[Archiv] Antisemitismus [Archiv]

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Dieser Artikel wurde ins Archiv ver­schoben. 22.5.2017
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Was ist Antisemitismus?

Einige hal­ten den Hass auf Jüdin­nen und Juden nur mehr für ein Überbleib­sel der Geschichte. Ganz im Gegen­teil lässt sich jedoch seit län­gerem wieder eine Zunahme anti­semi­tis­ch­er Ein­stel­lun­gen eben­so wie Angriffe auf Jüdin­nen und Juden und jüdis­che Ein­rich­tun­gen verze­ich­nen. Das häu­fig­ste Motiv des gegen­wär­ti­gen Anti­semitismus ist nach wie vor jenes der „jüdis­chen Weltver­schwörung“, also der Annahme, Jüdin­nen und Juden wür­den (verdeck­ten) finanziellen und poli­tis­chen Ein­fluss auf das Welt­geschehen ausüben. Die Vorstel­lung eines „ewigen Anti­semitismus“ (nach der es Anti­semitismus gibt, weil es schon davor Anti­semitismus gab) bietet sich oft­mals schnell als Erk­lärung an. Anti­semitismus wird hier­bei jedoch zu ein­er Selb­stver­ständlichkeit der Geschichte erk­lärt – und auch die gegen­wär­tige Gesellschaft muss so nicht mehr allzu genau betra­chtet wer­den. Ger­ade die Lan­glebigkeit des Anti­semitismus hängt jedoch wesentlich damit zusam­men, dass dieser im Lauf der Zeit immer wieder seine For­men sowie seine gesellschaftliche Funk­tion verän­dert hat.

Der Antisemitismus als Gemeinschaftsideologie – Zur individuellen und gesellschaftlichen Funktion des Antisemitismus

Brauch­bare Erk­lärun­gen des Anti­semitismus sagen uns nichts über dessen „Objek­te“ (die Jüdin­nen und Juden), son­dern nur über dessen Sub­jek­te: die Antisemit_innen bzw. die Gesellschaft, die sie her­vor­bringt. Das Objekt des Anti­semitismus hinge­gen inter­essiert nur unter dem Aspekt sein­er sozialen Kon­struk­tion. Oder wie Jean-Paul Sartre dies for­mulierte: „Gäbe es keine Juden, der Anti­semit würde sie erfinden“.

Theodor W. Adorno und Max Horkheimer beschrieben die Wirkungsweise des Anti­semitismus auf indi­vidu­eller Ebene als falsche Pro­jek­tion. Hier­bei wer­den ver­drängte Äng­ste und Wün­sche, die das Indi­vidu­um in der Gesellschaft nicht zulassen darf, auf „den Frem­den“ abges­pal­ten. Antisemit_innen sehen in Jüdin­nen und Juden also immer nur das, was sie selb­st in diese „hinein­gelegt“ haben. Dieser Prozess ist der Reflex­ion somit zunächst nicht zugänglich. Beim Anti­semitismus han­delt es sich also nicht ein­fach um ein Vorurteil, welch­es schlichtweg mit Wis­sen bzw. Fak­ten über Jüdin­nen und Juden oder das Juden­tum kor­rigiert wer­den kön­nte. Gefes­tigte Antisemit_innen wollen darüber hin­aus ihre eige­nen Vorstel­lun­gen auch gar nicht kor­rigieren, da der Glaube an das Ressen­ti­ment einen psy­chis­chen (Lust-)Gewinn ver­schafft: „Sein Ich bläht sich auf, er fühlt sich über­legen, denn er gehört ein­er Gemein­schaft mit ange­blich höheren Werten an: der Gemein­schaft der Nichtju­den.“ (Sim­mel 1993, 60).

