Gegenrevolution“ ist es betitelt. Die andere Neuerscheinung trägt den Titel „Berlin, 24.Juni 1922. Der Rathenaumord und der Beginn des rechten Terrors in Deutschland“ und stammt von Thomas Hüetlin, einem langjährigen Spiegel-Journalisten. Der Untertitel ist vielleicht etwas missverständlich, denn der Mord an Walther Rathenau war nicht der Beginn des rechten Terrors in Deutschland, sondern so etwas wie ein erster negativer Höhepunkt.
Als Rathenau (* 1867) in seinem offenen Wagen von den Berufskillern der rechtsextremen Organisation Consul mitten in Berlin durch einen Handgranatenwurf gestoppt und dann durch mehrere Schüsse aus einer Maschinenpistole regelrecht hingerichtet wurde, war der umstrittene Politiker der (liberalen) Deutschen Demokratischen Partei (DDP) erst knappe fünf Monate deutscher Außenminister. Sein Vater war der Unternehmer Emil Rathenau, der die von ihm gegründete „Deutsche Edison Gesellschaft für angewandte Elektrizität“ innerhalb weniger Jahrzehnte zum Großkonzern AEG gepusht hatte.
Die persönliche Tragik des Erstgeborenen Walther begann schon damit, dass sein Vater nicht ihn, sondern seinen Lieblingssohn, den Zweitgeborenen Erich, als Nachfolger vorzog. Als sein Bruder dann früh starb, wurde Walther nicht zum Chef des Konzerns, sondern 1912 „nur“ zum Vorsitzenden des Aufsichtsrates bestellt. Obwohl er einer der Spitzenrepräsentanten des deutschen (Industrie-)Bürgertums war, blieben ihm, weil Jude, trotz deren rechtlicher Gleichstellung seit 1871 bestimmte Posten und soziale Anerkennung verwehrt.
Vermutlich war das auch der Grund für seinen flammenden Appell in dem Artikel „Unser Nachwuchs“, der am 25. Dezember 1909 in der Wiener „Neuen Freien Presse“ (1) veröffentlicht wurde. Rathenau konstatierte darin die Erstarrung der wirtschaftlichen Eliten Europas, die es verabsäumten, ihren Nachwuchs aus den Fähigsten zu rekrutieren. „Dreihundert Männer, von denen jeder jeden kennt, leiten die wirtschaftlichen Geschicke des Kontinents und suchen sich Nachfolger aus ihrer Umgebung“, kritisierte Rathenau damals.
Rathenaus anklagender Satz über die dreihundert Männer wurde durch die rechtsextreme und antisemitische „Verschwörungsagitation“ (Sabrow) sofort gegen ihn selbst gerichtet. Bis heute (!) wird dieser Satz als manifester Beleg für eine jüdische Weltverschwörung verwendet und auch ganz offen verfälscht: „Es sind nur 300 Männer an der Zahl, die sich untereinander gut kennen und das Schicksal Europas lenken. Diese Juden besitzen Mittel, um jeden Staat zu vernichten, den sie als unvernünftig einstufen.“
Dabei heißt es in Rathenaus Original weiter: „Die große Mehrzahl, auch der Begabteren, altert in der subalternen Carriere und verliert die Spannkraft, die erfordert wird, um in der zweiten Lebenshälfte neue Wege des Gedankens und der Arbeit zu beschreiten.“
Gut, das war jetzt ein Exkurs zu einem Ereignis, das in beiden Büchern nur peripher vorkommt. Aber über die „Neue Freie Presse“ der erste Österreich-Bezug. Der zweite Österreich-Bezug erschließt sich indirekt. Der oberösterreichische Landeshauptmann-Stellvertreter Manfred Haimbuchner nannte auf der offiziellen Website des Landes als seinen Lieblingsschriftsteller Ernst von Salomon. Ernst von Salomon – wirklich? Ja, den Rechtsterroristen Salomon (* 1902) , der aus einer verarmten adeligen Familie stammend, sich noch im jugendlichen Alter 1918, nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, sofort diversen mordenden Freikorps und schließlich der Brigade Ehrhardt anschloss, die sich nach ihrer dominanten Beteiligung am Kapp-Lüttwitz-Putschversuch 1920 in die klandestine Organisation Consul verwandelte.
Salomon war eine üble Figur, der in den eigenen literarischen Werken seine Terroraktivitäten zunächst zu verherrlichen und später zu behübschen versuchte. Thomas Hüetlin widmet sich in seinem Buch ziemlich ausführlich der Person Ernst von Salomon, lässt ihn immer wieder auch selbst zu Wort kommen. Etwa, wenn er beschreibt, wie Salomon und seine Kumpanen von der Brigade Ehrhardt in Oberschlesien nackt eine Attacke der Polen parieren: „… weiße, glänzende Jugend, nackt und wehrhaft in der gleißenden Sonne. Noch im Walde schimmerten die schlanken Körper durch die Stämme, und dieser Angriff war der tollste und beschwingteste, den ich je erlebt.“
Hüetlin ätzt darüber: „Von Salomon tötete beschwingt …“ Salomon war übrigens einer der wenigen, die von dem neu gegründeten Staatsgerichtshof zum Schutz der Republik als einer der an der Ermordung von Rathenau Beteiligten eine Strafe ausfassten. Fünf Jahre Haft, später summierte sich das auf sieben Jahre, weil Salomon auch noch wegen Beteiligung an einem Fememordversuch angeklagt und verurteilt wurde.
