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Wien: Niemals vergessen! Mahnwache und Kundgebung

“In den Jah­ren 1939–1942 wur­den vom ehe­ma­li­gen Aspang­bahn­hof zehn­tau­sen­de öster­rei­chi­sche Juden in Ver­nich­tungs­la­ger trans­por­tiert und kehr­ten nicht mehr zurück” Nie­mals ver­ges­sen! Nie wie­der Faschis­mus! Mahn­wa­che und Kund­ge­bung Sonn­tag, 9. Novem­ber 2014, 15 Uhr Gedenk­stein vor dem ehe­ma­li­gen Aspang­bahn­hof (Platz der Opfer der Depor­ta­ti­on, 1030 Wien) Zu die­ser Kund­ge­bung rufen auf: Abg. z. NR a. D. Karl Öllin­ger; Abg. […]

5. Nov 2014

Zu die­ser Kund­ge­bung rufen auf:
Abg. z. NR a. D. Karl Öllin­ger; Abg. z. NR Albert Stein­hau­ser; Alter­na­ti­ve und Grü­ne Gewerk­schaf­te­rIn­nen (AUGE/UG); ARGE Wehr­dienst­ver­wei­ge­rung, Gewalt­frei­heit und Flücht­lings­be­treu­ung; BR Susan­ne Empa­cher – Kom­mu­nis­ti­sche Par­tei Land­stra­ße; Bund Sozi­al­de­mo­kra­ti­scher Freiheitskämpfer/innen, Opfer des Faschis­mus und akti­ver Antifaschist/inn/en; Deser­teurs- und Flücht­lings­be­ra­tung; Die Grü­nen Land­stra­ße; Die Grü­nen Wien; Doron Rabi­no­vici (Repu­bli­ka­ni­scher Club); Gewerk­schaft­li­cher Links­block (GLB); Grü­ner Klub im Rat­haus; Info­la­den Wels; Initia­ti­ve Aspang­bahn­hof; Israe­li­ti­sche Kul­tus­ge­mein­de Wien (IKG Wien); Kom­mu­nis­ti­sche Par­tei Öster­reichs – Wien (KPÖ-Wien); KZ-Ver­ban­d/V­dA Bun­des­ver­band; Lan­des­ver­band NÖ KZ-Ver­ban­d/V­dA; Maut­hau­sen Komi­tee Öster­reich (MKÖ); Niki Kun­rath – Die Grü­nen Wien; Öster­rei­chi­sche KZ-Ver­ei­ni­gung Buchen­wald; Peter Men­as­se – Chef­re­dak­teur “Nu”; Pierre Ramus Gesell­schaft; Prof. Rudolf Gel­bard; Redak­ti­on “Akin”; Repu­bli­ka­ni­scher Club Wien – Neu­es Öster­reich; Roma­no Cen­tro – Ver­ein für Roma; Sozia­lis­ti­sche Jugend Wien (SJ-Wien); Sozia­lis­ti­sche Links­Par­tei (SLP); SPÖ – Bezirks­or­ga­ni­sa­ti­on Land­stra­ße; SPÖ – Klub im Wie­ner Rat­haus; SPÖ – Sek­ti­on Euro­ga­te; Stv. BV Eva Lach­ko­vics – Die Grü­nen Land­stra­ße; Unab­hän­gi­ges Anti­fa­schis­ti­sches Per­so­nen­ko­mi­tee Bur­gen­land; Ver­ein GEDENKDIENST; Ver­ein Inter­na­tio­na­ler Zivil­dienst; Ver­ein Stei­ne des Geden­kens für die Opfer der Shoa; Wie­ner Arbei­te­rIn­nen Syn­di­kat (WAS)

Nie­mals vergessen!

Wor­an geden­ken wir am 9. November?

