[Archiv] Antisemitismus [Archiv]

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Die­ser Arti­kel wur­de ins Archiv ver­scho­ben. 22.5.2017
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Was ist Antisemitismus?

Eini­ge hal­ten den Hass auf Jüdin­nen und Juden nur mehr für ein Über­bleib­sel der Geschich­te. Ganz im Gegen­teil lässt sich jedoch seit län­ge­rem wie­der eine Zunah­me anti­se­mi­ti­scher Ein­stel­lun­gen eben­so wie Angrif­fe auf Jüdin­nen und Juden und jüdi­sche Ein­rich­tun­gen ver­zeich­nen. Das häu­figs­te Motiv des gegen­wär­ti­gen Anti­se­mi­tis­mus ist nach wie vor jenes der „jüdi­schen Welt­ver­schwö­rung“, also der Annah­me, Jüdin­nen und Juden wür­den (ver­deck­ten) finan­zi­el­len und poli­ti­schen Ein­fluss auf das Welt­ge­sche­hen aus­üben. Die Vor­stel­lung eines „ewi­gen Anti­se­mi­tis­mus“ (nach der es Anti­se­mi­tis­mus gibt, weil es schon davor Anti­se­mi­tis­mus gab) bie­tet sich oft­mals schnell als Erklä­rung an. Anti­se­mi­tis­mus wird hier­bei jedoch zu einer Selbst­ver­ständ­lich­keit der Geschich­te erklärt – und auch die gegen­wär­ti­ge Gesell­schaft muss so nicht mehr all­zu genau betrach­tet wer­den. Gera­de die Lang­le­big­keit des Anti­se­mi­tis­mus hängt jedoch wesent­lich damit zusam­men, dass die­ser im Lauf der Zeit immer wie­der sei­ne For­men sowie sei­ne gesell­schaft­li­che Funk­ti­on ver­än­dert hat.

Der Antisemitismus als Gemeinschaftsideologie – Zur individuellen und gesellschaftlichen Funktion des Antisemitismus

Brauch­ba­re Erklä­run­gen des Anti­se­mi­tis­mus sagen uns nichts über des­sen „Objek­te“ (die Jüdin­nen und Juden), son­dern nur über des­sen Sub­jek­te: die Antisemit_innen bzw. die Gesell­schaft, die sie her­vor­bringt. Das Objekt des Anti­se­mi­tis­mus hin­ge­gen inter­es­siert nur unter dem Aspekt sei­ner sozia­len Kon­struk­ti­on. Oder wie Jean-Paul Sart­re dies for­mu­lier­te: „Gäbe es kei­ne Juden, der Anti­se­mit wür­de sie erfinden“.

Theo­dor W. Ador­no und Max Hork­hei­mer beschrie­ben die Wir­kungs­wei­se des Anti­se­mi­tis­mus auf indi­vi­du­el­ler Ebe­ne als fal­sche Pro­jek­ti­on. Hier­bei wer­den ver­dräng­te Ängs­te und Wün­sche, die das Indi­vi­du­um in der Gesell­schaft nicht zulas­sen darf, auf „den Frem­den“ abge­spal­ten. Antisemit_innen sehen in Jüdin­nen und Juden also immer nur das, was sie selbst in die­se „hin­ein­ge­legt“ haben. Die­ser Pro­zess ist der Refle­xi­on somit zunächst nicht zugäng­lich. Beim Anti­se­mi­tis­mus han­delt es sich also nicht ein­fach um ein Vor­ur­teil, wel­ches schlicht­weg mit Wis­sen bzw. Fak­ten über Jüdin­nen und Juden oder das Juden­tum kor­ri­giert wer­den könn­te. Gefes­tig­te Antisemit_innen wol­len dar­über hin­aus ihre eige­nen Vor­stel­lun­gen auch gar nicht kor­ri­gie­ren, da der Glau­be an das Res­sen­ti­ment einen psy­chi­schen (Lust-)Gewinn ver­schafft: „Sein Ich bläht sich auf, er fühlt sich über­le­gen, denn er gehört einer Gemein­schaft mit angeb­lich höhe­ren Wer­ten an: der Gemein­schaft der Nicht­ju­den.“ (Sim­mel 1993, 60).

