Wer ist ein Opfer rechter Gewalt?

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Nicht erst seit der Mord­se­rie des Natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Unter­grunds (NSU) gibt es in Deutsch­land eine Debat­te über die Opfer­zah­len bei rechts­extre­mer Gewalt. Als Reak­ti­on auf das Ver­sa­gen bei den NSU-Mor­den wur­de beschlos­sen, nach wei­te­ren unent­deck­ten rechts­extre­men Gewalt­ta­ten zu suchen. Ers­te Ergeb­nis­se deu­ten dar­auf hin, dass die Opfer­zahl um ein Viel­fa­ches grö­ßer sein könn­te als die offi­zi­ell regis­trier­ten Zahlen.

Im Jahr 2000 ver­öf­fent­lich­ten die Zei­tun­gen „Frank­fur­ter Rund­schau“ und „Der Tages­spie­gel“ erst­mals peni­bel recher­chier­te Zah­len zu rechts­extre­mer Gewalt, die sich deut­lich von der offi­zi­el­len Opfer­sta­tis­tik unter­schie­den. Mitt­ler­wei­le wer­den für den Zeit­raum 1990–2013 „offi­zi­ell“ 60 Opfer rechts­extre­mer Gewalt gezählt, wäh­rend die Recher­chen von Medi­en und unab­hän­gi­gen Jour­na­lis­tIn­nen auf eine Zahl von zumin­dest 150 Toten durch rechts­extre­me Gewalt kommen.

Die Innen­mi­nis­ter von Bund und Län­dern haben nach dem desas­trö­sen Ver­sa­gen der Sicher­heits­be­hör­den bei den NSU-Mor­den eine Arbeits­grup­pe „Fall­ana­ly­se” ein­ge­rich­tet, um nach wei­te­ren unent­deck­ten rechts­extre­men Gewalt­ta­ten zu suchen. Die Lan­des­kri­mi­nal­äm­ter haben par­al­lel dazu alle Fäl­le von ver­such­tem oder voll­ende­tem Mord und Tot­schlag, bei denen kei­ne Tat­ver­däch­ti­gen ermit­telt wer­den konn­ten, neu geöff­net und unter­sucht. Jetzt liegt ein ers­tes Ergeb­nis vor: Ins­ge­samt wur­den 746 Fäl­le mit ins­ge­samt 849 Opfern ermit­telt, bei denen eine „rechts­mo­ti­vier­te Tat­be­ge­hung“ nicht aus­ge­schlos­sen wer­den kann.

Ent­schei­dend für die Klas­si­fi­zie­rung sind natür­lich die Kri­te­ri­en. 200, nach der ers­ten öffent­li­chen Kon­tro­ver­se um die Zahl der Opfer, wur­den sie zum ers­ten Mal geän­dert und als Delik­te „Poli­tisch Moti­vier­ter Kri­mi­na­li­tät” (PMK) erfasst. Zen­tral dafür ist, „wenn in Wür­di­gung der Umstän­de der Tat und/oder der Ein­stel­lung des Täters Anhalts­punk­te dafür vor­lie­gen, dass sie gegen eine Per­son gerich­tet sind wegen ihrer poli­ti­schen Ein­stel­lung, Natio­na­li­tät, Volks­zu­ge­hö­rig­keit, Ras­se, Haut­far­be, Reli­gi­on, Welt­an­schau­ung, Her­kunft oder auf­grund ihres äuße­ren Erschei­nungs­bil­des, ihrer Behin­de­rung, ihrer sexu­el­len Ori­en­tie­rung oder ihres gesell­schaft­li­chen Sta­tus“ (zitiert nach Tages­spie­gel).

Da auch die­se Kri­te­ri­en erheb­li­che Lücken offen lie­ßen, wur­den der Arbeits­grup­pe „Fall­ana­ly­se” auch exter­ne Wis­sen­schaf­te­rIn­nen bei­gezo­gen, um den Kri­te­ri­en­ka­ta­log zu verfeinern:

Anhand des zen­tral ent­wi­ckel­ten Kri­te­ri­en­ka­ta­logs wur­den die Fäl­le noch­mals geprüft. War das Opfer ein Migrant? War es homo­se­xu­ell? War es obdach­los? Denn all die­se Grup­pen gehö­ren zu den typi­schen Opfern rechts­mo­ti­ver­ter Gewalt. Gefragt wur­de aber auch: Gab es am Tat­ort Indi­zi­en, die auf einen rechts­extre­men Hin­ter­grund schlie­ßen las­sen? Gab es Haken­kreuz­schmie­re­rei­en? (Zeit-Online, 5.12.13)

Das Pro­blem dabei: Die neu­en Kri­te­ri­en sol­len im Detail erst nach der Unter­su­chung der neu­en Ver­dachts­fäl­le im zwei­ten Quar­tal 2014 ver­öf­fent­licht wer­den. Dage­gen for­dert die Ama­deu Anto­nio-Stif­tung, die nach einem der ers­ten Todes­op­fer rechts­extre­mer Gewalt nach der Wie­der­ver­ei­ni­gung benannt ist, einen trans­pa­ren­ten Kri­tie­ri­en­ka­ta­log und prä­zi­siert auch wei­te­re Voraussetzungen:

Zudem ist auch eine ande­re Arbeits­kul­tur not­wen­dig, sowie die Bereit­schaft zur Teil­nah­me an Fort­bil­dun­gen inner­halb der Poli­zei, um die Kri­te­ri­en ange­mes­sen anzu­wen­den. Die Erfah­run­gen zei­gen, dass bestimm­te Kri­te­ri­en zur Erfas­sung rech­ter Straf­ta­ten Polizeibeamt/innen nach wie vor fremd sind und des­halb nicht zur Anwen­dung kom­men. (publikative.org)

In Öster­reich gibt es kei­ne öffent­lich ver­füg­ba­re Sta­tis­tik für rechts­extre­me Gewalt und damit auch kei­ne Dis­kus­si­on dar­über, ob die Kri­te­ri­en ange­mes­sen sind, ob rechts­extre­me Gewalt qua­li­ta­tiv und quan­ti­ta­tiv eine Rol­le spielt, wo und wie sie sich äußert usw. Was es aller­dings gibt, sind schlam­pi­ge Ermitt­lun­gen (Bei­spiel: Brand­an­schlag Asyl­heim Kla­gen­furt 2008), die ver­such­te Umdeu­tung und Ent­po­li­ti­sie­rung der rechts­extre­men Brief­bom­ben­se­rie­von Franz Fuchs in den 1990er-Jah­ren oder auch des Mor­des von Jür­gen Kasa­mas 2009 bzw. Ermitt­lun­gen, die bis zur zufäl­li­gen Wen­de in Rich­tun­gen geführt wur­den, die an die NSU-Ermitt­lun­gen erin­nern. Höchs­te Zeit, dass auch in Öster­reich dar­über dis­ku­tiert wird!

Rechtsextreme Gewalt in Österreich:

➡️ Ver­fas­sungs­schutz­be­richt 2013 (III): Rechts­extre­me Gewalt in Österreich
➡️ Eine Chro­no­lo­gie rechts­extre­mer Gewalt (1990–2000)
➡️ Eine Chro­no­lo­gie rechts­extre­mer Gewalt (2001–2013)