Schon in der Nacht vom 11. zum 12. März 1938, also anläß­lich des Ein­mar­sches der deut­schen Wehr­macht in Öster­reich, began­nen Aus­schrei­tun­gen gegen Jüdin­nen und Juden in Öster­reich. Vie­le wur­den von SA- und HJ-Leu­ten wie von “ein­fa­chen” Par­tei­mit­glie­dern, die sich ihre Haken­kreuz­bin­den und Orden ange­hef­tet haben, ver­haf­tet, geschla­gen und öffent­lich gede­mü­tigt. Fens­ter­schei­ben wur­den ein­ge­schla­gen. Juden und Jüdin­nen wur­den gezwun­gen Paro­len, wel­che Anhän­ger des aus­tro­fa­schis­ti­schen Bun­des­kanz­lers Schu­sch­nigg am Vor­abend des “Anschlus­ses” auf Wän­de und Geh­stei­ge geschrie­ben haben mit Reib- und Zahn­bürs­ten weg­zu­wa­schen. Wie­wohl man­cher der Schau­lus­ti­gen ihre Bekann­ten und Freun­dIn­nen unter den Gede­mü­tig­ten erkannt haben muß­te, hat nie­mand den Mut auf­ge­bracht zu pro­tes­tie­ren – was zu die­sem Zeit­punkt sowohl mög­lich als auch sinn­voll hät­te sein kön­nen. Mit die­sen Ernied­ri­gun­gen begann die sys­te­ma­ti­sche Dis­kri­mi­nie­rung der öster­rei­chi­schen Juden und Jüdin­nen. Umso hef­ti­ger als im “Alt­reich”, weil in Öster­reich die Ent­wick­lung, die in Deutsch­land fünf Jah­re gedau­ert hat­te, in kür­zes­ter Zeit über die Betrof­fe­nen her­ein­ge­bro­chen ist.

Etwa 200.000 Öster­rei­che­rIn­nen wur­den nach den “Nürn­ber­ger Ras­sen­ge­set­zen” zu “Juden” erklärt, wobei etwa 180.000 von ihnen tat­säch­lich der jüdi­schen Reli­gi­on ange­hör­ten. Die Nazis began­nen mit Berufs­ver­bo­ten und Aus­bil­dungs­be­schrän­kun­gen, Juden und Jüdin­nen wur­den in ihrer Bewe­gungs­frei­heit ein­ge­schränkt. Das ers­te Ziel war es, die jüdi­sche Bevöl­ke­rung aus dem öffent­li­chen Leben zu drän­gen. Dann soll­te ihr die wirt­schaft­li­che Lebens­grund­la­ge ent­zo­gen und nicht zuletzt: gleich ob Arm, ob Reich, ihr gesam­tes Ver­mö­gen geraubt wer­den und die­ses zumin­dest nach Wil­len der Nazi-Gran­den in die Kas­sen des “Drit­ten Rei­ches” flie­ßen – obwohl sich auch manch ande­rer dabei “bedient” hatte.

Adolf Eich­mann, ein streb­sa­mer Bie­der­mann im Diens­te des Sicher­heits­diens­tes (SD) der SS, wur­de nach Wien beor­dert, um die “Zen­tral­stel­le für jüdi­sche Aus­wan­de­rung” auf­zu­bau­en. “Aus­wan­de­rung” hieß die Beschö­ni­gung für das Vor­ha­ben der Nazis, mög­lichst vie­le Jüdin­nen und Juden aus Öster­reich zu ver­trei­ben. Doch davor soll­te sicher­ge­stellt wer­den, daß die­se nicht mehr als die not­wen­digs­ten Hab­se­lig­kei­ten mit sich neh­men konn­ten, der gesam­te übri­ge Besitz wur­de beschlagnahmt.

Trotz des ste­tig zuneh­men­den Ter­rors durch die Nazis konn­ten und woll­ten vie­le die Hei­mat nicht Hals über Kopf ver­las­sen. Beson­ders älte­ren Men­schen fiel das schwer.

Die füh­ren­den Nazis hat­ten schon lan­ge auf einen Anlaß gewar­tet, die JüdIn­nen­ver­fol­gung zu ver­schär­fen. Sie brauch­ten einen Vor­wand, mit dem sie die­se v. a. auch gegen­über dem Aus­land recht­fer­ti­gen und gegen­über der eige­nen Bevöl­ke­rung die Akzep­tanz dafür erhö­hen konnten.

Der 9. Novem­ber 1938 – die Bedeu­tung des Novemberpogroms

Der 17-jäh­ri­ge Her­schel Grynszpan schoß am 7. Novem­ber in Paris als Pro­test gegen die JüdIn­nen­ver­fol­gung auf den deut­schen Diplo­ma­ten Ernst v. Rath, nach­dem sei­ne Eltern und Geschwis­ter aus Deutsch­land nach Polen abge­scho­ben wor­den waren. Nach­dem Rath kurz spä­ter starb, orga­ni­sier­te Joseph Goeb­bels am 9. Novem­ber 1938 eine reichs­wei­te Akti­on gegen die jüdi­sche Bevöl­ke­rung, wel­che als “spon­ta­ner Aus­bruch des Volks­zorns” getarnt wurde.