Je stärk­er die Iden­ti­fika­tion mit den gesellschaftlichen Nor­men, desto heftiger die ablehnende und has­ser­füllte Reak­tion auf all diejeni­gen, welche diesen Nor­men – tat­säch­lich oder vorgestellt – nicht entsprechen. So wer­den Jüdin­nen und Juden etwa als „Schmarotzer“ betra­chtet, die vom Geld der anderen leben, aber selb­st keine „ehrliche“ Arbeit ver­richt­en wür­den. Je repres­siv­er und uni­formiert­er eine Gesellschaft, je rigider die Herrschaft „des Nor­malen“, je weniger Kon­flik­te als soziale bzw. Inter­essenkon­flik­te wahrgenom­men wer­den, desto stärk­er die autoritären Aggres­sio­nen sowie die Nei­gung zu Projektionen.

Darum muss der Anti­semitismus (eben­so wie der Ras­sis­mus) immer auch als gesellschaftlich­es Phänomen ver­standen wer­den. In diesem Sinne stellt der Anti­semitismus eine Ide­olo­gie (der Verge­mein­schaf­tung) dar, die durch die spezielle Form der Kollek­tiv­bil­dung als „Volk“ bzw. „Nation“ geprägt ist. Erst wenn begrif­f­en wird, dass die Kon­struk­tion des „Frem­den“ nicht nur eine indi­vidu­elle son­dern auch eine gesellschaftliche Funk­tion aufweist, wird der Anti­semitismus nicht mehr auf ein das (Fehl-)Verhalten Einzel­ner reduziert. Erst dann kön­nen die spez­i­fis­chen Prob­leme der Gesellschaft iden­ti­fiziert wer­den, aus denen der Anti­semitismus erwächst und der Frage nachge­gan­gen wer­den, wie diesen ent­ge­gengewirkt wer­den könnte.