Je stär­ker die Iden­ti­fi­ka­ti­on mit den gesell­schaft­li­chen Nor­men, des­to hef­ti­ger die ableh­nen­de und hass­erfüll­te Reak­ti­on auf all die­je­ni­gen, wel­che die­sen Nor­men – tat­säch­lich oder vor­ge­stellt – nicht ent­spre­chen. So wer­den Jüdin­nen und Juden etwa als „Schma­rot­zer“ betrach­tet, die vom Geld der ande­ren leben, aber selbst kei­ne „ehr­li­che“ Arbeit ver­rich­ten wür­den. Je repres­si­ver und uni­for­mier­ter eine Gesell­schaft, je rigi­der die Herr­schaft „des Nor­ma­len“, je weni­ger Kon­flik­te als sozia­le bzw. Inter­es­sen­kon­flik­te wahr­ge­nom­men wer­den, des­to stär­ker die auto­ri­tä­ren Aggres­sio­nen sowie die Nei­gung zu Projektionen.

Dar­um muss der Anti­se­mi­tis­mus (eben­so wie der Ras­sis­mus) immer auch als gesell­schaft­li­ches Phä­no­men ver­stan­den wer­den. In die­sem Sin­ne stellt der Anti­se­mi­tis­mus eine Ideo­lo­gie (der Ver­ge­mein­schaf­tung) dar, die durch die spe­zi­el­le Form der Kol­lek­tiv­bil­dung als „Volk“ bzw. „Nati­on“ geprägt ist. Erst wenn begrif­fen wird, dass die Kon­struk­ti­on des „Frem­den“ nicht nur eine indi­vi­du­el­le son­dern auch eine gesell­schaft­li­che Funk­ti­on auf­weist, wird der Anti­se­mi­tis­mus nicht mehr auf ein das (Fehl-)Verhalten Ein­zel­ner redu­ziert. Erst dann kön­nen die spe­zi­fi­schen Pro­ble­me der Gesell­schaft iden­ti­fi­ziert wer­den, aus denen der Anti­se­mi­tis­mus erwächst und der Fra­ge nach­ge­gan­gen wer­den, wie die­sen ent­ge­gen­ge­wirkt wer­den könnte.