Die­se Akti­on wur­de wegen der geleg­ten Feu­er, wel­che sich in den zer­bro­che­nen Fens­ter­schei­ben wie “Kris­tal­le” spie­gel­ten beschö­ni­gend “Reichs­kris­tall­nacht” genannt. Die­se Nacht dau­er­te tat­säch­lich meh­re­re Tage und Näch­te. Nun wur­den tau­sen­de jüdi­sche Woh­nun­gen und Geschäf­te geplün­dert, zer­stört und “ari­siert”. 42 Syn­ago­gen und Bethäu­ser wur­den in Brand gesteckt und ver­wüs­tet. Nicht nur in Wien, auch in den klei­ne­ren öster­rei­chi­schen Städ­ten wie Inns­bruck kam es zu blu­ti­gen Über­grif­fen. Zahl­rei­che Men­schen star­ben in Öster­reich wäh­rend des und nach dem Novem­ber­po­grom an den Fol­gen der Miß­hand­lun­gen oder nah­men sich aus Ver­zweif­lung das Leben.

6547 Juden wur­den in Wien im Zuge des Novem­ber­po­groms ver­haf­tet, 3700 davon ins KZ Dach­au depor­tiert. Und: Die jüdi­sche Bevöl­ke­rung wur­de dazu ver­pflich­tet für alle Schä­den des gegen sie gerich­te­ten Pogroms aufzukommen!

Das Novem­ber­po­grom war der ent­schei­den­de Schritt, die begon­ne­nen Ent­rech­tungs- und Berau­bungs­maß­nah­men gegen Juden und Jüdin­nen zu voll­enden. Es war aber auch eine Art “Test­lauf” der Nazis, wie­viel JüdIn­nen­ver­fol­gung der Bevöl­ke­rung zuzu­mu­ten sei, ohne daß es zu nen­nens­wer­tem Wider­stand dage­gen kommt.

Der Aspang­bahn­hof

Mit dem deut­schen Über­fall auf Polen begann offi­zi­ell der 2. Welt­krieg in Euro­pa. Zu die­sem Zeit­punkt leb­ten noch etwa 70.000 Jüdin­nen und Juden in Wien. Alle ver­blie­be­nen öster­rei­chi­schen Jüdin­nen und Juden waren mitt­ler­wei­le nach Wien geschickt wor­den. Dort leb­ten sie zusam­men­ge­pfercht in Sam­mel­woh­nun­gen und ‑lager, unter schlech­ten Bedin­gun­gen und schlecht ver­sorgt. Sie wur­den regis­triert und muß­ten ab Sep­tem­ber 1941 einen gel­ben David­stern tra­gen, wie auch die noch von Jüdin­nen und Juden bewohn­ten Woh­nun­gen mit einem sol­chen gekenn­zeich­net wur­den, um den Behör­den die Ver­fol­gung bzw. Aus­he­bung für die Depor­ta­tio­nen zu erleichtern.

Die ers­ten Depor­ta­tio­nen soll­ten noch dem zumin­dest vor­geb­li­chen Ziel die­nen, deut­sche bzw. öster­rei­chi­sche Jüdin­nen und Juden in einem “Juden­re­ser­vat” in Polen anzu­sie­deln. Die­ser Plan wur­de aber nie verwirklicht.

Im Früh­jahr 1941 for­der­te der neue Gau­lei­ter von Wien, Bal­dur von Schi­rach, die Depor­ta­tio­nen wie­der auf­zu­neh­men, um die ver­blie­be­nen jüdi­schen Woh­nun­gen “frei­ma­chen” zu kön­nen. Juden und Jüdin­nen wur­den erfaßt und regis­triert und in der Fol­ge Lis­ten für die Depor­ta­tio­nen zusammengestellt.

