Antisemitismus

Anti­se­mi­tis­mus ist ein Phä­no­men, das seit etwa 2000 Jah­ren exis­tiert und rich­tet sich pau­schal gegen JüdIn­nen. Die Argu­men­ta­tio­nen der Ableh­nung kön­nen dabei sehr unter­schied­li­che For­men annehmen.

Die Anti­se­mi­tis­men wer­den – trotz eines Inein­an­der­grei­fens – heu­te wie folgt unterschieden:

  1. reli­giö­ser Antijudaismus
  2. christ­li­cher Antisemitismus
  3. „moder­ner“ Antisemitismus
  4. Ver­nich­tungs­an­ti­se­mi­tis­mus
  5. Anti­se­mi­tis­mus nach 1945; und
  6. Anti­zio­nis­mus

Der reli­giö­se Anti­ju­da­is­mus war geprägt von einer Feind­schaft poly­the­is­ti­scher Reli­gio­nen gegen das mono­the­is­ti­sche Juden­tum. Da es in poly­the­is­ti­schen Staa­ten üblich war, dass Herr­sche­rIn­nen auch eine Macht­funk­ti­on inner­halb der poly­the­is­ti­schen Glau­bens­welt ein­nah­men (Pries­te­rIn­nen, Gott­kö­ni­gIn­nen­tum), muss­te die Ableh­nung des Poly­the­is­mus als ein Angriff auf eben die­se Macht­po­si­ti­on dar­stel­len. Eine schar­fe Tren­nung zwi­schen einer spe­zi­el­len und aus­schließ­li­chen Feind­schaft gegen­über JüdIn­nen und einer Unter­drü­ckung auf­grund dama­li­ger Herr­schafts­ver­hält­nis­se (Krie­ge, Besat­zun­gen), ist hier aber kaum möglich.

Der christliche Antisemitismus

Im Chris­ten­tum war eine Feind­schaft gegen JüdIn­nen sehr früh vor­han­den. Von Anfang an gab es zuerst eine Kon­kur­renz mit dem Juden­tum, die sehr schnell zu Vor­wür­fen und Vor­ur­tei­len gegen JüdIn­nen wur­den. Eines der wich­tigs­ten Ele­men­te im christ­li­chen Anti­se­mi­tis­mus war immer schon der Glau­be, dass JüdIn­nen schuld am Tod Jesus Chris­tus sein sol­len („Got­tes­mord“). Vom rund 2000 Jah­re lang erho­be­nen Got­tes­mord­vor­wurf lei­tet sich die den Anti­se­mi­tis­mus kon­sti­tu­ie­ren­de und bis heu­te in ver­schie­dens­ten For­men ver­brei­te­te Wahn­vor­stel­lung einer jüdi­schen Über­macht ab: “Wie mäch­tig muss eine Grup­pe sein, die Gott ermor­den kann?”
Wäh­rend in den ers­ten Jahr­hun­der­ten die Feind­schaft in Klös­tern gepflegt wur­de, ent­wi­ckel­te sich gegen Ende des ers­ten Jahr­tau­sends u. Z. ein von gro­ßen Tei­len der Bevöl­ke­rung getra­ge­ner Anti­se­mi­tis­mus. In den ers­ten Jah­ren des neu­en Jahr­tau­sends kam es dann auch zu den aller­ers­ten Pogro­men in Deutsch­land, geführt von den Kreuz­rit­tern, die auf dem Weg nach Jeru­sa­lem waren.

Im Lau­fe des Mit­tel­al­ters ent­wi­ckel­ten sich wei­te­re anti­se­mi­ti­schen Vor­stel­lun­gen wie die Ritu­al­mord­le­gen­den. JüdIn­nen wur­de dabei vor­ge­wor­fen, dass sie Kin­der ermor­den, um das Blut zu ent­neh­men. Oder auch die Vor­stel­lung einer „Brun­nen­ver­gif­tung“, die eng ver­wandt ist mit der Ver­schwö­rungs­theo­rie, dass JüdIn­nen schuld an Krank­hei­ten, vor allem der Pest sei­en. Es ent­wi­ckel­ten sich auf­grund der von christ­li­chen Macht­ha­be­rIn­nen erzwun­ge­nen Berufs­spar­ten des Geld­han­dels auch die anti­se­mi­ti­schen Vor­ur­tei­le, die JüdIn­nen pau­schal der „Gier“ und des „Wuchers“ beschul­dig­ten. Gegen Ende des Mit­tel­al­ters wur­de der Anti­se­mi­tis­mus immer repres­si­ver, es kam regel­mä­ßig zu Pogro­men und JüdIn­nen wur­den oft gezwun­gen, in Ghet­tos zu leben.