Formen des Antisemitismus

  • Religiös­er Anti­semitismus (Anti­ju­dais­mus): Schon die Entste­hung des Juden­tums stieß auf ablehnende Hal­tun­gen, da es sich als erste monothe­is­tis­che Reli­gion gegenüber den gängi­gen antiken Glaubensvorstel­lun­gen in der Min­der­heit befand. Jedoch erst mit der Her­aus­bil­dung des Chris­ten­tums zur Staat­sre­li­gion im 4. Jahrhun­dert wurde die Her­ab­set­zung von Jüdin­nen und Juden bzw. ihrem Glauben wesentlich­es Ele­ment staatlich­er Macht­poli­tik und Repres­sion. Das Selb­stver­ständ­nis des Chris­ten­tums, die einzig „wahre“ Reli­gion zu sein, entwick­elte sich hier­bei in direk­ter Abgren­zung zum Jüdis­chen, dem dieses jedoch zugle­ich entwach­sen war. Hier­bei ent­stand der bis heute wirk­same anti­ju­dais­tis­che Vor­wurf der „Gottes­mörder“: „die Juden“ hät­ten Jesus Chris­tus ver­rat­en und anschließend gekreuzigt. Als Strafe wären diese dazu ver­dammt, in der Welt umherzuir­ren und bis ans Ende der Tage von der Wahrheit des Chris­ten­tums Zeug­nis abzule­gen. Jüdin­nen und Juden, denen unter­stellt wurde mit dem Teufel im Bunde zu sein, kon­nten somit auch von der Obrigkeit leicht als Sün­den­böcke benutzt wer­den. So wurde etwa die Schuld für das Aufkom­men der Pest bei den ghet­toisierten Juden, „den Brun­nen­vergiftern“, gesucht. Auch die „Rit­ual­mordle­gende”, wie etwa der Vor­wurf das Brot für das jüdis­che Pes­sach­fest mit dem Blut von Chris­tenkindern zu back­en, führte immer wieder zu Pogromen. Die spätere Ghet­to­bil­dung erwies sich zwar teil­weise als Schutz, führte jedoch dazu, dass Jüdin­nen und Juden nun auch räum­lich abgeschot­tet lebten – was wiederum den Vor­wurf begün­stigte, sie wür­den „einen Staat im Staat“ bilden. Zudem wur­den Jüdin­nen und Juden von den meis­ten handw­erk­lichen Berufen weit­ge­hend aus­geschlossen und somit ver­mehrt in den Han­del gedrängt – beson­ders in den Geld­ver­leih, da Christ_innen der so genan­nte „Wuch­er“ ver­boten wurde. Hier­mit wurde das Stereo­typ vom „geldgieri­gen Juden“, der zudem von der Arbeit ander­er prof­i­tieren wür­den ohne selb­st etwas zu erwirtschaften, wirk­sam. Auch ent­stand die Mär von der Ver­schwörung ein­flussre­ich­er Juden gegen die christliche Mehrheits­ge­sellschaft. 1903 wur­den im zaris­tis­chen Rus­s­land die soge­nan­nten „Pro­tokolle der Weisen von Zion” geschrieben; ein gefälscht­es „Geheim­doku­ment“ das eine „jüdis­che Weltver­schwörung“ aufzudeck­en behauptete. Obwohl dieses anti­semi­tis­che Pam­phlet selb­st noch nicht vom „Rasse“-Gedanken geprägt war, wurde es später zu einem zen­tralen Werk, auf das sich auch der Nation­al­sozial­is­mus berufen sollte.
  • Mod­ern­er Anti­semitismus – Vom Anti­ju­dais­mus zum ras­sis­chen und elim­i­na­torischen Anti­semitismus: Mit dem Ende der feu­dalen Gesellschaft­sor­d­nung sowie dem Aufkom­men der kap­i­tal­is­tisch-bürg­er­lichen Nation­al­staat­en verän­derte sich auch die Funk­tion des Anti­semitismus. Im Zuge der Aufk­lärung wurde die Gle­ich­heit und Frei­heit aller Men­schen pos­tuliert. Zudem wur­den religiöse Weltan­schau­un­gen zunehmend durch wis­senschaftliche abgelöst. So erfol­gten etwa Bestre­bun­gen der Ent­mach­tung der Aris­tokratie und des christlichen Klerus, der Abschaf­fung der Leibeigen­schaft sowie der Tren­nung von Staat und Reli­gion (und damit ein­herge­hend auch der Gle­ich­stel­lung von Jüdin­nen und Juden). Da soziale Herrschaft und Ungle­ich­heit nun­mehr nicht über das Bünd­nis von „Thron und Altar“ legit­imiert wer­den kon­nten, began­nen sich ver­mehrt pseudowis­senschaftliche „Ras­sethe­o­rien“ durchzusetzen.Ebenso kamen Bestre­bun­gen auf, sich vom religiös begrün­de­ten Anti­ju­dais­mus abzu­gren­zen und diese „zu ver­wis­senschaftlichen“ – weshalb ihm auch ein neuer Name ver­liehen wurde: Anti­semitismus. Zwar wur­den beste­hende anti-jüdis­che Stereo­type fort­geschrieben, der Anti­semitismus bekam hier­bei jedoch eine neue Qual­ität, die über den Kon­flikt der Diskri­m­inierung ein­er gesellschaftlichen Min­der­heit durch die Mehrheits­ge­sellschaft hin­aus­ging. So wurde beim christlichen Anti­ju­dais­mus Jüdin­nen und Juden grund­sät­zlich ein Ausweg aus Ver­fol­gung und Diskri­m­inierung mit­tels Über­tritt zur „wahren“ Reli­gion ver­sprochen („Taufe oder Tod“). Beim mod­er­nen Anti­semitismus wur­den Jüdin­nen und Juden nun­mehr als fun­da­men­tal „Andere“ sowie gefährliche „Rasse“ betra­chtet. Der Anti­semitismus kon­nte sich so zu ein­er umfassenden Ide­olo­gie bzw. ein­er eigen­ständi­gen Weltan­schau­ung radikalisieren. Obwohl der mod­erne Anti­semitismus im Wesentlichen aus der Ver­mis­chung des religiösen Anti­ju­dais­mus mit dem mod­er­nen „Rasse“-Gedanken ent­stand, unter­schied sich die soziale Posi­tion­ierung von Jüdin­nen und Juden jedoch auch von anderen ‚Ras­si­fizierten’, wie etwa den Aus­ge­beuteten der Kolonien. Dies hing unter anderem damit zusam­men, dass Jüdin­nen und Juden nicht als Fremde „von Außen“ son­dern aus dem „Inneren“ der Gesellschaft wahrgenom­men wurden.
    Als sich das anfängliche Glücksver­sprechen der Mod­erne nicht einzulösen begann und sich soziale Her­aus­forderun­gen zus­pitzten, wurde die Frage: „Wer ist schuld an unserem Unglück?“ immer häu­figer mit „Die Juden!“ beant­wortet. Dies umso mehr, da auch in der Mod­erne Aus­beu­tung nicht been­det wor­den war, son­dern nun­mehr indi­rekt erfol­gte: näm­lich in der Form von anony­men Mark­t­ge­set­zen bzw. im Rah­men der so genan­nten „Wertschöp­fung“ der Waren. Zudem verk­lärte die bürg­er­liche Ide­olo­gie die nach wie vor beste­hende struk­turelle Ungle­ich­heit als Ver­sagen der Einzel­nen. Der ursprüngliche Hass gegen die „schlecht­en Seit­en“ der Mod­erne richtete sich hier­bei nicht zufäl­lig auf das Ersat­zob­jekt „Jude“, dem schon zu früheren Zeit­en Macht- und Geldgi­er nachge­sagt wurde. Auch war es beque­mer „die Juden“ für alles Schlechte ver­ant­wortlich zu machen, als sich gegen die tat­säch­lichen Autoritäten aufzulehnen.Somit war der Boden bere­it­et, auf dem der völkische und elim­i­na­torische Anti­semitismus des Nation­al­sozial­is­mus gedei­hen kon­nte. So stellte der NS jene Ide­olo­gie dar, die im Kern von der wahn­haften Vorstel­lung getra­gen wurde, an allem Unglück der Welt seien „die Juden“ schuld, weshalb die Erlö­sung Deutsch­lands bzw. der Welt in ihrer Ver­nich­tung bestünde.