Die Depor­ta­tio­nen erfolg­ten vom Aspang­bahn­hof. Die­se wur­den zuerst mit nor­ma­len Per­so­nen­wag­gons der 3. Klas­se, spä­ter dann mit Vieh­wag­gons, durch­ge­führt und “nur” von nor­ma­ler Poli­zei bewacht, nicht von der SS. Zum einen woll­ten die Nazis wohl die Illu­si­on einer “Aus­wan­de­rung” für die Betrof­fe­nen und die beob­ach­te­ten­de Bevöl­ke­rung auf­recht­erhal­ten, zum andern rech­ne­ten sie nicht mit nen­nens­wer­tem Wider­stand durch die Betrof­fe­nen, weil vie­le der aus Wien Depor­tier­ten älte­re Men­schen bzw. Frau­en waren. Die Opfer der ers­ten Depor­ta­tio­nen im Jahr 1941 wur­den auf die Ghet­tos im besetz­ten Rest-Polen auf­ge­teilt. Arbeits­fä­hi­ge kamen meist in die Zwangs­ar­beits­la­ger der SS. Die meis­ten die­ser am Anfang 1941 Depor­tier­ten soll­ten im Früh­jahr und Som­mer 1942 “Aus­kämm­ak­tio­nen” der SS zum Opfer fal­len oder wur­den zusam­men mit den pol­ni­schen Jüdin­nen und Juden in die Ver­nich­tungs­la­ger gebracht. Tau­sen­de öster­rei­chi­sche Juden und Jüdin­nen wur­den in Lagern wie Maly Tros­ti­nez mas­sen­haft erschos­sen oder in Gas­wa­gen ermordet.

Spä­ter führ­ten die Depor­ta­ti­ons­zü­ge vom Aspang­bahn­hof in das Ghet­to The­re­si­en­stadt in der Nähe von Prag, von wo aus die Züge Rich­tung Ver­nich­tungs­la­ger Treb­linka, Sobi­bor, Ausch­witz bzw. Auschwitz/Birkenau gin­gen, wel­che mitt­ler­wei­le schon mit rie­si­gen Gas­kam­mern aus­ge­stat­tet waren. Mit dem Zweck mög­lichst vie­le Men­schen in mög­lichst kur­zer Zeit und – für die Mör­der – mög­lichst “scho­nend” umzubringen.

Unter­des­sen wur­den auch öster­rei­chi­sche Roma und Sin­ti (sie wur­den zuerst als “Aso­zia­le”, spä­ter als “Zigeu­ner” ver­folgt) von der Kri­mi­nal­po­li­zei bzw. Gesta­po beraubt und in den Lagern Lackenbach/Burgenland, Maxglan/Salzburg und St. Pantaleon/OÖ inter­niert. Sie wur­den immer wie­der zu Zwangs­ar­beit her­an­ge­zo­gen. Etwa 5000 Roma und Sin­ti, in der Regel gan­ze Fami­li­en, wur­den 1941 in das Ghet­to Lodz depor­tiert und letzt­lich im Ver­nich­tungs­la­ger Kulmhof/Chelmo ermor­det. Ein gro­ßer Teil der ver­blie­be­nen Roma und Sin­ti aus Öster­reich wur­de nach Auschwitz/Birkenau gebracht und ermor­det, nur weni­ge über­leb­ten. Bei der Befrei­ung des Lagers Lacken­bach durch die Rote Armee waren dort noch höchs­tens 400 Häftlinge.

Nach 40 gro­ßen und vie­len klei­ne­ren Trans­por­ten aus Wien leb­ten von 200.000 öster­rei­chi­schen Jüdin­nen und Juden 1945 noch etwa 5000 in Wien. Sogar noch in den letz­ten Tagen der Kämp­fe um Wien ver­üb­te eine SS-Ein­heit ein Mas­sa­ker an neun hier ver­blie­be­nen Juden.

15 bis 20.000 öster­rei­chi­sche Jüdin­nen und Juden, wel­che sich nach der Flucht in die Tsche­cho­slo­wa­kei, nach Bel­gi­en und Frank­reich schon in Sicher­heit geglaubt haben, fie­len nach der Erobe­rung die­ser Län­der durch die deut­sche Wehr­macht ihren Mör­dern in die Hände.

6 Mil­lio­nen euro­päi­sche Juden und Jüdin­nen sind der Shoa, auch “Holo­caust” genannt, zum Opfer gefal­len, min­des­tens 65.500 davon stamm­ten aus Öster­reich. Die­se Zahl ist eine Min­dest­zahl, da vie­le Ermor­de­te namen­los oder auch “staa­ten­los” waren und des­halb nicht als öster­rei­chi­sche Staats­bür­ge­rIn­nen erfasst wur­den. Von den 11 bis 12.000 öster­rei­chi­schen “Zigeu­nern” wur­den zwi­schen 1938 und 1945 schät­zungs­wei­se 9500 ermor­det, etwa 2000 über­leb­ten die Depor­ta­tio­nen. Zudem sind zig­tau­sen­de “Erb­kran­ke” (Behin­der­te), “Aso­zia­le”, Zeu­gIn­nen Jeho­vas, Zwangs­ar­bei­te­rIn­nen, Deser­teu­re und “Wehr­kraft­zer­set­zer”, Homo­se­xu­el­le, Kri­mi­nel­le und poli­ti­sche Geg­ne­rIn­nen bzw. Wider­stands­kämp­fe­rIn­nen aus Öster­reich der Mord­ma­schi­ne­rie der Nazis zum Opfer gefallen.