Formen des Antisemitismus

  • Reli­giö­ser Anti­se­mi­tis­mus (Anti­ju­da­is­mus): Schon die Ent­ste­hung des Juden­tums stieß auf ableh­nen­de Hal­tun­gen, da es sich als ers­te mono­the­is­ti­sche Reli­gi­on gegen­über den gän­gi­gen anti­ken Glau­bens­vor­stel­lun­gen in der Min­der­heit befand. Jedoch erst mit der Her­aus­bil­dung des Chris­ten­tums zur Staats­re­li­gi­on im 4. Jahr­hun­dert wur­de die Her­ab­set­zung von Jüdin­nen und Juden bzw. ihrem Glau­ben wesent­li­ches Ele­ment staat­li­cher Macht­po­li­tik und Repres­si­on. Das Selbst­ver­ständ­nis des Chris­ten­tums, die ein­zig „wah­re“ Reli­gi­on zu sein, ent­wi­ckel­te sich hier­bei in direk­ter Abgren­zung zum Jüdi­schen, dem die­ses jedoch zugleich ent­wach­sen war. Hier­bei ent­stand der bis heu­te wirk­sa­me anti­ju­da­is­ti­sche Vor­wurf der „Got­tes­mör­der“: „die Juden“ hät­ten Jesus Chris­tus ver­ra­ten und anschlie­ßend gekreu­zigt. Als Stra­fe wären die­se dazu ver­dammt, in der Welt umher­zu­ir­ren und bis ans Ende der Tage von der Wahr­heit des Chris­ten­tums Zeug­nis abzu­le­gen. Jüdin­nen und Juden, denen unter­stellt wur­de mit dem Teu­fel im Bun­de zu sein, konn­ten somit auch von der Obrig­keit leicht als Sün­den­bö­cke benutzt wer­den. So wur­de etwa die Schuld für das Auf­kom­men der Pest bei den ghet­toi­sier­ten Juden, „den Brun­nen­ver­gif­tern“, gesucht. Auch die „Ritu­al­mord­le­gen­de”, wie etwa der Vor­wurf das Brot für das jüdi­sche Pes­sach­fest mit dem Blut von Chris­ten­kin­dern zu backen, führ­te immer wie­der zu Pogro­men. Die spä­te­re Ghet­to­bil­dung erwies sich zwar teil­wei­se als Schutz, führ­te jedoch dazu, dass Jüdin­nen und Juden nun auch räum­lich abge­schot­tet leb­ten – was wie­der­um den Vor­wurf begüns­tig­te, sie wür­den „einen Staat im Staat“ bil­den. Zudem wur­den Jüdin­nen und Juden von den meis­ten hand­werk­li­chen Beru­fen weit­ge­hend aus­ge­schlos­sen und somit ver­mehrt in den Han­del gedrängt – beson­ders in den Geld­ver­leih, da Christ_innen der so genann­te „Wucher“ ver­bo­ten wur­de. Hier­mit wur­de das Ste­reo­typ vom „geld­gie­ri­gen Juden“, der zudem von der Arbeit ande­rer pro­fi­tie­ren wür­den ohne selbst etwas zu erwirt­schaf­ten, wirk­sam. Auch ent­stand die Mär von der Ver­schwö­rung ein­fluss­rei­cher Juden gegen die christ­li­che Mehr­heits­ge­sell­schaft. 1903 wur­den im zaris­ti­schen Russ­land die soge­nann­ten „Pro­to­kol­le der Wei­sen von Zion” geschrie­ben; ein gefälsch­tes „Geheim­do­ku­ment“ das eine „jüdi­sche Welt­ver­schwö­rung“ auf­zu­de­cken behaup­te­te. Obwohl die­ses anti­se­mi­ti­sche Pam­phlet selbst noch nicht vom „Rasse“-Gedanken geprägt war, wur­de es spä­ter zu einem zen­tra­len Werk, auf das sich auch der Natio­nal­so­zia­lis­mus beru­fen sollte.
  • Moder­ner Anti­se­mi­tis­mus – Vom Anti­ju­da­is­mus zum ras­si­schen und eli­mi­na­to­ri­schen Anti­se­mi­tis­mus: Mit dem Ende der feu­da­len Gesell­schafts­ord­nung sowie dem Auf­kom­men der kapi­ta­lis­tisch-bür­ger­li­chen Natio­nal­staa­ten ver­än­der­te sich auch die Funk­ti­on des Anti­se­mi­tis­mus. Im Zuge der Auf­klä­rung wur­de die Gleich­heit und Frei­heit aller Men­schen pos­tu­liert. Zudem wur­den reli­giö­se Welt­an­schau­un­gen zuneh­mend durch wis­sen­schaft­li­che abge­löst. So erfolg­ten etwa Bestre­bun­gen der Ent­mach­tung