Nach dem „Zivilisationsbruch Auschwitz“: Antisemitismus ohne Antisemit_innen

Vor und während des NS war es nicht ungewöhn­lich, sich offen zum Anti­semitismus zu beken­nen. Mit dem „Zivil­i­sa­tions­bruch Auschwitz“ vol­l­zog sich eine schla­gar­tige und zunächst von den Alli­ierten forcierte Tabuisierung des Anti­semitismus. Die beken­nen­den Antisemit_innen sind zwar rar gewor­den, mehr oder weniger bewusste anti­jüdis­che Ressen­ti­ments haben sich jedoch ihre Hin­tertüren gesucht. Der gegen­wär­tige Anti­semitismus scheint hier­bei immer weniger ein ein­deutiges „Zen­trum“ zu besitzen – wed­er geo­graphisch noch ide­ol­o­gisch. Auch ver­laufen anti­semi­tis­che Diskurse ver­stärkt quer zu den poli­tis­chen Spek­tren – und wirken somit auch in unter­schiedlich­ste Bere­iche der Gesellschaft. So rück­ten unter dem Schlag­wort „Neuer Anti­semitismus“ neben „den üblichen Verdächti­gen“ (Nazis und extreme Rechte) zunehmend auch andere Grup­pierun­gen ins Blick­feld der Anti­semitismus­forschung – etwa Linke, autoritäre Regime und Grup­pierun­gen außer­halb Europas sowie islamistis­che Organisationen.