Gedan­ken zum Geden­ken an die Novem­ber­po­gro­me am ehe­ma­li­gen Aspangbahnhof

Seit vie­len Jah­ren orga­ni­siert die Initia­ti­ve Aspang­bahn­hof mit uner­müd­li­chem Enga­ge­ment eine Mahn- und Gedenk­kund­ge­bung anläss­lich des Jah­res­ta­ges des Novem­ber­po­groms 1938. Jähr­lich rufen vie­le Orga­ni­sa­tio­nen aber auch Pri­vat­per­so­nen zu die­ser Ver­an­stal­tung auf und eini­ge sind eben­falls mit Rede­bei­trä­gen vor Ort ver­tre­ten. Die Bedeu­tung der Arbeit der Initia­ti­ve Aspang­bahn­hof ist vor dem Hin­ter­grund, dass der 9. Novem­ber kein offi­zi­el­ler Gedenk­tag in Öster­reich ist, umso grö­ßer. Es gilt die Fra­ge zu stel­len, war­um nicht auch das offi­zi­el­le Öster­reich die­sen Tag mit einer Gedenk­fei­er an die Opfer des Novem­ber­po­groms begeht? Ein offi­zi­el­ler Gedenk­tag wür­de ver­lan­gen, dass an den in der öster­rei­chi­schen Gesell­schaft tief ver­wur­zel­ten Anti­se­mi­tis­mus erin­nert und dass die heu­ti­gen anti­se­mi­ti­schen Ten­den­zen the­ma­ti­siert werden.

In der Nacht vom 9. auf den 10. Novem­ber 1938 brann­ten die Natio­nal­so­zia­lis­ten zahl­rei­che Syn­ago­gen in ganz Wien nie­der. Vie­le Geschäf­te und Woh­nun­gen, die im Besitz von Men­schen waren, die von den Natio­nal­so­zia­lis­tin­nen und Natio­nal­so­zia­lis­ten als Jüdin­nen und Juden defi­niert wur­den, wur­den geplün­dert und zer­stört. 6547 Juden wur­den in Wien ver­haf­tet, 3700 davon in das Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Dach­au deportiert.

Es gibt meh­re­re Grün­de, den 9. Novem­ber als Gedenk­tag an die Opfer des Natio­nal­so­zia­lis­mus stär­ker im Stadt­ge­dächt­nis zu ver­an­kern. Der aus­schlag­ge­bends­te Grund ist wohl, dass der Novem­ber­po­grom kein Ver­bre­chen war, das an einem weit ent­fern­ten Ort, wie etwa Ausch­witz, began­gen wur­de. Die­se Ver­bre­chen fan­den hier in Wien statt. Nie­mand kann sagen, nichts davon gewusst oder gese­hen zu haben. Die dama­li­ge Gesell­schaft hat in den meis­ten Fäl­len wider­stands­los den Ver­bre­chen an ihren jüdi­schen Nach­ba­rin­nen und Nach­barn zuge­se­hen. Vie­le haben auch bereit­wil­lig an den Schi­ka­nen, Plün­de­run­gen und Zer­stö­run­gen mit­ge­wirkt. Gleich­gül­tig­keit gegen­über ihren jüdischen
Mit­bür­ge­rin­nen und Mit­bür­gern sowie das bewuss­te Weg­schau­en waren eben­so gän­gi­ge Reaktionen.

Anti­se­mi­tis­mus war und ist in der öster­rei­chi­schen Gesell­schaft stark ver­wur­zelt. Res­sen­ti­ments, Ableh­nung und Hass gegen­über der jüdi­schen Bevöl­ke­rung gab es lan­ge vor dem Natio­nal­so­zia­lis­mus. Unmit­tel­bar nach dem “Anschluss” 1938 wur­de die Gewalt­be­reit­schaft der nicht-jüdi­schen Bevöl­ke­rung gegen­über ihren jüdi­schen Nach­ba­rIn­nen sicht­bar. Stil­le Zeu­gen davon sind die Foto­auf­nah­men “stra­ßen­wa­schen­der” Jüdin­nen und Juden in den März­ta­gen 1938. Die­se nie­der­träch­ti­ge Demü­ti­gung, die vie­ler­orts in Wien zu sehen war, ging in den meis­ten Fäl­len auf die Initia­ti­ve von eif­ri­gen öster­rei­chi­schen Nazis zurück, die dazu nicht erst von der Par­tei­füh­rung auf­ge­for­dert wer­den mussten.