In Hüetlins Beschreibungen und Kommentaren werden auch die Unterschiede zu Sabrows Buch deutlich. Sabrows Blick gilt den Fakten, die er akribisch gesammelt und in den Anmerkungen dokumentiert und nummeriert hat. Seine Arbeit liefert das, was die Justiz der Weimarer Republik ganz bewusst verweigert hat: die exakte und beinharte Dokumentation der Verantwortung der rechtsextremen Organisation Consul (O.C.) für politische Morde und Mordversuche (etwa an Matthias Erzberger, Philipp Scheidemann, über die sie eine Bürgerkriegssituation und damit einen Putsch der O.C. und anderer „Patrioten“ erzwingen wollte.
Sabrow, der Historiker, verweigert sich emotionalen Kommentaren – die Fakten, die er auf den Tisch legt bzw. in das Buch packt, sind aufwühlend genug. Es ist, was einige von uns vielleicht noch aus den galligen Kommentaren von Kurt Tucholsky kennen, die Anklage einer Justiz, die in den allermeisten Fällen ganz klar und offen die Republik ablehnte und für rechtsextreme Mörder und Totschläger Partei ergriff. Der Prozess gegen die O.C., die zeitweise mehr als zehntausend Mann rekrutierte, war ein einziger Skandal, der damit begann, dass der Anführer der O.C., Hermann Ehrhardt, gar nicht vor Gericht gestellt wurde mit der schrägen Begründung, dass die Strafe, „zu der die Verfolgung führen kann, neben der Strafe, die der Angeklagte Ehrhardt wegen Verbrechen des Hochverrats und des Meineids [beim Kapp-Putschversuch, Anmk. SdR] zu erwarten hat, nicht ins Gewicht fällt.“
Die Anklage gegen die 26 Männer (44 waren vorher schon wegen Mangels an Beweisen außer Verfolgung gesetzt worden) enthielt fast ausschließlich Entlastungsmaterial. „Anders als in seinem Plädoyer im Rathenau-Mord-Prozeß verneinte der Oberreichsanwalt eine mögliche Verbindung der O.C. zu politischen Morden“ (Sabrow, S. 173), bezeichnete die Belastungszeugen (!) als „geisteskrank und unzurechnungsfähig“, „nervenkrank“, „geschlechtlich entartet und geistig krankhaft veranlagt“. In seinem Schlussplädoyer machte der Ankläger dann sogar die „von außen herangetragene giftige Kritik“ für die „Fehler“ der O.C. verantwortlich, forderte einen Freispruch für 16 der 26 Angeklagten und für den Rest der Mordtruppe Gefängnisstrafen von ein bis zwei Monaten wegen Geheimbündelei.
Sabrow, der Jahrzehnte nach dem skandalösen Verfahren gegen die O.C. eine lückenlose Beweiskette gegen die Terrororganisation liefert, lässt sich dazu nur den knappe Kommentar abringen: „Der Ausgang des Verfahrens war angetan, Zweifel an der Rechtsordnung hervorzurufen.“ (S. 181)
Die Strategie von Ehrhardt, durch die terroristischen Morde und Mordversuche an Politikern der Weimarer Republik die Linke, die Arbeiterschaft zu Aktionen herauszufordern, die dann im Gegenschlag einen rechtsextremen Putsch zur Folge haben sollten, war auch nach dem Mord an Rathenau nicht erfolgreich, konstatiert Sabrow. Die Arbeiterschaft und die Parteien der Linken waren auch diesmal, so wie nach dem Putschversuch von Kapp/Lüttwitz, auf die Straße gegangen, um Massenproteste gegen die rechten Demokratiefeinde zu organisieren, während im Reichstag der Reichskanzler Wirth die Parole des rechten Sozialdemokraten Philipp Scheidemann aus dem Jahr 1919 („Der Feind steht rechts“) etwas abwandelte „Da steht der Feind – und darüber ist kein Zweifel: dieser Feind steht rechts“ und damit einen Tumult auslöste. Sabrow konstatier nüchtern: „Die Zukunft der radikalen Rechten sollte den nationalsozialistischen Demagogen und Massenbewegungen gehören, nicht mehr den nationalrevolutionären Freikorpsführern und ihren elitären Geheimbünden.“ (S. 254)
Während Sabrow in seinem beeindruckenden Buch seinen Blick auf die Fakten richtet, liefert Hüetlin so etwas wie einen Gegenentwurf, indem er sich einige der handelnden Personen genauer ansieht, sie sprechen lässt, keine Fußnoten und Verweise auf Dokumente einbaut. Es ist eine ziemlich flott erzählte Arbeit, die in eindrucksvollen und emotionalen Stimmungsbildern auch die Vorgeschichte schildert, den Verrat von rechten Sozialdemokraten wie Gustav Noske („Einer muss den Bluthund machen“) und dessen Kooperation mit den Freikorps zur Niederschlagung der Linken. Welches von den beiden Büchern sollte man daher lesen? Am besten beide, aber wenn man noch etwas mehr über die bisher nicht erwähnten Österreich-Connections erfahren will, dann muss man jedenfalls Sabrow lesen – und unsere Fortsetzung!
Martin Sabrow, Der Rathenaumord und die deutsche Gegenrevolution. Wallstein-Verlag, Göttingen 2022
Thomas Hüetlin, Berlin, 24.Juni 1922. Der Rathenaumord und der Beginn des rechten Terrors in Deutschland. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022
1 Neue Freie Presse vom 25.12.1909, S. 5f., online auf „Anno“