  • Sekundär­er Anti­semitismus: Hier­mit wird eine spezielle Form des Anti­semitismus beschrieben, die nach 1945 aus der Erin­nerungs- und Schuld­ab­wehr der Ver­brechen der Shoah ent­stand. Dieser Anti­semitismus „nicht trotz, son­dern wegen Auschwitz“ trat somit vor allem in Deutsch­land und Öster­re­ich zutage und richtete sich häu­fig auch gegen Entschädi­gungsleis­tun­gen und Wiedergut­machungszahlun­gen. Beim sekundären Anti­semitismus wer­den klas­sis­che anti­semi­tis­che Ressen­ti­ments – etwa jenes der ange­blichen Rach­sucht oder Geldgi­er – wieder­belebt. In Öster­re­ich trat­en anti­semi­tis­che Ein­stel­lun­gen beispiel­sweise angesichts der „Wald­heim-Affäre“ beson­ders offen zutage. Kurt Wald­heim kan­di­dierte 1986 für das Amt des Bun­de­spräsi­den­ten. Als Wald­heims NS-Ver­gan­gen­heit als ehe­ma­liger Offizier der Wehrma­cht, der auch an Kriegsver­brechen beteiligt war, pub­lik gemacht wurde, reagierten bre­ite Teile der öster­re­ichis­chen Bevölkerung mit ein­er anti­semi­tisch aufge­lade­nen Abwehrhal­tung. So wurde etwa behauptet, bei den Anschuldigun­gen würde es sich um die Lügen ein­er „inter­na­tionalen Ver­schwörung“ handeln.
  • Israel­be­zo­gen­er Anti­semitismus: Aus der Tabuisierung des offe­nen Anti­semitismus entwick­elte sich nach 1945 darüber hin­aus ein israel­be­zo­gen­er bzw. antizion­is­tis­ch­er Anti­semitismus. Hier­bei wer­den typ­is­che Stereo­type und Seman­tiken des Anti­semitismus nicht mehr einzel­nen Jüdin­nen und Juden zugeschrieben, son­dern dem Staat Israel als „kollek­tivem Juden“. So wurde etwa der jüdis­che Gott im tra­di­tionellen Anti­semitismus als „Rachegott“ beschrieben. Heute wird Israel etwa vorge­wor­fen, sie wür­den den Frieden im Nahost mit ihrer per­ma­nen­ten Rach­sucht vere­it­eln und den Welt­frieden bedro­hen. Auch die Über­tra­gung bzw. Pauschal­isierung der Kri­tik einzel­ner Akteur_innen und Insti­tu­tio­nen des israelis­chen Staates auf alle Israelis bzw. „die Juden“ ist als anti­semi­tisch zu bew­erten. So führen etwa Teile der „Boy­cott, Dis­in­vest­ment and Sanc­tions“ (BDS)-Bewegung eine Kam­pagne, die sich für den weltweit­en Boykott von israelis­chen Wissenschaftler_innen ausspricht. Die Frage, wo Kri­tik an Israel endet und das anti­jüdis­che Ressen­ti­ment begin­nt, ist immer wieder äußerst umstrit­ten und führt dementsprechend auch zu Unsicher­heit­en. Um diese Unter­schei­dung bess­er ziehen zu kön­nen, hil­ft etwa die Arbeits­de­f­i­n­i­tion der Europäis­chen Union, die in der Anti­semitismus­forschung als Min­i­malkon­sens gilt (Euro­pean Forum on Anti­semitism 2017). Der­nach gilt eine Aus­sage in Bezug auf Israel als anti­semi­tisch, wenn:
    - dem jüdis­chen Volk das Recht auf Selb­st­bes­tim­mung abgestrit­ten wird
    - dop­pelte Stan­dards angewen­det werden
    - Sym­bole und Bilder in Bezug auf Israel ver­wen­det wer­den, die mit tra­di­tionellem Anti­semitismus in Verbindung stehen
    - die Poli­tik der israelis­chen Regierung mit der Poli­tik des Nation­al­sozial­is­mus ver­glichen wird und/oder wenn Jüdin­nen und Juden kollek­tiv für Hand­lung der israelis­chen Regierung ver­ant­wortlich gemacht werden
  • Link­er und struk­tureller Anti­semitismus: Auch wenn die Linke im Großen und Ganzen zu den entsch­ieden­sten Gegner_innen des Anti­semitismus gehörte, lässt sich eine Tra­di­tion des linken Anti­semitismus bis zum Früh­sozial­is­mus zurück­ver­fol­gen. Jedoch galt link­er Anti­semitismus, vor allem unter Linken selb­st, lange als ein Wider­spruch oder wurde als „Sozial­is­mus des dum­men Kerls“ ver­harm­lost. Vor allem im Rah­men der glob­al­isierungskri­tis­chen Bewe­gun­gen der 1990er und 2000er Jahre wurde ver­stärkt begonnen, auch linken Anti­semitismus als solchen zu benen­nen und zu kri­tisieren – wie etwa jene Demonstrant_innen, die bei dem Protest gegen das Weltwirtschafts­fo­rum in Davos 2003 in Rums­feld- und Sharon-Masken um ein gold­enes Kalb mit David­stern sprangen.