Martin Luther - Antisemitismus
„Mar­tin Luthers anti­jü­di­sche Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ 1543”Quel­le

Der moderne Antisemitismus

Vie­le der Vor­stel­lun­gen des christ­li­chen Anti­se­mi­tis­mus prä­gen bis heu­te das Bild von Anti­se­mi­tIn­nen über JüdIn­nen. „Gier“, „Wuche­rer“, wie auch Ver­schwö­rungs­theo­rien von Natur­ka­ta­stro­phen, die angeb­lich von JüdIn­nen aus­ge­löst wer­den, haben heu­te noch ihren Stel­len­wert in den anti­se­mi­ti­schen Vor­stel­lun­gen. Auch die Ritu­al­mord­le­gen­de, sowohl in ihrer alten Form wie auch „moder­ne“ For­men, fin­den sich auch heu­te noch.
Die Abgren­zung vom christ­li­chen zum moder­nen Anti­se­mi­tis­mus ist hier daher schwie­rig, doch gibt es mit der vom Kapi­ta­lis­mus gepräg­ten neu­en Gesell­schafts­form neue For­men des Anti­se­mi­tis­mus, wenn auch zum Teil auf alte aufbauend.

Mit der Libe­ra­li­sie­rung änder­te sich auch oft der recht­li­che Sta­tus von JüdIn­nen. Öster­reich erleb­te dage­gen (fast) kei­ne fort­schrei­ten­de Libe­ra­li­sie­rung der Gesell­schaft und der Wirt­schaft. Einer­seits durch wirt­schaft­li­che Kri­sen (Grün­der­kri­se und Ban­ken­krach 1873), ande­rer­seits durch poli­tisch — mili­tä­ri­sche Ereig­nis­se (Königs­grätz). Der Macht­ver­lust gefähr­de­te den Schutz der Gren­zen der Mon­ar­chie und so nah­men die sozi­al und öko­no­misch gefähr­de­ten Schich­ten eine beson­ders sys­tem­be­ja­hen­de Hal­tung ein. Einem unter­ent­wi­ckel­ten Libe­ra­lis­mus stand ein auto­ri­tä­rer Staat mit abso­lu­tis­ti­schen Ansprü­chen gegen­über, getra­gen von Kro­ne, Adel, Kir­che sowie einer brei­ten Mas­se an tra­di­tio­nel­len (im Feu­da­lis­mus ver­an­ker­ten) Hand­wer­ke­rIn­nen, die den Libe­ra­lis­mus, schon auf­grund ihrer wirt­schaft­li­chen Rui­nie­rung ablehn­ten. Als Ziel­schei­be boten sich die ver­meint­li­chen Ver­tre­ter des Libe­ra­lis­mus und des Kapi­ta­lis­mus an, die JüdIn­nen. Das Feind­bild „Jude“, das durch die christ­li­che Tra­di­ti­on schon seit Jahr­hun­der­ten exis­tier­te, ver­schmolz zuneh­mend mit dem Feind­bild „Kapi­ta­list”.

Das Bür­ge­rIn­nen­tum war in Öster­reich mehr­heit­lich aber nicht nur anti­ka­pi­ta­lis­tisch und anti­li­be­ral, son­dern auch anti­so­zia­lis­tisch, es gab eine star­ke Ableh­nung der Arbei­te­rIn­nen­be­we­gung und der Sozi­al­de­mo­kra­tie. Und wie­der wur­de der poli­ti­sche Gegen­satz durch Anti­se­mi­tis­mus zum Aus­druck gebracht: „Die bol­sche­wis­ti­sche Gefahr ist eine jüdi­sche Gefahr.“ (Ignaz Seipel).
So ergab sich die para­do­xe Situa­ti­on, dass für die Anti­se­mi­tIn­nen nicht nur der Kapi­ta­lis­mus, son­dern auch der Sozia­lis­mus jüdisch waren.

Der Vernichtungsantisemitismus

Davon zu unter­schei­den – auch wenn es hier wie­der kei­ne schar­fe Trenn­li­nie gibt – ist der ras­sis­ti­sche Antisemitismus.

Mit den Vor­stel­lun­gen der deut­schen und in wei­te­rer Fol­ge öster­rei­chi­schen Natio­nen­bil­dung ent­wi­ckel­te sich eine Blut-und-Boden-Ideo­lo­gie. Wäh­rend in Frank­reich die Nati­on in einer Zeit kon­stru­iert wur­de, die geprägt von den Gedan­ken der „Gleich­heit“, „Frei­heit“ und „Brü­der­lich­keit“ war, ent­wi­ckel­te sich in Deutsch­land die Nati­on spä­ter, in einer Zeit, die geprägt war von der Vor­stel­lung der Ahnenschaft.