der Aris­to­kra­tie und des christ­li­chen Kle­rus, der Abschaf­fung der Leib­ei­gen­schaft sowie der Tren­nung von Staat und Reli­gi­on (und damit ein­her­ge­hend auch der Gleich­stel­lung von Jüdin­nen und Juden). Da sozia­le Herr­schaft und Ungleich­heit nun­mehr nicht über das Bünd­nis von „Thron und Altar“ legi­ti­miert wer­den konn­ten, began­nen sich ver­mehrt pseu­do­wis­sen­schaft­li­che „Ras­se­theo­rien“ durchzusetzen.Ebenso kamen Bestre­bun­gen auf, sich vom reli­gi­ös begrün­de­ten Anti­ju­da­is­mus abzu­gren­zen und die­se „zu ver­wis­sen­schaft­li­chen“ – wes­halb ihm auch ein neu­er Name ver­lie­hen wur­de: Anti­se­mi­tis­mus. Zwar wur­den bestehen­de anti-jüdi­sche Ste­reo­ty­pe fort­ge­schrie­ben, der Anti­se­mi­tis­mus bekam hier­bei jedoch eine neue Qua­li­tät, die über den Kon­flikt der Dis­kri­mi­nie­rung einer gesell­schaft­li­chen Min­der­heit durch die Mehr­heits­ge­sell­schaft hin­aus­ging. So wur­de beim christ­li­chen Anti­ju­da­is­mus Jüdin­nen und Juden grund­sätz­lich ein Aus­weg aus Ver­fol­gung und Dis­kri­mi­nie­rung mit­tels Über­tritt zur „wah­ren“ Reli­gi­on ver­spro­chen („Tau­fe oder Tod“). Beim moder­nen Anti­se­mi­tis­mus wur­den Jüdin­nen und Juden nun­mehr als fun­da­men­tal „Ande­re“ sowie gefähr­li­che „Ras­se“ betrach­tet. Der Anti­se­mi­tis­mus konn­te sich so zu einer umfas­sen­den Ideo­lo­gie bzw. einer eigen­stän­di­gen Welt­an­schau­ung radi­ka­li­sie­ren. Obwohl der moder­ne Anti­se­mi­tis­mus im Wesent­li­chen aus der Ver­mi­schung des reli­giö­sen Anti­ju­da­is­mus mit dem moder­nen „Rasse“-Gedanken ent­stand, unter­schied sich die sozia­le Posi­tio­nie­rung von Jüdin­nen und Juden jedoch auch von ande­ren ‚Ras­si­fi­zier­ten’, wie etwa den Aus­ge­beu­te­ten der Kolo­nien. Dies hing unter ande­rem damit zusam­men, dass Jüdin­nen und Juden nicht als Frem­de „von Außen“ son­dern aus dem „Inne­ren“ der Gesell­schaft wahr­ge­nom­men wurden.
    Als sich das anfäng­li­che Glücks­ver­spre­chen der Moder­ne nicht ein­zu­lö­sen begann und sich sozia­le Her­aus­for­de­run­gen zuspitz­ten, wur­de die Fra­ge: „Wer ist schuld an unse­rem Unglück?“ immer häu­fi­ger mit „Die Juden!“ beant­wor­tet. Dies umso mehr, da auch in der Moder­ne Aus­beu­tung nicht been­det wor­den war, son­dern nun­mehr indi­rekt erfolg­te: näm­lich in der Form von anony­men Markt­ge­set­zen bzw. im Rah­men der so genann­ten „Wert­schöp­fung“ der Waren. Zudem ver­klär­te die bür­ger­li­che Ideo­lo­gie die nach wie vor bestehen­de struk­tu­rel­le Ungleich­heit als Ver­sa­gen der Ein­zel­nen. Der ursprüng­li­che Hass gegen die „schlech­ten Sei­ten“ der Moder­ne rich­te­te sich hier­bei nicht zufäl­lig auf das Ersatz­ob­jekt „Jude“, dem schon zu frü­he­ren Zei­ten Macht- und Geld­gier nach­ge­sagt wur­de. Auch war es beque­mer „die Juden“ für alles Schlech­te ver­ant­wort­lich zu machen, als sich gegen die tat­säch­li­chen Auto­ri­tä­ten aufzulehnen.Somit war der Boden berei­tet, auf dem der völ­ki­sche und eli­mi­na­to­ri­sche Anti­se­mi­tis­mus des Natio­nal­so­zia­lis­mus gedei­hen konn­te. So stell­te der NS jene Ideo­lo­gie dar, die im Kern von der wahn­haf­ten Vor­stel­lung getra­gen wur­de, an allem Unglück der Welt sei­en „die Juden“ schuld, wes­halb die Erlö­sung Deutsch­lands bzw. der Welt in ihrer Ver­nich­tung bestünde.