Die Aus­ein­an­der­set­zung mit der Ermor­dung von über 65.000 öster­rei­chi­schen Juden und Jüdin­nen darf dem­entspre­chend nicht erst mit Ausch­witz begin­nen, son­dern muss an Erin­ne­rungs­or­ten in unse­rem heu­ti­gen Lebens­um­feld anknüp­fen. Einer die­ser für die Ver­fol­gung und Ermor­dung der jüdi­schen Bevöl­ke­rung zen­tra­len Schau­plät­ze in Wien ist der ehe­ma­li­ge Aspang­bahn­hof. Von hier wur­den in den Jah­ren 1939 bis 1942 zehn­tau­sen­de Men­schen, die von den Natio­nal­so­zia­lis­ten als Jüdin­nen und Juden defi­niert wur­den, in die Ver­nich­tungs­la­ger im besetz­ten Polen und im heu­ti­gen Weiß­russ­land depor­tiert und dort in den meis­ten Fäl­len unmit­tel­bar nach ihrer Ankunft ermor­det. Der Holo­caust hat nicht erst in Ausch­witz oder in ande­ren Ver­nich­tungs­la­gern begon­nen. Der Ver­nich­tung der euro­päi­schen Jüdin­nen und Juden ging eine schritt­wei­se Ent­rech­tung und Aus­gren­zung der jüdi­schen Bevöl­ke­rung vor­aus. Die­se Radi­ka­li­sie­rung geschah inmit­ten der dama­li­gen Gesellschaft.

Zudem ist es von zen­tra­ler Bedeu­tung, die natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ver­bre­chen nicht als “Natur­ka­ta­stro­phe” erschei­nen zu las­sen, son­dern als Ver­bre­chen, die Men­schen an ande­ren Men­schen ver­übt haben. Die Geschich­te der Opfer kann nicht erzählt wer­den ohne ihre Mör­de­rIn­nen zu benen­nen und die Umstän­de ihres Todes zu beleuch­ten. Es gilt, die Moti­ve und Ideo­lo­gien, die hin­ter den Taten der Täte­rIn­nen stan­den, zu ver­ste­hen, um die­sen, wann immer sie heu­te auf­tau­chen, ent­schie­den ent­ge­gen­tre­ten zu können.

Ideo­lo­gi­sche und welt­an­schau­li­che Kon­zep­te wie Faschis­mus, Anti­se­mi­tis­mus, Anti­zi­ga­nis­mus und Ras­sis­mus sind nach der Befrei­ung Öster­reichs durch die Alliierten
kei­nes­wegs aus den Köp­fen der Bevöl­ke­rung ver­schwun­den. Nicht nur in Öster­reich, son­dern auch in vie­len ande­ren euro­päi­schen Staa­ten, war ins­be­son­de­re in den letz­ten Jah­ren ein Erstar­ken der extre­men Rech­ten zu beob­ach­ten. Beson­ders in Zei­ten wirt­schaft­li­cher Kri­sen und stei­gen­der Armut ist unse­res Erach­tens die Gefahr beson­ders groß, dass rechts­extre­me Par­tei­en wie­der an Zulauf gewin­nen. Umso dring­li­cher scheint es daher, die­ser Ent­wick­lung offen und ent­schie­den entgegenzutreten.

Die Auf­for­de­rung Nie­mals ver­ges­sen! muss ste­tig mit der Ver­pflich­tung ein­her­ge­hen, die aktu­el­len poli­ti­schen Gescheh­nis­se und Ent­schei­dun­gen kri­tisch zu betrach­ten und zu hin­ter­fra­gen. Wir sind ver­pflich­tet – wenn immer es nötig ist – ein star­kes zivil­ge­sell­schaft­li­ches Zei­chen gegen Ras­sis­mus, Anti­se­mi­tis­mus und ande­re For­men der Aus­gren­zung zu
set­zen. Ein fried­li­cher anti­fa­schis­ti­scher Pro­test aus der Zivil­ge­sell­schaft ist vor allem dann not­wen­dig, wenn das offi­zi­el­le Öster­reich nicht ent­schie­den gegen das Erstar­ken von rechts­extre­men Ten­den­zen auftritt.

Isa­bel­la Riedl

Geschäfts­füh­re­rin
Ver­ein GEDENKDIENST

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