Auschwitz
Auschwitz

Das eige­ne „Volk“ wur­de mytho­lo­gi­siert und wur­de als natür­li­cher „Orga­nis­mus“ wahr­ge­nom­men, der auch mensch­li­che Eigen­schaf­ten ein­neh­men konn­te, wie „mutig“ und „schwach“. Den Men­schen inner­halb die­ses Kon­strukts „Volk“ wur­de eine bestimm­te und, eben­so wie dem „Volk“ selbst, natur­ge­woll­te Ord­nung zu gewie­sen. Alles, was dem wider­sprach, rich­te­te sich nun gegen die „Natur“ selbst, wur­de als „Fremd­kör­per“ im „Orga­nis­mus“ betrach­tet und muss­te „aus­ge­schie­den“ werden..
Der Schritt zum ras­sis­ti­schen Anti­se­mi­tis­mus, der JüdIn­nen (als zu ver­nich­ten­de „Gegen­ras­se“, auf die zuvor alles Nega­ti­ve pro­ji­ziert wur­de) eben­so wie „den Deut­schen“ eine „natur­ge­woll­te“ Rol­le gab und die Idee, alles „Frem­de“, das dem Orga­nis­mus „Volk“ scha­den konn­te, zu eli­mi­nie­ren, waren somit gege­ben. Das Ergeb­nis war der mil­lio­nen­fa­che Mord an JüdIn­nen, aber auch an Roma und Sinti.

Antisemitismus nach 1945

Der Anti­se­mi­tis­mus nach 1945 unter­schei­det sich von sei­nen vor­her­ge­hen­den For­men deut­lich. Das poli­ti­sche und gesell­schaft­li­che Kli­ma Nach­kriegs­ös­ter­reichs ist geprägt von einer man­geln­den Distanz zur Vergangenheit.

Nach dem Zusam­men­bruch des Drit­ten Rei­ches bedeu­tet die Tat­sa­che, dass das NS-Regime eine mas­sen­wei­se Betei­li­gung der Bevöl­ke­rung an der “Juden­ver­nich­tung” erzie­len konn­te, ein ernst­haf­tes Pro­blem für die Kol­la­bo­ra­teu­rIn­nen. Aber anstatt einer Auf­ar­bei­tung kam es zur Ver­drän­gung, Schuld­ab­wehr und Recht­fer­ti­gung von NS-Maß­nah­men bis zur Schuld­um­kehr. Jene, die auf Anti­se­mi­tis­mus auf­merk­sam machen, sind die wah­ren Schul­di­gen, weil sie die Sache nicht ruhen las­sen) Durch die Schuld­um­kehr wur­de der „Anti­se­mi­tis­mus trotz Ausch­witz“ zu einem „Anti­se­mi­tis­mus wegen Auschwitz“.

Gleichsetzung von Israel mit den Nazis auf einer KundgebungGleichsetzung von Israel mit den Nazis auf einer Kundgebung
„Anti­se­mi­tis­mus nach Ausch­witz“ auf einer Demons­tra­ti­on gegen Isra­el, am 4. Juni 2010 in Wien — Quel­le

Der Nach­kriegs­an­ti­se­mi­tis­mus der Öster­rei­che­rIn­nen hängt also einer­seits mit der Nicht­auf­ar­bei­tung der NS-Ver­gan­gen­heit zusam­men, ande­rer­seits und mit dem Ver­such, eine neue öster­rei­chi­sche Iden­ti­tät auf­zu­bau­en. Dafür sind bestimm­te Ver­drän­gungs­leis­tun­gen, Ver­harm­lo­sun­gen, Feind­bil­der notwendig.