Nach dem „Zivilisationsbruch Auschwitz“: Antisemitismus ohne Antisemit_innen

Vor und wäh­rend des NS war es nicht unge­wöhn­lich, sich offen zum Anti­se­mi­tis­mus zu beken­nen. Mit dem „Zivi­li­sa­ti­ons­bruch Ausch­witz“ voll­zog sich eine schlag­ar­ti­ge und zunächst von den Alli­ier­ten for­cier­te Tabui­sie­rung des Anti­se­mi­tis­mus. Die beken­nen­den Antisemit_innen sind zwar rar gewor­den, mehr oder weni­ger bewuss­te anti­jü­di­sche Res­sen­ti­ments haben sich jedoch ihre Hin­ter­tü­ren gesucht. Der gegen­wär­ti­ge Anti­se­mi­tis­mus scheint hier­bei immer weni­ger ein ein­deu­ti­ges „Zen­trum“ zu besit­zen – weder geo­gra­phisch noch ideo­lo­gisch. Auch ver­lau­fen anti­se­mi­ti­sche Dis­kur­se ver­stärkt quer zu den poli­ti­schen Spek­tren – und wir­ken somit auch in unter­schied­lichs­te Berei­che der Gesell­schaft. So rück­ten unter dem Schlag­wort „Neu­er Anti­se­mi­tis­mus“ neben „den übli­chen Ver­däch­ti­gen“ (Nazis und extre­me Rech­te) zuneh­mend auch ande­re Grup­pie­run­gen ins Blick­feld der Anti­se­mi­tis­mus­for­schung – etwa Lin­ke, auto­ri­tä­re Regime und Grup­pie­run­gen außer­halb Euro­pas sowie isla­mis­ti­sche Organisationen.