    Als struk­turell anti­semi­tisch wer­den Ansicht­en beze­ich­net, die sich nicht aus­drück­lich gegen Jüdin­nen und Juden richt­en, aber dem Anti­semitismus von ihrer Begrif­flichkeit und Argu­men­ta­tion­sstruk­tur her ähneln. Dies bet­rifft etwa die Empörung über das „kün­stliche“ Geld, welch­es auch noch die Welt regieren würde oder, dass die Wirtschaft keine Gren­zen mehr kenne und sich das Kap­i­tal sich kein­er Nation zuord­nen lasse. So komme es zu ein­er Dämon­isierung des „unpro­duk­tiv­en Finanzkap­i­tal“, das sich auch der staatlichen Kon­trolle zu entziehen scheint. In einem weit­eren Schritt wird der Kap­i­tal­is­mus nicht mehr als gesellschaftliche Struk­tur ver­standen, son­dern auf bes­timmte Gesellschaft­steile pro­jiziert und damit per­son­ifiziert („die Bonzen“, „die Kap­i­tal­is­ten“, „die Eliten“, „die Impe­ri­al­is­ten“). Diese als „böse“ gedacht­en Grup­pen wür­den „mit­tels direk­ter Repres­sion, Kor­rup­tion durch Sozialpoli­tik und gemein­er Pro­pa­gan­da in den Medi­en die Guten, die Beherrscht­en, nieder­hal­ten.“ (Hau­ry 1992, 139)
    Des Weit­eren weist der in der Linken weit ver­bre­it­ete Anti­amerikanis­mus struk­turelle Ähn­lichkeit­en mit dem Anti­semitismus auf. Auch ist es von dort bis zu dem anti­semi­tis­chen Stereo­typ, hin­ter der Poli­tik der USA würde sich eine „jüdis­che Lob­by“ ver­ber­gen, oft nicht mehr allzu weit.

  • Anti­semitismus von Muslim_innen und islamisiert­er Anti­semitismus: Angesichts der Zunahme anti­semi­tis­ch­er Gewalt­tat­en in Europa wird ver­mehrt darüber debat­tiert, inwiefern vor allem For­men des offe­nen Anti­semitismus gehäuft unter Muslim_innen auftreten. Da auch dieser Anti­semitismus wesentlich auf den in Europa ent­stande­nen Anti­semitismus auf­baut, wird mit­tler­weile häu­figer dazu überge­gan­gen, Begriffe wie „mus­lim­is­ch­er“ oder „islamis­ch­er“ Anti­semitismus zu ver­mei­den und stattdessen von einem „islamisierten“ Anti­semitismus zu sprechen. Zugle­ich legt dieser Begriff jedoch nahe, dass bes­timmte Ele­mente aus dem Islam abgeleit­et wer­den kön­nen, was auch beim Anti­semitismus von Muslim_innen jedoch nicht zwin­gend der Fall sein muss. Nach wie vor gibt es jedoch wenige Stu­di­en, die fundierte Aus­sagen darüber zulassen, welch­es Aus­maß, welche Struk­tur und welche Beson­der­heit­en anti­semi­tis­che Ein­stel­lun­gen unter Muslim_innen aufweisen. Zumal es sich bei „den“ Muslim_innen um eine äußerst het­ero­gene Gruppe handelt.