Der Anti­se­mi­tis­mus nach 1945 in Öster­reich ist ein “Anti­se­mi­tis­mus ohne JüdIn­nen” (Paul Lend­vai), nur 0,1 % der Bevöl­ke­rung sind jüdi­schen Glau­bens . Er ist auch ein „Anti­se­mi­tis­mus ohne Anti­se­mi­tIn­nen“. Da der Anti­se­mi­tis­mus offi­zi­ell ver­pönt ist, strei­tet jedeR ab, Anti­se­mi­tIn zu sein. In Öster­reich ent­stand daher die zwie­späl­ti­ge Situa­ti­on, das es weder eine Auf­ar­bei­tung und Über­win­dung des Anti­se­mi­tis­mus gab oder gibt, noch eine Auf­recht­erhal­tung als Ideo­lo­gie erfolg­te. Der Anti­se­mi­tis­mus lebt im pri­va­ten Bereich gro­ßer Tei­le der Bevöl­ke­rung wei­ter, exis­tiert aber im offi­zi­el­len Leben und der Geschichts­schrei­bung nicht. In dem der Anti­se­mi­tis­mus tabui­siert wur­de und wird, dadurch aber nicht auf­ge­ho­ben ist, wur­de er zum All­tags­an­ti­se­mi­tis­mus, als wel­cher er sich festigte.

Antizionismus: Antisemitismus ohne AntisemitInnen

Eine heu­te weit­ver­brei­te­te Form des „Anti­se­mi­tis­mus ohne Anti­se­mi­tIn­nen“ stellt der Anti­zio­nis­mus da. Anti­zio­nis­mus bezeich­net die Geg­ner­schaft gegen­über dem Staat Isra­el. Damit ist nicht eine Kri­tik an Hand­lun­gen Isra­els oder des­sen Füh­rung gemeint, son­dern eine Kri­tik um der Kri­tik wil­len, unab­hän­gig von mög­li­chen Hand­lun­gen Isra­els. Die­se Form des Anti­se­mi­tis­mus rich­tet sich gegen jeg­li­che Hand­lung Isra­els und negiert dabei das Exis­tenz­recht Isra­els selbst.

Dabei wer­den die glei­chen anti­se­mi­ti­schen Mus­ter ver­wen­det, die die ver­schie­de­nen Anti­se­mi­tis­men aus­zeich­nen: „Isra­el sei unver­söhn­lich“, „gie­rig“ (sie­he „Holo­caust­in­dus­trie“), „wol­le die Welt­herr­schaft“ (sie­he die angeb­li­che „Medi­en­kon­trol­le“), „hetzt Staa­ten gegen­ein­an­der auf“; aber auch Ritu­al­mord­le­gen­den, wie jene, dass Isra­el Orga­ne hai­ti­scher Erd­be­ben­op­fer ent­nimmt, sind immer wie­der zu hören.

So kommt Doron Rabi­no­vici zu dem Schluss:

Para­do­xer­wei­se stärk­te die Exis­tenz des Staa­tes das Selbst­be­wusst­sein der Dia­spo­ra, kön­nen Juden auf der gan­zen Welt furcht­lo­ser leben, wenn sie wis­sen, dass ein Flug nach Zion mög­lich ist. Wer aller­dings glaub­te, dass mit Isra­el der Anti­se­mi­tis­mus bezwun­gen sein wür­de, muss nun erken­nen, das Res­sen­ti­ment läuft wenn auch viel­leicht nicht wegen Isra­el, so zumin­dest gegen Isra­el zu neu­er Form auf. Isra­el wur­de von Beginn an sei­ne Daseins­be­rech­ti­gung strei­tig gemacht. Der Staat der Juden wird nicht sel­ten als Jude unter den Staa­ten gehasst und verworfen.

Antisemitismus auf einer Kundgebung in Wien gegen Israel
Auf­ge­nom­men auf einer Demons­tra­ti­on gegen Isra­el, am 4. Juni 2010 in Wien. Vgl. die Ähn­lich­keit mit dem Christ­li­chen Anti­se­mi­tis­mus und sei­ner Behaup­tung von „Ritu­al­mord­le­gen­den”Quel­le

Als „Jude unter den Staa­ten“ wer­den auf Isra­el die glei­chen anti­se­mi­ti­schen Argu­men­ta­ti­ons­mus­ter ange­wen­det, die schon typisch in der Geg­ner­schaft zu JüdIn­nen und zum Juden­tum im All­ge­mei­nen existieren.
Der Kampf von Bewe­gun­gen gegen Isra­el wird durch Anti­zio­nis­tIn­nen zu einem eman­zi­pa­ti­ven Kampf umge­lo­gen, selbst wenn die­se Bewe­gun­gen selbst zutiefst antieman­zi­pa­to­risch sind. So ist für die­se Art von Anti­se­mi­tIn­nen eine Bewe­gung schon dann eman­zi­pa­tiv, wenn sich eine Geg­ner­schaft zu Isra­el selbst bil­det. Die Geg­ner­schaft zu Isra­el genügt sich damit selbst, es braucht kei­ne wei­te­re Begrün­dung als die Geg­ner­schaft selbst.