  • Sekun­dä­rer Anti­se­mi­tis­mus: Hier­mit wird eine spe­zi­el­le Form des Anti­se­mi­tis­mus beschrie­ben, die nach 1945 aus der Erin­ne­rungs- und Schuld­ab­wehr der Ver­bre­chen der Sho­ah ent­stand. Die­ser Anti­se­mi­tis­mus „nicht trotz, son­dern wegen Ausch­witz“ trat somit vor allem in Deutsch­land und Öster­reich zuta­ge und rich­te­te sich häu­fig auch gegen Ent­schä­di­gungs­leis­tun­gen und Wie­der­gut­ma­chungs­zah­lun­gen. Beim sekun­dä­ren Anti­se­mi­tis­mus wer­den klas­si­sche anti­se­mi­ti­sche Res­sen­ti­ments – etwa jenes der angeb­li­chen Rach­sucht oder Geld­gier – wie­der­be­lebt. In Öster­reich tra­ten anti­se­mi­ti­sche Ein­stel­lun­gen bei­spiels­wei­se ange­sichts der „Wald­heim-Affä­re“ beson­ders offen zuta­ge. Kurt Wald­heim kan­di­dier­te 1986 für das Amt des Bun­des­prä­si­den­ten. Als Wald­heims NS-Ver­gan­gen­heit als ehe­ma­li­ger Offi­zier der Wehr­macht, der auch an Kriegs­ver­bre­chen betei­ligt war, publik gemacht wur­de, reagier­ten brei­te Tei­le der öster­rei­chi­schen Bevöl­ke­rung mit einer anti­se­mi­tisch auf­ge­la­de­nen Abwehr­hal­tung. So wur­de etwa behaup­tet, bei den Anschul­di­gun­gen wür­de es sich um die Lügen einer „inter­na­tio­na­len Ver­schwö­rung“ handeln.
  • Israel­be­zo­ge­ner Anti­se­mi­tis­mus: Aus der Tabui­sie­rung des offe­nen Anti­se­mi­tis­mus ent­wi­ckel­te sich nach 1945 dar­über hin­aus ein israel­be­zo­ge­ner bzw. anti­zio­nis­ti­scher Anti­se­mi­tis­mus. Hier­bei wer­den typi­sche Ste­reo­ty­pe und Seman­ti­ken des Anti­se­mi­tis­mus nicht mehr ein­zel­nen Jüdin­nen und Juden zuge­schrie­ben, son­dern dem Staat Isra­el als „kol­lek­ti­vem Juden“. So wur­de etwa der jüdi­sche Gott im tra­di­tio­nel­len Anti­se­mi­tis­mus als „Rache­gott“ beschrie­ben. Heu­te wird Isra­el etwa vor­ge­wor­fen, sie wür­den den Frie­den im Nah­ost mit ihrer per­ma­nen­ten Rach­sucht ver­ei­teln und den Welt­frie­den bedro­hen. Auch die Über­tra­gung bzw. Pau­scha­li­sie­rung der Kri­tik ein­zel­ner Akteur_innen und Insti­tu­tio­nen des israe­li­schen Staa­tes auf alle Israe­lis bzw. „die Juden“ ist als anti­se­mi­tisch zu bewer­ten. So füh­ren etwa Tei­le der „Boy­cott, Dis­in­vest­ment and Sanc­tions“ (BDS)-Bewegung eine Kam­pa­gne, die sich für den welt­wei­ten Boy­kott von israe­li­schen Wissenschaftler_innen aus­spricht. Die Fra­ge, wo Kri­tik an Isra­el endet und das anti­jü­di­sche Res­sen­ti­ment beginnt, ist immer wie­der äußerst umstrit­ten und führt dem­entspre­chend auch zu Unsi­cher­hei­ten. Um die­se Unter­schei­dung bes­ser zie­hen zu kön­nen, hilft etwa die Arbeits­de­fi­ni­ti­on der Euro­päi­schen Uni­on, die in der Anti­se­mi­tis­mus­for­schung als Mini­mal­kon­sens gilt (Euro­pean Forum on Anti­se­mi­tism 2017). Der­nach gilt eine Aus­sa­ge in Bezug auf Isra­el als anti­se­mi­tisch, wenn:
    - dem jüdi­schen Volk das Recht auf Selbst­be­stim­mung abge­strit­ten wird
    - dop­pel­te Stan­dards ange­wen­det werden
    - Sym­bo­le und Bil­der in Bezug auf Isra­el ver­wen­det wer­den, die mit tra­di­tio­nel­lem Anti­se­mi­tis­mus in Ver­bin­dung stehen
    - die Poli­tik der israe­li­schen Regie­rung mit der Poli­tik des Natio­nal­so­zia­lis­mus ver­gli­chen wird und/oder wenn Jüdin­nen und Juden kol­lek­tiv für Hand­lung der israe­li­schen Regie­rung ver­ant­wort­lich gemacht werden
  • Lin­ker und struk­tu­rel­ler Anti­se­mi­tis­mus: Auch wenn die Lin­ke im Gro­ßen und Gan­zen zu den ent­schie­dens­ten Gegner_innen des Anti­se­mi­tis­mus gehör­te, lässt sich eine Tra­di­ti­on des lin­ken Anti­se­mi­tis­mus bis zum Früh­so­zia­lis­mus zurück­ver­fol­gen. Jedoch galt lin­ker Anti­se­mi­tis­mus, vor allem unter Lin­ken selbst, lan­ge als ein Wider­spruch oder wur­de als „Sozia­lis­mus des dum­men Kerls“ ver­harm­lost. Vor allem im Rah­men der glo­ba­li­sie­rungs­kri­ti­schen Bewe­gun­gen der 1990er und 2000er Jah­re wur­de ver­stärkt begon­nen, auch lin­ken Anti­se­mi­tis­mus als sol­chen zu benen­nen und zu kri­ti­sie­ren – wie etwa jene Demonstrant_innen, die bei dem Pro­test gegen das Welt­wirt­schafts­fo­rum in Davos 2003 in Rums­feld- und Sharon-Mas­ken um ein gol­de­nes Kalb mit David­stern spran­gen.