Zur Autorin: Cari­na Klam­mer ist Sozi­olo­gin und Teil der Forschungs­gruppe Ide­olo­gien und Poli­tiken der Ungle­ich­heit (www.fipu.at)

Weiterführende Literaturtipps:

  • Adorno, Theodor W.; Horkheimer, Max: Dialek­tik der Aufk­lärung, Frank­furt, 1969
  • Amadeu Anto­nio Stiftung (Hg.): „Die Juden sind schuld.“ Anti­semitismus in der Ein­wan­derungs­ge­sellschaft am Beispiel mus­lim­isch sozial­isiert­er Milieus, 2009. (http://www.amadeu-antonio-stiftung.de/w/files/pdfs/aas-israel-2012.pdf)
  • Amadeu Anto­nio Stiftung (Hg.): Kri­tik oder Anti­semitismus? Eine päd­a­gogis­che Han­dre­ichung zum Umgang mit israel­be­zo­gen­em Anti­semitismus. (http://www.amadeu-antonio-stiftung.de/w/files/pdfs/aas-israel-2012.pdf)
  • Claussen, Detlev (Hg.): Vom Juden­hass zum Anti­semitismus. Mate­ri­alien ein­er ver­längerten Geschichte. Darm­stadt, 1987.
  • Euro­pean Forum on Anti­semitism: Work­ing Def­i­n­i­tion of Anti­semitism, 2017. (https://european-forum-on-antisemitism.org/definition-of-antisemitism/english-english
  • Hau­ry, Thomas: Zur Logik des bun­des­deutsche Antizion­is­mus; in: Poli­akov, Leon: Vom Antizion­is­mus zum Anti­semitismus, Freiburg, 1992.
  • Kiefer, Michael: Anti­semitismus in den islamis­chen Gesellschaften. Der Palästi­nakon­flikt und der Trans­fer eines Feind­bildes, Düs­sel­dorf 2002.
  • Peham, Andreas: Pathol­o­gis­che Massen­bil­dung gegen Juden und Jüdin­nen. Zur Psy­cho­analyse des Anti­semitismus. (Erschienen in Con­text XXI 8/2002–1/2003, www.contextxxi.at/context/content/view/141/88/)
  • Pos­tone, Moishe: Deutsch­land, die Linke und der Holo­caust. Poli­tis­che Inter­ven­tio­nen. Freiburg, 2005.
  • Rabi­novi­ci, Doron; Speck, Ulrich; Sznaider, Nathan (Hg.): Neuer Anti­semitismus? Eine glob­ale Debat­te, Frank­furt a.M., 2004
  • Sartre, Jean Paul: Über­legun­gen zur Juden­frage; Ham­burg, 1994
  • Schiedel, Herib­ert: Gemein­schafts­bil­dung und Ver­fol­gungswahn. The­sen zur Beson­der­heit des öster­re­ichis­chen Syn­droms. In: Gri­gat, Stephan (Hg.): Trans­for­ma­tio­nen des Post­nazis­mus. Der deutsch-öster­re­ichis­che Weg zum demokratis­chen Faschis­mus. Freiburg, 2012
  • Sim­mel, Ernst: Ele­mente ein­er psy­chol­o­gis­chen The­o­rie des Anti­semitismus. In: Ders. (Hg.): Anti­semitismus. Frank­furt a. M., 1993.
  • Wodak, Ruth: Poli­tik mit der Angst. Zur Wirkung recht­spop­ulis­tis­ch­er Diskurse. Wien/Hamburg, 2016.