    Als struk­tu­rell anti­se­mi­tisch wer­den Ansich­ten bezeich­net, die sich nicht aus­drück­lich gegen Jüdin­nen und Juden rich­ten, aber dem Anti­se­mi­tis­mus von ihrer Begriff­lich­keit und Argu­men­ta­ti­ons­struk­tur her ähneln. Dies betrifft etwa die Empö­rung über das „künst­li­che“ Geld, wel­ches auch noch die Welt regie­ren wür­de oder, dass die Wirt­schaft kei­ne Gren­zen mehr ken­ne und sich das Kapi­tal sich kei­ner Nati­on zuord­nen las­se. So kom­me es zu einer Dämo­ni­sie­rung des „unpro­duk­ti­ven Finanz­ka­pi­tal“, das sich auch der staat­li­chen Kon­trol­le zu ent­zie­hen scheint. In einem wei­te­ren Schritt wird der Kapi­ta­lis­mus nicht mehr als gesell­schaft­li­che Struk­tur ver­stan­den, son­dern auf bestimm­te Gesell­schafts­tei­le pro­ji­ziert und damit per­so­ni­fi­ziert („die Bon­zen“, „die Kapi­ta­lis­ten“, „die Eli­ten“, „die Impe­ria­lis­ten“). Die­se als „böse“ gedach­ten Grup­pen wür­den „mit­tels direk­ter Repres­si­on, Kor­rup­ti­on durch Sozi­al­po­li­tik und gemei­ner Pro­pa­gan­da in den Medi­en die Guten, die Beherrsch­ten, nie­der­hal­ten.“ (Hau­ry 1992, 139)
    Des Wei­te­ren weist der in der Lin­ken weit ver­brei­te­te Anti­ame­ri­ka­nis­mus struk­tu­rel­le Ähn­lich­kei­ten mit dem Anti­se­mi­tis­mus auf. Auch ist es von dort bis zu dem anti­se­mi­ti­schen Ste­reo­typ, hin­ter der Poli­tik der USA wür­de sich eine „jüdi­sche Lob­by“ ver­ber­gen, oft nicht mehr all­zu weit.

  • Anti­se­mi­tis­mus von Muslim_innen und isla­mi­sier­ter Anti­se­mi­tis­mus: Ange­sichts der Zunah­me anti­se­mi­ti­scher Gewalt­ta­ten in Euro­pa wird ver­mehrt dar­über debat­tiert, inwie­fern vor allem For­men des offe­nen Anti­se­mi­tis­mus gehäuft unter Muslim_innen auf­tre­ten. Da auch die­ser Anti­se­mi­tis­mus wesent­lich auf den in Euro­pa ent­stan­de­nen Anti­se­mi­tis­mus auf­baut, wird mitt­ler­wei­le häu­fi­ger dazu über­ge­gan­gen, Begrif­fe wie „mus­li­mi­scher“ oder „isla­mi­scher“ Anti­se­mi­tis­mus zu ver­mei­den und statt­des­sen von einem „isla­mi­sier­ten“ Anti­se­mi­tis­mus zu spre­chen. Zugleich legt die­ser Begriff jedoch nahe, dass bestimm­te Ele­men­te aus dem Islam abge­lei­tet wer­den kön­nen, was auch beim Anti­se­mi­tis­mus von Muslim_innen jedoch nicht zwin­gend der Fall sein muss. Nach wie vor gibt es jedoch weni­ge Stu­di­en, die fun­dier­te Aus­sa­gen dar­über zulas­sen, wel­ches Aus­maß, wel­che Struk­tur und wel­che Beson­der­hei­ten anti­se­mi­ti­sche Ein­stel­lun­gen unter Muslim_innen auf­wei­sen. Zumal es sich bei „den“ Muslim_innen um eine äußerst hete­ro­ge­ne Grup­pe handelt.

Zur Autorin: Cari­na Klam­mer ist Sozio­lo­gin und Teil der For­schungs­grup­pe Ideo­lo­gien und Poli­ti­ken der Ungleich­heit (www.fipu.at)

Weiterführende Literaturtipps:

  • Ador­no, Theo­dor W.; Hork­hei­mer, Max: Dia­lek­tik der Auf­klä­rung, Frank­furt, 1969
  • Ama­deu Anto­nio Stif­tung (Hg.): „Die Juden sind schuld.“ Anti­se­mi­tis­mus in der Ein­wan­de­rungs­ge­sell­schaft am Bei­spiel mus­li­misch sozia­li­sier­ter Milieus, 2009. (http://www.amadeu-antonio-stiftung.de/w/files/pdfs/aas-israel-2012.pdf)
  • Ama­deu Anto­nio Stif­tung (Hg.): Kri­tik oder Anti­se­mi­tis­mus? Eine päd­ago­gi­sche Hand­rei­chung zum Umgang mit israel­be­zo­ge­nem Anti­se­mi­tis­mus. (http://www.amadeu-antonio-stiftung.de/w/files/pdfs/aas-israel-2012.pdf)
  • Claus­sen, Det­lev (Hg.): Vom Juden­hass zum Anti­se­mi­tis­mus. Mate­ria­li­en einer ver­län­ger­ten Geschich­te. Darm­stadt, 1987.
  • Euro­pean Forum on Anti­se­mi­tism: Working Defi­ni­ti­on of Anti­se­mi­tism, 2017. (https://european-forum-on-antisemitism.org/definition-of-antisemitism/english-english
  • Hau­ry, Tho­mas: Zur Logik des bun­des­deut­sche Anti­zio­nis­mus; in: Poli­a­kov, Leon: Vom Anti­zio­nis­mus zum Anti­se­mi­tis­mus, Frei­burg, 1992.
  • Kie­fer, Micha­el: Anti­se­mi­tis­mus in den isla­mi­schen Gesell­schaf­ten. Der Paläs­ti­na­kon­flikt und der Trans­fer eines Feind­bil­des, Düs­sel­dorf 2002.
  • Peham, Andre­as: Patho­lo­gi­sche Mas­sen­bil­dung gegen Juden und Jüdin­nen. Zur Psy­cho­ana­ly­se des Anti­se­mi­tis­mus. (Erschie­nen in Con­text XXI 8/2002–1/2003, www.contextxxi.at/context/content/view/141/88/)
  • Pos­tone, Mois­he: Deutsch­land, die Lin­ke und der Holo­caust. Poli­ti­sche Inter­ven­tio­nen. Frei­burg, 2005.
  • Rabi­no­vici, Doron; Speck, Ulrich; Szna­ider, Nathan (Hg.): Neu­er Anti­se­mi­tis­mus? Eine glo­ba­le Debat­te, Frank­furt a.M., 2004
  • Sart­re, Jean Paul: Über­le­gun­gen zur Juden­fra­ge; Ham­burg, 1994
  • Schie­del, Heri­bert: Gemein­schafts­bil­dung und Ver­fol­gungs­wahn. The­sen zur Beson­der­heit des öster­rei­chi­schen Syn­droms. In: Gri­gat, Ste­phan (Hg.): Trans­for­ma­tio­nen des Post­na­zis­mus. Der deutsch-öster­rei­chi­sche Weg zum demo­kra­ti­schen Faschis­mus. Frei­burg, 2012
  • Sim­mel, Ernst: Ele­men­te einer psy­cho­lo­gi­schen Theo­rie des Anti­se­mi­tis­mus. In: Ders. (Hg.): Anti­se­mi­tis­mus. Frank­furt a. M., 1993.
  • Wod­ak, Ruth: Poli­tik mit der Angst. Zur Wir­kung rechts­po­pu­lis­ti­scher Dis­kur­se. Wien/Hamburg, 2016.